Stopp des Bezugs von russischem Gas birgt unkalkulierbare Risiken
Das in Deutschland und Europa verbrauchte Erdgas, Rohöl und die Steinkohle kommen zu relevanten Teilen aus Russland. Jetzt soll der Bezug beendet werden. Die Frage ist: Wie schnell ist das möglich? Und mit welchen Konsequenzen? – Ein Debattenbeitrag.
Deutschland ist von Importen fossiler Energierohstoffe aus Russland sehr stark abhängig. So beruhte die Gasversorgung im Jahr 2021 bei einem Importanteil von etwa 55 Prozent zu etwas mehr als der Hälfte auf Lieferungen aus russischen Gasfeldern. Die hohe Importabhängigkeit von Russland ist nicht zuletzt auch das Resultat der Inbetriebnahme der durch die Ostsee führenden Pipeline Nord Stream 1 im Jahr 2011, die in der Nähe von Greifswald endet und eine Kapazität von 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas aufweist – das ist mehr als die Hälfte des jährlichen Erdgasverbrauchs in Deutschland. Zugleich nimmt Russland auch bei der Versorgung mit Rohöl und Steinkohle die mit weitem Abstand führende Rolle ein. So betrug der Anteil Russlands an der Rohölversorgung Deutschlands im Jahr 2021 etwa 37 Prozent, bei der Versorgung mit Steinkohle über 50 Prozent.
Russisches Gas kurzfristig nur schwer zu ersetzen
Vor diesem Hintergrund würde eine Umsetzung der Androhung Russlands, einen Lieferstopp für die Pipeline Nord Stream I zu verhängen, zu einer besonderen Herausforderung werden, denn es wird Deutschland aus zahlreichen Gründen schwerfallen, diese Gaslieferungen kurzfristig zu ersetzen (Leopoldina, 2022). Erstens sind die Kapazitäten der Terminals für den Import von verflüssigtem Erdgas (LNG) in Europa im Vergleich zu den Pipelinekapazitäten gering und zudem aufgrund des hohen Erdgaspreises aktuell stark ausgelastet. Zweitens sind die Produktionskapazitäten für LNG in den Exportländern limitiert.
So hat die USA, die bislang jährlich rund 22 Milliarden Kubikmeter LNG in die Europäische Union lieferte, zwar zugesagt, ihre Lieferungen bis Ende des Jahres 2022 um weitere 15 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Die EU hat pro Jahr bislang allerdings die zehnfache Menge aus Russland bezogen, rund 150 Mrd. Kubikmeter. Drittens sind die Transportkapazitäten des bestehenden Pipelinenetzes innerhalb Europas begrenzt (Schäfer, Küper 2022). Eine Erhöhung der LNG- und Pipelineimporte Deutschlands aus anderen europäischen Ländern ist daher nur in moderatem Maße möglich. Viertens unterliegen die Pipelinekapazitäten, die das europäische Netz mit anderen außereuropäischen Export-Ländern als Russland mit Europa verbinden, ebenfalls starken Einschränkungen. Der Gasimport aus Ländern wie Algerien kann somit kurzfristig kaum stark erhöht werden.
Darüber hinaus würde Deutschlands Situation noch dadurch verschärft, dass andere europäische Länder bei einem Lieferstopp russischer Gasexporte mit demselben Problem zu kämpfen hätten: schnell Ersatz für russisches Erdgas finden zu müssen. Die Konkurrenz um die knappen freien Erdgasmengen würde daher massiv ausfallen. All dies zeigt, dass eine Umsetzung der Androhung Russlands, einen Lieferstopp für die Pipeline Nord Stream 1 zu verhängen, für Deutschland zu einer besonderen Herausforderung werden würde.
„Es ist sehr zu begrüßen, dass Politik und Unternehmen mit Hochdruck nach möglichen Alternativen zu russischen Lieferungen suchen.“
Es ist somit ein Risiko, leichtfertig oder vorschnell auf den Import von russischem Gas – nicht nur über Nord Stream 1, sondern auch aus den übrigen Pipelines – zu verzichten oder gar gänzlich auf den Bezug russischer Energieimporte in Form eines Energieembargos. Schließlich müsste bei einem vollständigen Verzicht auf Importe von Energierohstoffen aus Russland auch der Ersatz großer Mengen russischen Erdöls und russischer Steinkohle bewältigt werden.
Nichtsdestotrotz ist es sehr zu begrüßen, dass Politik und Unternehmen mit Hochdruck nach möglichen Alternativen zu russischen Lieferungen suchen. Je größere Fortschritte etwa bei der Sicherung von LNG auf den Weltmärkten und dem Aufbau entsprechender Transport- und Regasifizierungs-Kapazitäten erzielt werden können, desto eher wird die Erpressbarkeit Deutschlands in puncto russischer Erdgaslieferungen abnehmen. Nicht zuletzt aber wegen langfristiger Lieferverträge für LNG seitens der Exportländer und eines Zeitraums von mehreren Jahren, die der geplante Bau von Regasifizierungs-Anlagen in Brunsbüttel und Wilhelmshaven benötigen wird, dürfte es Jahre dauern, bis gänzlich auf russische Erdgaslieferungen verzichtet werden kann.
Erhebliche Anstrengungen nötig
Gleich ob zur Vorbereitung auf einen möglichen Ausfall der russischen Erdgaslieferungen oder gar als Reaktion darauf, dass dieser Ernstfall eingetreten ist, sind aber noch erheblich größere Anstrengungen auf allen Ebenen nötig, von der Politik bis zu den Unternehmen, da die Möglichkeiten zur Substitution von Erdgas oder gar zu dessen Verzicht äußerst begrenzt sind. Selbst im Stromsektor ist ein Verzicht auf Erdgas lediglich zu einem geringen Grad gegeben, denn rund 80% der Erdgaskraftwerkskapazitäten werden in Kraft-Wärme-Kopplung betrieben. Gaskraftwerke, die zugleich auch der Wärmeversorgung von Haushalten dienen, können nach dem Notfallplan Gas jedoch nicht einfach heruntergefahren werden.
Noch deutlich größere Probleme wirft die Bereitstellung von Wärme in der Industrie und bei der Wärmeversorgung der privaten Haushalte auf (Leopoldina 2022), vorwiegend aufgrund der kurzfristig unveränderbaren Infrastrukturen. Falls dabei die Versorgung der privaten Haushalte mit Erdgas Vorrang genießen sollte, wie dies bislang für den Notfall vorgesehen ist, würde die Industrie im Ernstfall wohl erhebliche Kostensteigerungen oder gar eine Rationierung bewältigen müssen. Allein ein Lieferstopp von Nord Stream 1 würde, selbst wenn er mengenmäßig für einige Monate bis zum nächsten Winter kompensierbar wäre (Leopoldina 2022), wohl durch sehr hohe Preise große wirtschaftliche Schäden verursachen. Voraussichtlich noch gravierender wären die wirtschaftlichen Folgen einer Rationierung, vor allem für viele Industrieunternehmen, für die Erdgas ein unverzichtbarer Rohstoff ihrer Produktion darstellt, etwa Unternehmen aus der chemischen Industrie, die Erdgas für die Düngemittelproduktion benötigen.
Vor diesem Hintergrund ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nahezu unmöglich, belastbare Aussagen über die Größenordnung der mit einem Lieferstopp von Erdgas aus Russland verbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen zu treffen, denn angesichts der disruptiven Natur solcher Veränderungen ist schlicht nicht sichergestellt, dass die bisherigen Strukturen der globalen internationalen Arbeitsteilung und Vernetzung die Krise weitgehend unbeschadet überstehen werden. Es erscheint daher durchaus nachvollziehbar, dass etwa das IW Köln einen Lieferstopp von russischem Gas für ein unkalkulierbares Risiko hält (Schäfer, Küper 2022).
Konkrete Prognosen der wirtschaftlichen Folgen sind schwer
So stellt eine Reihe von unwägbaren Risiken, vor allem hinsichtlich des Potenzials der Volkswirtschaft, Erdgas kurzfristig substituieren zu können, konkrete Prognosen der wirtschaftlichen Folgen eines Energieembargos infrage, selbst wenn die Prognosen wie etwa von Bachmann et al. (2022) modellgestützt nach dem Stand der Forschung erarbeitet werden.
Modellgestützt erarbeitete Prognosen der möglichen gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen sind zwar zweifellos ein wichtiger und nützlicher Baustein bei der Abwägung, ein Energieembargo gegenüber Russland zu verhängen. Allerdings sind sie mit Vorsicht zu genießen, denn ihre Konstruktion erfordert grundsätzlich die zentrale Identifikationsannahme, dass die Welt jenseits der im Modell berücksichtigten Änderungen bleibt, wie sie bei der Kalibrierung des Modells gewesen ist. Das kann, muss aber nicht zutreffend sein. Wer politische Weichenstellungen der Größenordnung eines Energieembargos in Erwägung zieht, ist folglich gut beraten, sich keinesfalls allein auf die Ergebnisse ökonomischer Modelle verlassen.
Die Drohung, auf den Bezug russischer Energieimporte zu verzichten, mag somit zwar eine erfolgreiche Strategie sein, Russland an den Verhandlungstisch zu bringen. Aber die mit der Umsetzung solcher Drohungen verbundenen erheblichen Risiken für die deutsche Volkswirtschaft dürfen dabei nicht ignoriert oder gar verharmlost werden. Darüber hinaus ist dabei zum einen das Risiko einer weiteren Eskalation des Konflikts mit Russland zu bedenken und zum anderen auch die Frage zu stellen, ob es mit einem Energieembargo tatsächlich gelingen kann, Russland wirksam zu einer Beendigung der Invasion der Ukraine zu bewegen.
Literatur
Bachmann, R., D. Baqaee, Ch. Bayer, M. Kuhn, A. Löschel, B. Moll, A. Peichl, K. Pittel und M. Schularick (2022), Was wäre, wenn…? Die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Importstopps russischer Energie auf Deutschland, ECONtribute Policy Brief No. 029. https://www.econtribute.de/RePEc/ajk/ajkpbs/ECONtribute_PB_028_2022.pdf
Leopoldina (2022), Wie sich russisches Erdgas in der deutschen und europäischen Energieversorgung ersetzen lässt, Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, Halle. https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/wie-sich-russisches-erdgas-in-der-deutschen-und-europaeischen-energieversorgung-ersetzen-laesst-2022/
Schäfer, T und M. Küper (2022), Weg vom russischen Gas. Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln), 10. März 2022, https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/hubertus-bardt-malte-kueper-thilo-schaefer-weg-vom-russischen-gas.html.
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Autor:
Prof. Dr. Manuel Frondel ist außerplanmäßiger Professor für Energieökonomik und angewandte Ökonometrie an der Ruhr-Universität Bochum und Leiter des Kompetenzbereichs „Umwelt und Ressourcen“ am RWI.