Ein Europa für die Menschen
In den vielen kritischen Debatten über die Europäischen Union werden regelmäßig die zahlreichen Errungenschaften ausgeblendet. Wo die EU Vorteile für die Menschen bringt, lesen Sie im zehnten und letzten Beitrag der Serie „Europa macht stark“.
Die vergangenen zehn Jahre waren sicher nicht die besten für die Europäische Union. Zuerst löste die Finanzkrise einer Reihe von Ländern auch eine Staatsschuldenkrise aus, die in der Folge die Europäische Währungsunion vor eine schwere Zerreißprobe stellte und die Debatte zwischen den europäischen Staaten über den richtigen Kurs in den Staatsfinanzen nachhaltig vergiftete. Die Migrationsströme nach Europa infolge des Krieges in Syrien offenbarten im Jahr 2015 einen erheblichen Dissens zwischen den Staaten Europas über die Aufnahme von Flüchtlingen – eine Auseinandersetzung, die dazu führte, dass die bisher akzeptierte Idee einer EU ohne Binnengrenzen zunehmend infrage gestellt wurde. Und schließlich hat die Brexit-Entscheidung der Briten im Jahr 2016 sowie das Erstarken von Rechtspopulisten in vielen Staaten das Vertrauen in den Zusammenhalt der Europäischen Union fundamental erschüttert.
Über diese Krisen werden die zahlreichen positiven Errungenschaften der EU schnell vergessen oder als selbstverständlich angesehen. Ein prominentes Beispiel ist das sogenannte Binnenmarktprogramm, bestehend aus Marktintegration und Marktliberalisierung, sowie die damit verbundene Etablierung einer europäischen Wettbewerbspolitik. Durch das Binnenmarktprogramm mit seinen vier Grundfreiheiten – die Warenverkehrsfreiheit, die Personenfreizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs – sind erhebliche Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger Europas verbunden. Dies beginnt dabei, dass Konsumenten heute französischen Käse, spanischen Wein, italienische Salami und griechische Oliven ohne Zölle und Handelsbarrieren einkaufen können (Warenverkehrsfreiheit). Meine Studierenden können ziemlich problemlos überall in der EU studieren, Rentner nach Mallorca ziehen oder Arbeitnehmer auch im EU-Ausland arbeiten (Personenfreizügigkeit). Die Dienstleistungsfreiheit sorgt dafür, dass Anbieter gewerblicher, kaufmännischer, handwerklicher und freiberuflicher Tätigkeiten freien Zugang zu den Dienstleistungsmärkten aller EU-Mitgliedstaaten haben. Und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs sorgt dafür, dass man problemlos Geld zwischen Mitgliedsstaaten transferieren kann, etwa um online auch bei Anbietern außerhalb Deutschlands einzukaufen oder im Urlaub problemlos auch bargeldlos zu bezahlen.
Durch diese Freiheiten ist der Wettbewerb zwischen Unternehmen in der EU erheblich intensiviert worden. Verbraucher haben dadurch eine nie dagewesene Auswahl an Produkten aus nah und fern. Komplementiert werden die Freiheiten des Binnenmarktes durch die europäische Wettbewerbspolitik. Die Europäische Kommission übernimmt bei großen Unternehmensübernahmen die Fusionskontrolle, damit nicht einzelne Staaten die Interessen über das Interesse der europäischen Verbraucher stellen und so eine Wettbewerbspolitik auf Kosten ihrer Nachbarn betreiben. Im Einzelfall – etwa als die Europäische Kommission die geplante Fusion von Siemens und Alstom untersagt hat – mag dies den deutschen und französischen Wirtschaftsminister stören. Jedoch wird gerade so verhindert, dass jeder einzelne Staat eine nationale Industriepolitik auf Kosten von Konkurrenten und Verbrauchern in den Nachbarstaaten betreibt und sich so letztlich alle gegenseitig schaden.
Zugleich geht die Europäische Kommission gegen den Missbrauch von Marktmacht durch marktbeherrschende Unternehmen vor. Prominente Beispiele sind die drei aktuellen Kartellverfahren gegen Google. In der globalisierten Welt hat die Wettbewerbskontrolle durch die Europäische Kommission, welche die Interessen der 28 Mitgliedstaaten bündelt, ein starkes Gewicht – eine isolierte Vorgehensweise der einzelnen Mitgliedstaaten gegen Google, Apple und Co. würde kaum dieselbe Wirkung entfalten. Gerade die Bündelung der Kräfte verleiht Europa hier das notwendige Gewicht gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen aus den USA und China.
Die Europäische Union schützt den Wettbewerb jedoch nicht nur durch Fusionskontrolle, Missbrauchsaufsicht und das Kartellverbot. Brüssel forciert auch das Aufbrechen von Monopolen. Ohne die EU wäre es wohl erst viel später – wenn überhaupt – zu einer Entmachtung der ehemaligen Monopole in Telekommunikation, Luftverkehr oder Energiewirtschaft gekommen. Während Politikern auf nationaler Ebene oft die Kraft fehlt, sich gegen die Lobby der Monopolisten durchzusetzen, ist die EU weniger durch einzelne „nationale Champions“ zu beeinflussen. So wurde etwa die Liberalisierung von Telekommunikation, Luftverkehr und Energiewirtschaft maßgeblich durch die Europäische Union vorangetrieben.
Die Liberalisierung der Telekommunikation in Deutschland ist dabei eines der erfolgreichsten ordnungspolitischen Reformprojekte der letzten Jahrzehnte. Die Marktöffnung im Jahr 1998 hat eine Marktdynamik und Marktveränderung nie gekannten Ausmaßes ausgelöst. Nicht nur die Preise sind drastisch gesunken. Die Kommunikation ist inzwischen durch völlig neue Produkte gekennzeichnet. Die Nachfrage, vor allem im Bereich der Datenkommunikation, weist ein nie gekanntes nachhaltiges Wachstum auf. Die neuen Netze sind weitaus leistungsfähiger als das „gute alte“ Telefonnetz. Diese dynamische Marktentwicklung konnte sich nur dadurch ergeben, dass sich durch die Liberalisierung ein intensiver Wettbewerb entwickelt und eine Vielzahl neuer Anbieter hervorgebracht hat. Den Regulierungsrahmen für diese erfolgreiche Entwicklung hat maßgeblich die EU vorgegeben. Dasselbe gilt für den Luftverkehr oder die Stromnetze. (vgl. dazu das Gutachten “Erfolge der Liberalisierung”)
Natürlich ist in der EU nicht alles phantastisch und Kritik an der EU ist auch keine Europafeindlichkeit. Gleichwohl gilt es gerade im Wettbewerb mit China und den USA die Kräfte gerade dort zu bündeln, wo ein isoliertes Vorgehen der Nationalstaaten zum Scheitern verurteilt ist. Dazu gehören neben der Wettbewerbspolitik etwa auch die internationale Handelspolitik oder der Klimaschutz. Hier muss Europa auch weiter seine Kräfte bündeln.
Alle Folgen der Serie „Europa macht stark“ lesen.
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Autor:
Prof. Dr. Justus Haucap ist Direktor des Duesseldorf Institute for Competition Economics (DICE), Partner der Düsseldorf Competition Economics GmbH und früherer Vorsitzender der Monopolkommission.