Studie: Länger arbeiten stabilisiert Rentensystem

„Die hohen Kosten eines konstanten oder höheren Sicherungsniveaus belasten vor allem junge und künftige Beitragszahler“, schreibt Dr. Jochen Pimpertz vom IW Köln in einer Studie für die INSM. Doch der Wissenschaftler hat auch eine gute Nachricht: Die längere tatsächliche Erwerbsbiografien stabilisiert das Rentenniveau.

Zusammenfassung

Mit dem Absinken des Sicherungsniveaus in der Gesetzlichen Rentenversicherung wächst die Sorge vor einer massenhaften Armutsgefährdung im Alter. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) hat vor diesem Hintergrund im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) untersucht, ob diese Sorge berechtigt ist und welche Konsequenzen aus der Forderung erwachsen, über ein konstantes oder höheres Sicherungsniveau vor Altersarmut zu schützen.

Ein Rückschluss von der Verteilung der gesetzlichen Renten auf eine Armutsgefährdung im Alter ist bereits aus systematischen Gründen unzulässig, erfordert eine Messung von Einkommensarmut doch zwingend die Einbeziehung weiterer Einkommensquellen im Haushaltskontext. Aber auch die im Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung beschriebene Entwicklung des Sicherungsniveaus von derzeit 47,5 Prozent vor Steuern auf 44,6 Prozent im Jahr 2029 weist konzeptionelle Schwächen auf. Denn die Berechnung beruht auf der Fiktion einer Standardrentnerbiografie und reflektiert nicht die mit der Anhebung der Regelaltersgrenze intendierten Verhaltensänderungen. Modelliert man für den Standardrentnerfall im Jahr 2029 eine entsprechend um zwei Jahre verlängerte Beitragszeit, kann die ursprünglich prognostizierte Versorgungslücke bereits innerhalb des Systems zu zwei Dritteln geschlossen werden.

Die Kehrseite der Medaille: Weisen künftige Rentnerkohorten tatsächlich längere Erwerbsbiografien und eine höhere Erwerbsbeteiligung auf, belastet das künftige Beitragszahler in der umlagefinanzierten Rentenversicherung. Wenn das Sicherungsniveau nicht weiter als bislang geplant absinken und die gesetzliche Obergrenze für den Beitragssatzanstieg eingehalten werden sollen, kann nur eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze für Stabilität im gesetzlichen System sorgen. Einige Indizien weisen darauf hin, dass sich nicht nur der Renteneintritt in ein höheres Alter verlagert, sondern dass die jeweils jüngeren Kohorten auch tatsächlich auf eine zunehmend längere Beitragszeit zurückblicken können.

Dennoch wird von einigen Stimmen gefordert, über ein höheres oder zumindest gleichbleibendes Versorgungsniveau Armutsprävention zu betreiben. Dies entpuppt sich aber als Irrweg: Bei einem Sicherungsniveau vor Steuern von dauerhaft 47,5 Prozent übertreffen die jährlichen Ausgaben die bislang von der Bundesregierung unterstellte Entwicklung im Jahr 2029 um 28 Milliarden Euro. Bei einem höheren Sicherungsniveau von 50 Prozent sind dann sogar 52 Milliarden Euro mehr zu schultern als ursprünglich erwartet. Die gesetzliche Obergrenze für den Beitragssatzanstieg wird in diesem Szenario voraussichtlich ab dem Jahr 2024 übertroffen, bis zum Ende des Jahrzehnts droht sogar ein Beitragssatz von 25 Prozent.

Dabei schützt eine allgemeine Anhebung des Sicherungsniveaus nicht einmal zuverlässig vor Altersarmut, provoziert aber umfangreiche Mitnahmeeffekte. Dieser Einwand gilt auch für partielle Eingriffe wie den Varianten einer Lebensleistungsrente, mit der die gesetzliche Versorgung für Geringverdiener aufgebessert werden soll. Hier greift nicht nur der grundsätzliche Einwand, dass der Haushaltskontext für das Armutsrisiko ausschlaggebend ist. Es drohen auch Mitnahmeeffekte, weil die Gesetzliche Rentenversicherung nicht zu unterscheiden vermag, ob eine niedrige gesetzliche Rente auf eine gering entlohnte Vollzeit oder eine (freiwillige) Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen ist.

1. Problemstellung

Mit den Rentenreformen Anfang des vergangenen Jahrzehnts hat der Gesetzgeber auf die demografischen Herausforderungen reagiert, die in den nächsten Jahren auf das gesetzliche System der Alterssicherung zukommen. Ohne Gegensteuerung drohten die zusätzlichen Finanzierungserfordernisse, die aus der Alterung der geburtenstarken Jahrgänge sowie der steigenden Lebenserwartung resultieren, alleine den jüngeren Beitragszahlern aufgebürdet zu werden. Die Deckelung der Beitragssatzentwicklung, das gleichzeitige Absinken des gesetzlichen Versorgungsniveaus sowie die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre sollen die Lasten sowohl auf die Schultern der Rentenbezieher als auch der Beitragszahler verteilen. Dazu wird der Anstieg des Beitragssatzes bis 2020 auf höchsten 20 Prozent beschränkt und danach bis zum Jahr 2030 auf maximal 22 Prozent. Im Gegenzug muss das Sicherungsniveau vor Steuern von ursprünglichen 53,3 Prozent im Jahr 2003 (Deutsche Rentenversicherung, 2015b, 258) bis auf rund 43 Prozent im Jahr 2030 sinken. Drohende Versorgungslücken sollen die Versicherten über ein verstärktes Engagement in der zweiten und dritten Säule der Alterssicherung ausgleichen.

Nach gut einem Jahrzehnt auf dem „neuen“ rentenpolitischen Kurs, wächst zunehmend die Sorge, dass sich die Bürger nicht in ausreichendem Maß in der betrieblichen Vorsorge und der geförderten Privatvorsorge (Riester-Rente) engagieren und deshalb künftig Rentner vermehrt von Altersarmut bedroht sein werden. Zuletzt sorgte der Westdeutsche Rundfunk mit Berechnungen für Aufsehen, dass 2030 die Hälfte aller heute Erwerbstätigen von Altersarmut bedroht sein werden (WDR, 2015).

Die These einer zunehmenden Armutsgefährdung wird in der Öffentlichkeit kaum in Frage gestellt, stattdessen umso heftiger über unterschiedliche Reformvorschläge zur Vermeidung von Altersarmut gestritten. Dabei lassen sich zwei Argumentationslinien unterscheiden: Auf der einen Seite stehen Vorschläge wie die obligatorische „Deutschland-Rente“ oder das „Sozialpartnermodell Betriebsrente“ (dazu Demary/Pimpertz, 2016 und Pimpertz, 2016). Diese Modelle knüpfen an die Diagnose eines vermeintlich unzureichenden privaten Vorsorgeverhaltens an und wollen über die Verpflichtung zur Privatvorsorge oder die gezielte Förderung betrieblicher Vorsorge vor Altersarmut schützen. Dabei wird der eingeschlagene rentenpolitische Reformkurs aber nicht in Frage gestellt. Dagegen wird auf der anderen Seite – nicht zuletzt aufgrund der anhaltend niedrigen Zinsen – grundsätzlich an der Sinnhaftigkeit kapitalgedeckter Vorsorge gezweifelt. Die Protagonisten dieser Argumentationslinie fordern eine Stabilisierung des gegenwärtigen Sicherungsniveaus in der Gesetzlichen Rentenversicherung (zum Beispiel o. V., 2016a; IG Metall, 2016) oder sogar wie die Gewerkschaft ver.di eine Rückkehr zu einem Rentensystem, das über ein höheres Sicherungsniveau von mindestens 50 Prozent eine Lebensstandardsicherung in Aussicht zu stellen vermag (o. V., 2016b).

Vor dieser Kulisse soll untersucht werden, ob und welche Indizien für oder gegen eine massenhafte Verbreitung von Altersarmut sprechen und welche zusätzlichen Finanzierungslasten innerhalb der Gesetzlichen Rentenversicherung auftreten, wenn Armutsprävention über ein höheres Sicherungsniveau vor Steuern angestrebt wird. Dazu werden in Kapitel 2 zunächst die Begriffe der Armut und Armutsgefährdung definiert und mögliche Zusammenhänge mit der Verteilung gesetzlicher Renten diskutiert. Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels 3 steht der Einfluss einer längeren Lebensarbeitszeit auf das Sicherungsniveau vor Steuern. Anschließend wird auf Basis des aktuellen Rentenversicherungsberichts der Bundesregierung geschätzt, welche finanziellen Auswirkungen ein höheres Versorgungsniveau auf das finanzielle Gleichgewicht haben kann (Kapitel 4). Auf der Grundlage dieser Ergebnisse werden abschließend normative Ableitungen für die gesetzliche Alterssicherung diskutiert (Kapitel 5).

2. Altersvorsorge und Altersarmutsgefährdung

2.1. Definitorische Abgrenzungen

Oftmals geraten in der öffentlichen Debatte die unterschiedlichen Kategorien der Verteilungs-forschung durcheinander. So werden von der Höhe der gesetzlichen Rente, der Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge oder der Anzahl der Riester-Verträge regelmäßig Aussagen über die potenzielle Altersarmutsgefährdung abgeleitet. Dies ist bereits aus definitorischen Gründen unzulässig:

  • Dem Begriff der „Armutsgefährdung“ liegt eine statistische Definition zugrunde, nach der Personen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Median als armutsgefährdet gelten. Dabei wird der Haushaltskontext explizit einbezogen: Zunächst wird die Summe aller im Haushalt erzielten Nettoeinkommen ermittelt, die dann durch die Summe der mit ihrem Bedarf gewichteten Haushaltsmitglieder geteilt wird. Dem Haupteinkommensbezieher wird nach gängiger Konvention der Wert 1,0 zugewiesen, allen anderen Personen ab einem Alter von 14 Jahren ein Gewicht von 0,5 und den jüngeren Haushaltsmitgliedern ein Wert von 0,3. Diese Gewichtung folgt der Vorstellung, dass Personen in einem Haushalt günstiger wirtschaften können als die gleiche Anzahl an Personen in Single-Haushalten (Pimpertz, 2013, 276). Weil diese Methode sämtliche Einkommensquellen aller im Haushalt lebenden Personen einbezieht und zudem den Bedarf abhängig von der Haushaltskonstellation berücksichtigt, lässt sich kein eindeutiger Zusammenhang von der Verteilung einer einzelnen Einkommensquelle auf eine mögliche Armutsgefährdung ableiten.
  • Dagegen ist der Armutsbegriff nicht eindeutig definiert. Folgt man der Methode, die im Kontext der Einkommensarmutsgefährdung üblicherweise verwendet wird, gelten nach der in der Europäischen Union (EU) üblichen Konventionen Personen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 50 Prozent als einkommensarm. Einem anderen Armutsverständnis folgt dagegen der Begriff der Deprivation. Während bei der relativen Einkommensarmut die Messung an der Ressource ansetzt, wird bei der Deprivationsarmut direkt beobachtet, ob Merkmale fehlen, die als essentiell für einen Mindestlebensstandard erachtet werden – zum Beispiel der Zugang zu Wohnraum, täglich eine warme Mahlzeit etc.Die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung in Deutschland hat Elemente von beiden Konzepten. Die Grundsicherungsleistungen sollen einen existenzsichernden Bedarf garantieren, orientieren sich also an einer notwendigen Güterausstattung und weniger an der Einkommensverteilung. Allerdings werden die Hilfen grundsätzlich als Geldleistungen erbracht, also ohne zu kontrollieren, ob der unterstellte Bedarf auch de facto mit den bereitgestellten Mitteln gedeckt wird. Außerdem berücksichtigt die Bedürftigkeitsprüfung neben den Einkommens- auch die Vermögensverhältnisse (Pimpertz, 2013, 275).

Für die weitere Diskussion ist diese definitorische Abgrenzung entscheidend. Zwar liegen eine Reihe von empirischen Befunden zur Höhe und Verbreitung einzelner Vorsorgeformen wie zum Beispiel der gesetzlichen Rente oder der betrieblichen Altersversorgung vor. Diese beziehen sich aber in der Regel auf die Gruppe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, also auf Einzelpersonen (einen alternativen Ansatz verfolgen Beznoska/Pimpertz, 2016, 4, 7 f., die die Verbreitung der betrieblichen Vorsorge auf Haushaltsebene untersuchen). Damit erlauben die Ergebnisse keinen Rückschluss auf Armutsgefährdung oder ein Unterschreiten des Grundsicherungsniveaus, weil sich diese beiden Konzepte auf den Haushaltskontext beziehen (Tabelle 2.1.). Umgekehrt lässt sich nur dann von der Verteilung einer singulären Einkommensquelle auf Armutsgefährdung schließen, wenn die implizite Annahme auch tatsächlich erfüllt ist, dass im Haushalt keine weiteren Einkommen und Vermögen vorliegen.

Tabelle 2.1.: Altersvorsorge und Armutsgefährdung

2.2. Normative Vorgaben

Darüber hinaus gilt es, normative Vorgaben im Kontext der Gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen:

  • Das gesetzliche Umlageverfahren zielt mit seiner beitragsbezogen definierten Rentenanwartschaft auf eine Verstetigung der beitragspflichtigen Einkommen im Lebenszyklus. Mindestsicherungselemente sind dem System fremd. Das ergibt sich mittelbar aus der Formel zur Berechnung der gesetzlichen Bruttorente (Tabelle 2.2.).Unterstellt man den Bezug einer Altersrente (Rentenartfaktor = 1), die mit Erreichen der Regelaltersgrenze erstmals beantragt wird (Rentenzugangsfaktor = 1), dann ergibt sich die Höhe der monatlichen Bruttorente aus dem Produkt von Aktuellem Rentenwert und der Summe der persönlichen Entgeltpunkte. Für jedes Jahr, in dem ein Versicherter Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt hat, werden ihm Entgeltpunkte in der Höhe gutgeschrieben, die dem Verhältnis des eigenen beitragspflichtigen Einkommens zum Durchschnittswert des jeweiligen Jahres entspricht. Aus dieser Logik folgt, dass auch der Rentenanspruch am Ende der Erwerbsbiografie das Verhältnis von individueller Entgelthöhe und Dauer der Erwerbstätigkeit zum Durchschnitt spiegelt. Der nominale Wert der Rente wird aber erst durch die Summe aller Einnahmen bestimmt, die in der Ruhestandsperiode nach Maßgabe der individuellen Entgeltpunkte verteilt werden kann.Mindestsicherungselemente können in einem derartigen System nicht definiert werden, weil theoretisch der Fall eintreten kann, dass das Beitragsaufkommen in der Zukunft nicht einmal ausreicht, selbst den Rentnern mit der höchsten Summe an persönlichen Entgeltpunkten eine Rente oberhalb der Grundsicherungsschwelle zu zahlen.

Tabelle 2.2.: Die Rentenformel

  • Deshalb führt auch der Begriff der Lebensstandardsicherung in die Irre, weil er im Sinne eines Wohlstandsniveaus jenseits der Grundsicherungsschwelle missverstanden werden kann. Der Begriff der Lebensstandardsicherung wurde in der Vergangenheit in der Regel aus der Versorgung abgeleitet, die sich für den Modellfall eines Eckrentners mit 45 Beitragsjahren und jeweils durchschnittlichen Verdiensten ergibt. Und selbst in diesem Fall lag das Sicherungsniveau vor Steuern nicht etwa bei 100 Prozent, sondern zum Beispiel im Jahr 1990 in Westdeutschland bei 55 Prozent oder im Jahr 2000 in Deutschland bei 52,9 Prozent (Deutsche Rentenversicherung, 2015b, 258).Inwieweit damit auf individueller Ebene eine Lebensstandardsicherung gelingen kann, hängt aber von der jeweiligen Erwerbsbiografie ab. Vor dem Hintergrund der Rentenformel wird deutlich, dass das System lediglich eine Verstetigung des beitragspflichtigen Einkommens in der Ruhestandsphase gewährleisten kann. Für die Fälle, in denen geringe Verdienste zum Beispiel aufgrund von (freiwilliger) Teilzeitbeschäftigung dazu führen, dass die gesetzliche Rente im Alter unter die Grundsicherungsschwelle fällt, wird das Einkommen zwar verstetigt, aber nicht zwingend eine Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus realisiert.

2.3. Evidenz gegen den Zusammenhang von Rente und Armutsgefährdung

Gegen einen direkten Zusammenhang von gesetzlicher Rente und Armut(sgefährdung) spricht bereits die einfache empirische Evidenz. Ende 2014 betrug der Rentenzahlbetrag (Bruttorente abzüglich Beitragsanteil der Rentner zur Gesetzlichen Kranken- und Pflegepflichtversicherung) bei 29 Prozent des Bestands an Versichertenrenten weniger als 750 Euro und lag damit im kritischen Bereich der Grundsicherungsschwelle. Denn rechnet man die Beitragsanteile der Rentner zur Sozialversicherung im Jahr 2014 hinzu (8,2 Prozent zur Gesetzlichen Krankenversicherung und 2,05 Prozent zur Pflegepflichtversicherung), dann entspricht ein Zahlbetrag von 750 Euro einer Bruttorente von rund 835 Euro. Die liegt damit auf dem Niveau der durchschnittlichen Grundsicherung im Alter für den Haupteinkommensbezieher im Haushalt (einschließlich Erstattung der Wohnkosten). Bezieht man die Hinterbliebenenrenten mit ein, lagen sogar knapp 40 Prozent des Rentenbestands im Bereich der Grundsicherungsschwelle oder darunter (Deutsche Rentenversicherung, 2015a, 38 f.). Im gleichen Jahr waren aber nur 2,5 Prozent der Bezieher einer gesetzlichen Altersrente auf Grundsicherung im Alter angewiesen (Deutsche Rentenversicherung 2015b, 275).

Die Erklärung ist naheliegend: Oftmals kommen in einem Haushalt mehrere gesetzliche Renten zusammen, betriebliche und private Altersversorgung ergänzen das Haushaltsbudget und vielfach können die Ruheständler auf Vermögen zurückgreifen (Niehues/Schröder, 2012, 11 ff.). Deshalb lag die Grundsicherungsquote gesetzlicher Rentner nicht nur unter der bevölkerungsdurchschnittlichen Inanspruchnahme von 9,2 Prozent, sondern auch unter der durchschnittlichen Inanspruchnahme in der Gruppe der 65-jährigen und älteren Personen mit 3,0 Prozent (IW Köln, 2016, Tabelle 7.26). Auch wenn dieser Befund lediglich die Absicherung der aktuellen Ruhestandsgeneration reflektiert und noch keine Aussagen über die künftige Verteilung erlaubt, liegt doch die Vermutung eher nahe, dass die gesetzliche Rente vor Bedürftigkeit im Alter schützt, als dass sie ursächlich für die Bedürftigkeit im Alter ist.

Aber auch mit dem Blick in die Zukunft kommen die Experten zu keiner grundlegend anderen Einschätzung. So ermittelte der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) im November 2012 in einer Simulationsrechnung, dass sich der Anteil der Bezieher von Grundsicherung im Alter in der Bevölkerung der 65-Jährigen und Älteren von 2,6 Prozent im Jahr 2012 um 0,7 Prozentpunkte erhöhen kann, wenn die Versicherten ihr Vorsorgeverhalten nicht an die veränderten Bedingungen infolge der Rentenreformen 2001 bis 2007 anpassen. Der Einfluss unterbrochener Erwerbsbiografien sowie ein unverändert niedriges Einkommensniveau in den neuen Bundesländern kann die Quote um weitere 1,7 Prozentpunkte treiben. Allerdings wird der mögliche Anstieg der Grundsicherungsquote um 1 Prozentpunkt durch den späteren Renteneintritt gebremst, der aus der Anreizwirkung von Abschlägen bei vorzeitigem Rentenbezug und aus der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre resultiert. Damit steigt die Quote der Bezieher von Grundsicherungsleistungen im Alter zwar um mehr als 50 Prozent, aber der Wert bleibt damit immer noch deutlich unter dem bevölkerungsweiten Durchschnitt von 9,0 Prozent im Jahr 2012 (Wissenschaftlicher Beirat BMWi, 2012, 9 ff.).

Nicht explizit berechnet sind zudem positive Effekte, die von einer steigenden Erwerbsbeteiligung ausgehen. Denn zusätzliche Anwartschaften, die im Zuge des Aufbaus von über 4,5 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen zwischen 2005 und 2014 erworben werden (Bundesagentur für Arbeit, 2016), wirken tendenziell armutspräventiv, auch wenn über die Verteilung dieses Effekts bislang keine empirische Evidenz besteht.

 

3. Zum Einfluss der Lebensarbeitszeit auf das Sicherungsniveau

3.1. Standardrentner bei steigender Regelaltersgrenze

Dennoch entzündet sich die politische Debatte an der Tatsache, dass das Sicherungsniveau vor Steuern in der Gesetzlichen Rentenversicherung seit dem Jahr 2003 von 53,3 Prozent bis auf 47,5 Prozent im Jahr 2015 gesunken ist und nach den Berechnungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) bis zum Jahr 2029 voraussichtlich weiter bis auf 44,6 Prozent sinken soll (BMAS, 2015, 40). Aber auch hier bleiben methodische Einwände unbeachtet.

Tabelle 3.1.: Sicherungsniveau vor Steuern in der Gesetzlichen Rentenversicherung

  • Sicherungsniveau vor Steuern: gesetzliche Bruttorente nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge eines Rentners vor Steuern in Prozent des durchschnittlichen Verdienstes eines Arbeitnehmers nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge vor Steuern, auf Basis des Rentenversicherungsberichts 2015; verlängerte Erwerbsphase: 45 Beitragsjahre zuzüglich Beitragszeiten jenseits einer Altersgrenze von 65 Jahren, entsprechend der gesetzlichen Anpassung der Regelaltersgrenze.

Das Sicherungsniveau vor Steuern – definiert als die Bruttorente nach Abzug der Rentneranteile am Beitrag zur Gesetzlichen Krankenversicherung und Pflegepflichtversicherung in Prozent der durchschnittlichen Bruttogehälter vor Steuern (BMAS 2016) – wird für einen Standard- oder Eckrentner berechnet, der 45 Beitragsjahre mit jeweils durchschnittlichen Verdiensten aufweist (Tabelle 3.1.). Diese erwerbsbiografischen Merkmale beruhen aber nicht auf empirischen Befunden. Sie stellen vielmehr einen Modellfall dar. Dieser Modellfall erhält jedoch normativen Charakter, sobald das Sicherungsniveau vor Steuern, das auf der Grundlage der Standardrentner-Biografie berechnet wird, zu einer politischen Steuerungsgröße wird. Das ist unproblematisch, solange andere Normen wie zum Beispiel die gesetzlich definierte Regelaltersgrenze konstant bleiben. Tatsächlich aber steigt die allgemeine Altersgrenze für einen abschlagfreien Rentenbezug bis zum Jahr 2031 sukzessive von 65 auf 67 Jahre – verbunden mit der Erwartung, dass sich die Lebensarbeitszeit entsprechend verlängert. Dieser Veränderung trägt die Berechnung des Sicherungsniveaus bislang aber nicht Rechnung. Wenn der Modellfall eines Standardrentners jedoch die normativen Vorstellungen des Gesetzgebers spiegelt, sollte er auch mit einer um die Anhebung der Regelaltersgrenze verlängerten Erwerbsphase modelliert werden. Auf der Basis der Annahmen, die das BMAS in seiner mittleren Variante des Rentenversicherungsberichts zugrunde legt (BMAS, 2015, 37 ff.), lässt sich das Sicherungsniveau vor Steuern für entsprechend längere Beitragszeiten berechnen (Tabelle 3.1.).

Dahinter stehen die vereinfachenden Annahmen, dass sich eine längere Erwerbsphase nicht auf die Parameter Lohnentwicklung und Beschäftigungsstand auswirken und folglich die jährliche Fortschreibung des Aktuellen Rentenwerts nicht tangiert wird. In diesem Fall steigt das Sicherungsniveau vor Steuern zunächst bis 2020 um 1 Prozentpunkt über den Ausgangswert. Im Jahr 2025 liegt es nur knapp darunter und sinkt danach bis 2029 auf 46,6 Prozent ab. Der ursprünglich für den Standardrentner berechnete Verlust von 2,9 Prozentpunkten kann also bei einer entsprechend der höheren Regelaltersgrenze verlängerten Beitragszeit zu gut zwei Dritteln innerhalb des gesetzlichen Systems kompensiert werden.

  • Einschränkend bleibt anzumerken, dass eine verlängerte Lebensarbeitszeit über zwei Faktoren auf die jährliche Rentenanpassung einwirkt, die in der Berechnung nicht berücksichtigt werden.
  • Zum einen steigt ceteris paribus die Zahl der Äquivalenzbeitragszahler, gleichzeitig verringert sich die Zahl der Äquivalenzrentner mit einer höheren Regelaltersgrenze und gleichzeitig längeren Lebensarbeitszeit. Damit erhöht sich zunächst der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel und dieser ceteris paribus den Aktuellen Rentenwert gegenüber den Annahmen des BMAS.
  • Zum anderen reduziert eine längere Erwerbsphase tendenziell den Beitragssatz, weil mit dem späteren Renteneintritt die Anzahl der im Umlageverfahren zu finanzierenden Rentenanwartschaften zunächst sinkt. Gleichzeitig können die Finanzierungslasten auf eine größere Zahl von Beitragszahlern verteilt werden. Dieser Effekt wirkt über den Riester-Faktor und erhöht ebenfalls die jährliche Rentenanpassung gegenüber den ursprünglichen Annahmen im Rentenversicherungsbericht 2015. Der positive Effekt auf das Sicherungsniveau vor Steuern wird also unter den vereinfachenden Annahmen sogar unterschätzt.
  • Gegenläufig wirkt allerdings, dass die geburtenstarken Jahrgänge künftig aufgrund der verlängerten Erwerbsbiografie höhere Anwartschaften geltend machen werden. Das führt zu höheren Finanzierungserfordernissen, die von den dann schwächer besetzten Jahrgängen im Erwerbsalter ohne Reformen nur über höhere Beiträge bedient werden können. Dieser Effekt bremst wiederum die Anpassung des Aktuellen Rentenwerts.

Da die Annahmen bezüglich der Entwicklung der durchschnittlichen Beitragszeiten und deren Einfluss auf die Langfristprognosen im Rentenversicherungsbericht nicht explizit genannt werden (BMAS, 2015, 37 ff.), erfordert eine Analyse der gegenläufigen Effekte ein eigenes Rentenversicherungsmodell, mit dem zunächst die Berechnungen des BMAS nachvollzogen werden können, um anschließend Variationen der Annahmen modellieren zu können. Ein solches Vorgehen würde den Untersuchungsauftrag an dieser Stelle sprengen.

3.2 Indizien für eine längere Lebensarbeitszeit

Mit Blick auf die Ausgangsfrage bleibt zu klären, ob und welche empirischen Indizien für eine zunehmend längere Lebensarbeitszeit sprechen. Diese Frage ist alles andere als trivial, denn die Regelaltersgrenze wird erst seit dem Jahr 2012 in Monatsschritten angehoben, so dass bislang kaum Daten vorliegen, die Reaktionen auf diesen Impuls spiegeln können (Tabelle 3.2.).

Tabelle 3.2.: Kennziffern zum Rentenzugang

  • Rente wegen Alters insgesamt: Regelaltersrente, Altersrente für besonders langjährig Versicherte, langjährig Versicherte, schwerbehinderte Menschen, wegen Arbeitslosigkeit/Altersteilzeitarbeit und Frauen; ohne neue Mütterrenten.

  • Das durchschnittliche Rentenzugangsalter ist bei den Zugängen zur Altersrente zwischen 2010 und 2014 von 63,5 auf 64,1 Jahre gestiegen. Der Anstieg fällt bei den Männern mit 0,2 Jahren schwächer aus als bei den Frauen mit einem Plus von 1,0 Jahren (Deutsche Rentenversicherung, 2015b, 137 f.). Ein Zusammenhang mit der Anhebung der Regelaltersgrenze ist aus dieser Entwicklung allerdings nicht eindeutig abzulesen, lässt sich der Anstieg des durchschnittlichen Zugangsalters bei den Altersrenten doch bis zum Jahr 2000 zurückverfolgen und somit zum Beispiel auch im Kontext der flächendeckenden Einführung von Abschlägen bei vorzeitigem Rentenbezug interpretieren.
  • Im Jahr 2014 bezogen 43,5 Prozent der Rentenzugänge erstmals im Alter von 65 Jahren oder später eine gesetzliche Rente (wegen Alters und wegen Erwerbsminderung), weitere 31,2 Prozent vorzeitig ab einem Alter von 63 oder 64 Jahren. Im Jahr 2010 waren es noch 36,3 Prozent im Alter von 65 und mehr Jahren, sowie 15,3 Prozent, die eine Rente vorzeitig ab einem Alter von 63 oder 64 Jahren in Anspruch genommen haben. Aber auch diese Verschiebung der Gewichte hin zu einer späteren Inanspruchnahme ist nicht eindeutig zu interpretieren, da zum einen Faktoren für den Zugang zu den Erwerbsminderungsrenten nicht kontrolliert werden können, zum anderen der Einfluss von statistisch relevanten Kohorten-Effekten nicht auszuschließen ist.
  • Stellt man deshalb auf die Betrachtung einzelner Kohorten ab, liegen mit den Daten des jüngsten Jahrgangs der 1947 Geborenen bislang noch keine hinreichend aussagekräftigen Beobachtungen vor. Allerdings bestätigt sich der Eindruck einer systematischen Verschiebung des Rentenzugangs in höhere Lebensalter.
  • Das wiederum ist aber nicht gleichbedeutend mit einer verlängerten Lebensarbeitszeit, dazu bedarf es eines Blicks auf die Entwicklung der Versicherungszeiten. Während sich bei den Männern ein eindeutiges Bild steigender Versicherungszeiten abzeichnet, ist die uneinheitliche Entwicklung bei den Frauen nicht eindeutig durch Kohorten-Effekte oder zum Beispiel eine veränderte Anreizkulisse zu erklären.

 

4. Ausgabeneffekte eines höheren Sicherungsniveaus

4.1. Methodische Vorüberlegungen

Im nächsten Analyseschritt werden die Auswirkungen eines konstanten beziehungsweise höheren Sicherungsniveaus vor Steuern auf die finanzielle Stabilität der Gesetzlichen Rentenversicherung geschätzt. Die im politischen Raum artikulierten Forderungen werden im Folgenden in zwei Szenarien abgebildet (Abbildung 4.1.): Das Szenario „47,5 Prozent“ steht für den Widerstand gegen eine weitere Absenkung des Rentenniveaus und orientiert sich an dem aktuellen Sicherungsniveau vor Steuern (BMAS, 2015, 40). Das Szenario „50 Prozent“ wird in Anlehnung an die Forderung der Gewerkschaft ver.di modelliert (o. V., 2016b). Während die vorangegangenen Überlegungen zu den Auswirkungen einer verlängerten Lebensarbeitszeit an der bestehenden Renten- und Rentenanpassungsformel anknüpften, wird nun mit den beiden Szenarien jeweils eine Norm exogen vorgegeben, die sich nicht aus der Systematik der Gesetzlichen Rentenversicherung ableiten lässt. Deshalb stellt sich zunächst die Frage, wie für diese beiden Varianten Effekte berechnet und mit dem Status-quo-Szenario verglichen werden können.

Abbildung 4.1.: Sicherungsniveau vor Steuern

  • Nettorente eines Standardrentners mit 45 Beitragsjahren als Durchschnittsverdiener, vermindert um die Sozialabgaben der Rentner vor Steuern, in Prozent des Durchschnittsentgelts eines Arbeitnehmers, vermindert um die geleisteten Beiträge der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung sowie um den durchschnittlichen Aufwand zur geförderten privaten Altersvorsorge vor Steuern, ab 2015 Szenario laut Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung 2015; Szenario „konstantes Niveau“: Stand 2015.

Der methodisch aufwendige Weg zur Schätzung der Ausgabeneffekte eines höheren Versorgungsniveaus erfordert ein Rentenversicherungsmodell, mit dem der Status quo rekonstruiert und die Entwicklung für den gewünschten Untersuchungszeitraum abgebildet werden kann. Gleichwohl liefert ein solches Modell keine Prognose im engen Sinne, wenn es zum Bespiel auf Annahmen zur Beschäftigungs- und Lohnentwicklung beruht, um in einem beitragsbezogenen Rentensystem künftige Ausgabeneffekte und mögliche Reaktionen auf der Einnahmenseite darstellen zu können. Es handelt sich dann um eine Analyse von Szenarien, die durch unterschiedliche Annahmekonstellationen beschrieben werden, über deren Eintrittswahrscheinlichkeit selber aber keine Aussagen getroffen werden (siehe dazu auch Sozialbeirat, 2015, 4 ff.). Weil aber nicht die Diskussion unterschiedlicher Annahmen im Fokus der Untersuchung steht, sondern vielmehr die Abweichungen der Ausgabenentwicklung in den beiden Szenarien gegenüber dem Status quo, bedient sich die folgende Schätzung direkt der Berechnungen zur finanziellen Entwicklung im langfristigen Zeitraum 2015 bis 2029 im Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung (BMAS, 2015, 37 ff.). Dort sind die Ergebnisse für die Entwicklung der Ausgaben, der Einnahmen, des Sicherungsniveaus vor Steuern sowie des Beitragssatzes in der mittleren Variante beschrieben (zu den Annahmen siehe BMAS, 2015, 37 ff., 45 ff.).

 

4.2. Schätzung der Rentenausgaben bei höherem Sicherungsniveau

Die Ausgabenentwicklung laut Rentenversicherungsbericht ergibt sich unter den Annahmen der mittleren Variante, insbesondere für das mittlere Beschäftigungsszenario, im Zusammenspiel mit dem korrespondierenden Sicherungsniveau vor Steuern und Beitragssatz (BMAS, 2015, 40 f., Übersichten B8 und B9). Dabei determiniert die Entwicklung des Aktuellen Rentenwerts sowohl das Sicherungsniveau vor Steuern im Zeitraum 2015 bis 2029 (bei unverändert 45 Beitragsjahren) als auch die Entwicklung der Gesamtausgaben bei einer gegebenen Summe an Entgeltpunkten im Rentenbestand. Da das Sicherungsniveau in den beiden Szenarien „47,5 Prozent“ und „50 Prozent“ exogen vorgegeben wird, lässt sich zunächst die notwendige Erhöhung des Aktuellen Rentenwerts für den Standardrentenfall aus der Abweichung vom errechneten Sicherungsniveau in der mittleren Variante des Status-quo-Szenarios bestimmen. Für die Berechnung der Gesamtausgaben wird die Variation des Aktuellen Rentenwerts anschließend übertragen. Dieses Vorgehen abstrahiert allerdings von strukturellen Verschiebungen, die zum Beispiel im Rahmen der Hinterbliebenenversorgung auftreten können, weil sich ein höherer Aktueller Rentenwert auf die Anrechnung von eigenen auf abgeleitete Rentenan-sprüche auswirken kann. Des Weiteren variieren die zugrundeliegenden Ausgaben nicht vollständig mit dem Aktuellen Rentenwert. So machten im Jahr 2015 allein die Leistungen zur Teilhabe sowie Verwaltungs-, Verfahrens- und sonstige Kosten insgesamt 4,1 Prozent der Gesamtausgaben in der Allgemeinen Rentenversicherung aus (BMAS, 2015, 30). Deshalb wird im Folgenden angenommen, dass 5 Prozent der im Status-quo-Szenario unterstellten jährlichen Ausgaben unabhängig von der Höhe des jeweiligen Aktuellen Rentenwertes anfallen.

Abbildung 4.2.: Ausgabenentwicklung in der Gesetzlichen Rentenversicherung

im Status quo und bei einem garantierten Sicherungsniveau vor Steuern von … Prozent, in Milliarden Euro

  • Status quo: auf der Basis der Annahmen für die mittlere Variante (und das mittlere Beschäftigungsszenario) des Rentenversicherungsberichts der Bundesregierung 2015.

Auf der Basis dieser Annahmen ergeben sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Zielniveau die in Abbildung 4.2. dargestellten Ausgabenentwicklungen. Im Status-quo-Szenario, das die Bundesregierung als mittlere Variante mit mittlerer Beschäftigungsentwicklung für ihre Berechnung der längerfristigen Entwicklung unterstellt (BMAS, 2015, 37 ff.), wachsen die jährlichen Ausgaben von 272,1 Milliarden Euro in 2015 bis auf 448,8 Milliarden Euro in 2029 an. Unterstellt man ein gleichbleibendes Sicherungsniveau vor Steuern von 47,5 Prozent, steigen die Ausgaben nach dem Jahr 2022 schneller als ursprünglich unterstellt. Die gleiche Entwicklung wird auf einem Sicherungsniveau von 50 Prozent nachvollzogen. Allerdings springt das Ausgabenniveau bereits im Ausgangsjahr 2015 von 272,1 auf 286 Milliarden Euro.

In Abbildung 4.3. sind die Abweichungen zum Status-quo-Szenario dargestellt. Dabei ergibt sich in dem Szenario eines konstanten Sicherungsniveaus vor Steuern zunächst sogar eine minimale Entlastung bis zum Jahr 2020, weil die Bundesregierung mit einem vorübergehend leicht steigenden Versorgungsniveau rechnet. Nach 2021 steigen dann aber in jedem Jahr die zusätzlichen Aufwendungen bis auf Mehrausgaben von knapp 28 Milliarden Euro gegenüber dem Status quo. Auch in dem Szenario mit einem höheren Sicherungsniveau sinken die jährlichen Zusatzaufwendungen zunächst, aber aufgrund des anfänglichen Niveausprungs in Höhe von 14 Milliarden Euro lediglich bis auf gut 12 Milliarden Euro, die im Jahr 2017 zusätzlich zum Sta-tus-quo-Szenario aufzuwenden sind. Im Jahr 2029 übertreffen die Ausgaben dann die ursprüngliche Erwartung um fast 52 Milliarden Euro.

Abbildung 4.3.: Zusätzliche Ausgaben der Gesetzlichen Rentenversicherung

gegenüber der mittleren Variante des Rentenversicherungsberichts bei einem garantierten Sicherungsniveau vor Steuern von … Prozent, in Milliarden Euro

  • Auf der Basis der Annahmen für die mittlere Variante (und das mittlere Beschäftigungsszenario) des Rentenversicherungsberichts der Bundesregierung 2015.

Diese Werte ergeben sich für die mittlere Beschäftigungsvariante und erweisen sich auch gegenüber der unteren und oberen Beschäftigungsvariante als robust. Die Bundesregierung modelliert die unterschiedlichen Varianten mit einem Auf- oder Abschlag gegenüber dem mittleren Szenario von jährlich plus oder minus 0,5 Prozentpunkte ab 2016 und einem schrittweisen Rückführen dieser Abweichung im Zeitraum von 2020 bis 2029 (BMAS, 2015, 50). Sowohl in der unteren als auch der oberen Beschäftigungsvariante variieren die Abweichungen gegenüber dem Status-quo-Szenario nur geringfügig zur mittleren Beschäftigungsvariante um weniger als 1,5 Prozent pro Jahr.

 

4.3. Beitragssatzeffekte – eine Heuristik

Vor dem Hintergrund der politischen Debatte ergibt sich die Frage nach den Beitragssatzeffekten, die ein höheres Sicherungsniveau vor Steuern bei ansonsten unveränderten Annahmen nach sich zieht. Hierbei gilt es allerdings einschränkend voranzustellen, dass bereits im Rahmen des bisherigen Vorgehens mögliche Interdependenzen von Arbeitsangebotsentscheidungen und Rentenniveau ausgeblendet werden. Diese Einschränkung wiegt umso mehr für die folgenden Überlegungen, in deren Rahmen mögliche Arbeitsmarkteffekte einer Beitragssatz-Variation nicht betrachtet werden. Deshalb sind die weiteren Rechnungen holzschnittartig und nur im Sinne einer groben Heuristik zu verstehen.

Abbildung 4.4.: Heuristik möglicher Beitragssatzentwicklungen

in der Gesetzlichen Rentenversicherung in Abhängigkeit vom vorgegebenen Sicherungsniveau vor Steuern, in Prozent

  • Auf der Basis Annahmen für die mittlere Variante (und das mittlere Beschäftigungsszenario) des Rentenversicherungsberichts der Bundesregierung 2015; Status-quo-Szenario: Sicherungsniveau vor Steuern sinkt bis auf 44,6 Prozent im Jahr 2029.

Unterstellt man unter Anerkennung dieser einschränkenden Vorbemerkungen, dass 30 Prozent der Ausgaben nicht nur aktuell, sondern dauerhaft über steuerfinanzierte Zuschüsse finanziert werden und 70 Prozent über Beitragseinnahmen bei gegebener Beschäftigungs- und Lohnentwicklung, dann lassen sich über die Berechnung des durchschnittlichen Beitragsaufkommens je Beitragssatzpunkt im Status-quo-Szenario die notwendigen Anpassungen des Beitragssatzes errechnen, die für die Finanzierung der Mehrausgaben in den jeweiligen Ziel-Szenarien notwendig werden. Auf der Basis einer solchen Daumenpeilung lässt sich immerhin abschätzen, dass der Beitragssatzanstieg insbesondere nach 2023 an Dynamik gewinnt. Im Szenario „50 Prozent“ wird der Spielraum zur gesetzlich definierten Obergrenze bis zum Jahr 2020 weitgehend ausgeschöpft, und bereits ab dem Jahr 2024 die dann gültige Grenze von 22 Prozent überschritten. Im Szenario „47,5 Prozent“ erfolgt dieser Bruch mit der gesetzlichen Norm ab dem Jahr 2027 (zu vergleichbaren Ergebnissen kommen Holtemöller et al., 2016, 6).

 

5 Normative Ableitungen

Abschließend gilt es, die Befunde in die aktuelle rentenpolitische Diskussion einzuordnen:

  1. Die Debatte um eine Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung entzündet sich derzeit an dem regelkonformen Absinken des Sicherungsniveaus vor Steuern. Die Berechnung des Sicherungsniveaus basiert auf dem Modellfall eines Standardrentners und reflektiert bislang nicht die mit der Anhebung der Regelaltersgrenze verbundene Erwartung, dass die Versicherten künftig länger arbeiten und höhere Beitragszeiten aufweisen. Mit der erwünschten Verhaltensänderung könnte die bis zum Jahr 2029 prognostizierte Versorgungslücke im Standardrentnerfall bereits zu zwei Dritteln innerhalb des gesetzlichen Rentensystems geschlossen werden.
  2. Tatsächlich verdichten sich die empirischen Indizien, dass die Versicherten zunehmend später in den Rentenbezug wechseln und mehr Versicherungsjahre aufweisen als in der Vergangenheit. Insbesondere der Trend zu einem späteren Renteneintritt lässt sich aber nicht eindeutig auf das langfristig sinkende Rentenniveau zurückführen, weil zum einen seit dem Jahr 2000 mit der flächendeckenden Anwendung von Abschlägen bei vorzeitigem Rentenbezug eine weitere Veränderung der Anreizkulisse greift, zum anderen mit der positiven Beschäftigungsentwicklung seit 2005 insbesondere die Arbeitsmarktchancen älterer Arbeitnehmer überproportional stark gestiegen sind.
  3. Ohnehin lässt sich allein von der Entwicklung des gesetzlichen Rentenniveaus nicht auf die Armutsgefährdung im Alter schließen. Denn das statistische Konzept der Armutsgefährdung berücksichtigt sämtliche Einkommensquellen im Haushaltskontext. Tatsächlich liegen bereits heute 48 Prozent der Rentenzahlbeträge im Grenzbereich der Grundsicherungsschwelle im Alter oder darunter, während im Jahr 2014 nur 3 Prozent aller Personen im Alter von 65 und mehr Jahren tatsächlich Grundsicherung im Alter bezogen haben. Diese Diskrepanz lässt sich dadurch erklären, dass im Haushalt mehrere gesetzliche Renten sowie betriebliche und private Versorgungsansprüche und Vermögen zusammentreffen können.
  4. Für die gesetzlichen Rentner lag die Quote mit 2,5 Prozent sogar noch einmal unter dem Durchschnitt der Altersgruppe. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Sicherungsniveau bereits seit Anfang des letzten Jahrzehnts sinkt, scheint die gesetzliche Rente zumindest bislang eher vor Altersarmut zu schützen als sie zu verursachen.
  5. Allerdings erfordert der Trend zu einer höheren Erwerbsbeteiligung und einer längeren Erwerbsphase ein weiteres Nachjustieren im gesetzlichen System. Denn die zusätzlichen Beitragszahler und Beitragszahlungen erhöhen im Rahmen der Rentenanpassungsformel tendenziell die jährliche Rentenanpassung über das bislang unterstellte Niveau hinaus und sorgen somit für steigende Belastungen der jüngeren und nachfolgenden Kohorten, wenn sie selber in den Ruhestand wechseln. Dieses Nachjustieren kann über ein weiteres Absenken des Sicherungsniveaus oder höhere Beitragssätze und/oder eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze erfolgen.
  6. Aber diese Notwendigkeit ist bislang weder im öffentlichen Bewusstsein verankert noch wird sie im politischen Diskurs thematisiert. Im Gegenteil fordern einige Stimmen ein konstantes oder höheres Versorgungsniveau:• Soll das derzeitige Sicherungsniveau vor Steuern von 47,5 Prozent nicht weiter sinken, steigen die jährlichen Ausgaben ab dem Jahr 2022 über die bislang prognostizierte Entwicklung hinaus. Im Jahr 2029 werden dann insgesamt 477 Milliarden Euro in der Gesetzlichen Rentenversicherung ausgegeben – 28 Milliarden Euro mehr als bislang von der Bundesregierung angenommen. Um diese Mehrausgaben finanzieren zu können, muss der Beitragssatz bei einem unverändert hohen Anteil steuerfinanzierter Ausgaben ab dem Jahr 2027 über die bis dato gültige Obergrenze von 22 Prozent steigen und liegt im Jahr 2029 deutlich über der 23-Prozent-Marke.• Soll das Sicherungsniveau vor Steuern auf 50 Prozent angehoben werden, sind ad hoc Mehrausgaben in Höhe von 14 Milliarden Euro zu schultern. Ab dem Jahr 2022 wachsen auch in dieser Variante die Ausgaben stärker an, bis im Jahr 2029 bei einem Gesamtvolumen von 500 Milliarden Euro Mehrausgaben von 52 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Bei einem unverändert hohen Anteil steuerfinanzierter Ausgaben wird die bis zum Jahr 2020 gültige Obergrenze von 20 Prozent ab Einführung des höheren Niveaus ausgeschöpft und die danach gültige Grenze von 22 Prozent bereits ab dem Jahr 2024 übertroffen. Ohne weitere Eingriffe droht im Jahr 2029 ein Beitragssatz von 25 Prozent.
  7. Die hohen Kosten eines konstanten oder höheren Sicherungsniveaus belasten vor allem junge und künftige Beitragszahler und lassen sich auch nicht mit dem Ziel der Armutsprävention rechtfertigen, da ein solches Instrument vor allem Mitnahmeeffekte provoziert. Denn von einem höheren Versorgungsniveau profitieren auch alle Rentner mit Anwartschaften oberhalb der Grundsicherungsschwelle – ganz abgesehen von dem grundlegenden Einwand, dass ein Rückschluss von der Verteilung einer singulären Einkommensquelle auf die Armutsgefährdung im Alter zu systematischen Fehlschlüssen führt.
  8. Aus ähnlichen Gründen ist auch die solidarische Lebensleistungsrente als Instrument zur Armutsprävention ungeeignet:• Grundsätzlich führt eine Anhebung des Versorgungsniveaus auch dann zu höheren Ausgaben, wenn sie auf einzelne Gruppen wie zum Beispiel Geringverdiener beschränkt wird – allerdings in geringerem Umfang als bei einer allgemeinen Anhebung des Versorgungsniveaus.• Die Finanzierung zusätzlicher Aufwendungen belastet vor allem die erwerbstätigen Mitglieder jüngerer Kohorten – entweder unmittelbar über höhere Beitragssätze oder mittelbar im Fall einer steuerfinanzierten Variante der Lebensleistungsrente.• Treffsicher wirkt gleichwohl auch eine Lebensleistungsrente nicht – unabhängig von der konkreten Ausgestaltung. Denn solange der Haushaltskontext unberücksichtigt bleibt und eine Bedürftigkeitsprüfung unterbleibt, können Mitnahmeeffekte nicht ausgeschlossen werden. Insbesondere kann die Gesetzliche Rentenversicherung nicht nach den Gründen unterscheiden, die zu einem geringen Rentenanspruch führen. Werden diese Faktoren dagegen kontrolliert, führt die Lebensleistungsrente zu keiner substanziellen Verbesserung gegenüber dem Status quo.
  9. Letztlich verbleibt die langfristige Anhebung der Regelaltersgrenze als Anpassungsoption im gesetzlichen System, die bereits aufgrund der steigenden Ansprüche infolge der höheren Erwerbsbeteiligung und längeren Erwerbsbiografien notwendig wird. Statt den einmal beschrittenen Reformpfad im bestehenden System zugunsten nicht tragfähiger Lösungen aufzugeben, sollten sich die Reformüberlegungen auf die zweite und dritte Säule der Alterssicherung konzentrieren.
  10. Allerdings deuten auch dort die empirischen Indizien eher auf ein weit verbreitetes eigenverantwortliches Vorsorgeverhalten der Menschen hin (Beznoska/Pimpertz, 2016, 13 ff.). Deshalb gilt es auch hier, Hilfen möglichst treffsicher zu organisieren, sprich vorrangig Menschen zu qualifizieren und Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter zu entwickeln, damit Arbeitnehmer aus eigener Kraft und Motivation für das Alter vorsorgen können.
Literatur:

Beznoska, Martin / Pimpertz, Jochen, 2016,
Neue Empirie zur betrieblichen Altersvorsorge – Verbreitung besser als ihr Ruf,
IW-Trends – Vierteljahresschrift zur empirischen Sozialforschung, 43. Jahrgang, Heft 2/2016, S. 3–19BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2015,
Rentenversicherungsbericht 2015,BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2016,
Rentenlexikon: Rentenniveau (Sicherungsniveau vor Steuern),Bundesagentur für Arbeit, 2016,
Arbeitsmarkt in Zahlen. Beschäftigungsstatistik. Sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte nach ausgewählten Merkmalen. Deutschland. Zeitreihe, Stand: 31. März 2016,Demary, Markus / Pimpertz, Jochen, 2016,
Deutschlandrente – Hilfreich oder problematisch? IW-Kurzbericht Nr. 5 vom 03.02.2016,Deutsche Rentenversicherung, 2015a,
Rentenversicherung in Zahlen 2015,Deutsche Rentenversicherung, 2015b,
Rentenversicherung in Zeitreihen, Oktober 2015, DRV-Schriften Band 22, BerlinDeutsche Rentenversicherung, 2016,
Wie sich die Rente berechnet,Holtemöller, Oliver / Pohle, Felix / Zeddies, Götz, 2016,
Stabilisierung der gesetzlichen Renten-versicherung durch Erhöhung des Renteneintrittsalters, IWH-Online, 3/2016, April 2016,IG Metall, 2016,
Alterssicherung: Das fordert die IG Metall, Stand: 21.03.2016, IW Köln – Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 2016,
Deutschland in Zahlen 2016, Köln (erscheint voraussichtlich im Juni 2016)Niehues, Judith / Schröder, Christoph, 2012, Integrierte Einkommens- und Vermögensbetrachtung,
IW-Trends, Vierteljahresschrift zur empirischen Sozialforschung, 39. Jg., Heft 1,o. V., 2016a,
Dann wird die Bundestagswahl zum Votum über die Rente,o. V., 2016b,
Bsirske fordert Rentenniveau von mindestens 50 Prozent, Süddeutsche Zeitung SZ.de,Pimpertz, Jochen, 2013, Gegen Alarmismus und Bagatellisierung – empirische Befunde zur Altersarmut und wirtschaftspolitische Empfehlungen,
Sozialer Fortschritt, Jahrgang 62, Heft 10-11, Oktober/November 2013, Seite 274–282Pimpertz, Jochen, 2016, Betriebliche und private Altersvorsorge – Sinnvoll, aber nicht zwingend,
IW-Kurzbericht Nr. 17 vom 19.04.2016,

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Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2015,

WDR – Westdeutscher Rundfunk, 2016,
Fast jedem Zweiten droht eine Armutsrente,

Wissenschaftlicher Beirat BMWi – Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, 2012,
Altersarmut,

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