Mindestlohn: Zwischen Tarifautonomie und politischer Setzung

Die SPD möchte einen neuen Mindestlohn in Form eines Living Wage. Das hört sich gut an, doch die Konsequenzen wären gravierend.

Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro je Stunde zum 1. Januar 2015 griff der Staat erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg direkt in die Lohnfindung und in die Tarifautonomie ein. Um ein Mindestmaß an Autonomie zu wahren, wurde eine ständige Mindestlohnkommission (MLK) eingerichtet, die alle zwei Jahre über die Anpassung der Höhe des Mindestlohns befindet.

Die MLK orientierte sich bei den Anpassungen bisher nachlaufend an der Tariflohnentwicklung. Von dieser Orientierung darf sie in ihren Beschlüssen nur mit einer Zweidrittelmehrheit abweichen (Wissenschaftliche Dienste 2016, S. 4 und 8).

Diese Kopplung zwischen Mindestlohn- und Tariflohnentwicklung kann als ein Regelbindungselement interpretiert werden (Lesch und Schröder 2020, S. 166). Eine Regelbindung hat zwei wichtige Vorteile: Erstens stellt sie sicher, dass der Mindestlohn nicht zu sehr in das Tarifgeschehen eingreift; zweitens vermeidet sie, dass Mindestlohnanpassungen zum ständigen Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden.

„Beim Living Wage besteht die Gefahr, dass in einer ganzen Reihe von Branchen Tarifverhandlungen nicht nur durch den Mindestlohn vorherbestimmt, sondern überflüssig gemacht würden.“

Inzwischen mehren sich aber Forderungen, diesen Anpassungsprozess einmalig zu ändern. Vorgeschlagen wurde zunächst, den Mindestlohn im Rahmen einer außerordentlichen Anhebung durch die Politik auf 12 Euro je Stunde zu erhöhen (Pusch und Schulten 2019, S. 336). Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kündigte im Dezember 2020 zudem an, das Anpassungsverfahren ändern und das mittlere Einkommen als zusätzliches Kriterium heranziehen zu wollen. In einem Interview nannte Heil als Orientierungsmarke für die Mindestlohnhöhe 60 Prozent des Medianeinkommens (Heil 2020). Ein solcher Mindestlohn wird auch als Living Wage bezeichnet.

Mit der Einführung eines Living Wage würde der Mindestlohn noch weiter nach oben geschoben als durch die 12-Euro-Forderung. Denn bereits im Jahr 2020 hat der Living Wage die 12-Euro-Marke knapp überschritten. Die nächste Erhöhung des Mindestlohns steht im Jahr 2023 an. Dann wird der Living Wage rund 12,80 Euro erreichen und könnte bis 2024 auf etwa 13,20 Euro steigen. Im Mittel der Jahre 2023 und 2024 ergeben sich somit 13 Euro. Gegenüber dem für das zweite Halbjahr 2022 beschlossenen Mindestlohn von 10,45 Euro wäre dies ein Anstieg von mehr als 24 Prozent.

  • Abbildung: Gesetzlicher Mindestlohn und Living Wage

Die Etablierung eines Living Wage hätte deshalb spürbare Auswirkungen auf das deutsche Tarifsystem und die Tarifverhandlungen. Es würden deutlich mehr Tariflöhne verdrängt als bisher.

Dabei besteht die Gefahr, dass in einer ganzen Reihe von Branchen Tarifverhandlungen nicht nur durch den Mindestlohn vorherbestimmt, sondern überflüssig gemacht würden.

Einer Auswertung von mehr als 40 Tarifbranchen zufolge lagen Anfang 2019 etwa 20 Prozent aller Lohngruppen in Tarifverträgen unter der Schwelle von 12 Euro je Stunde (Pusch und Schulten 2019, S. 337). Damit wäre die Eingriffsintensität des Mindestlohns in das Tarifsystem etwa dreimal so hoch wie 2015, als gut 6 Prozent aller tariflichen Entgeltgruppen unter dem gesetzlichen Niveau von 8,50 Euro je Stunde lagen (Bispinck et al. 2020, S. 25). Zudem würde ein solcher Systemwechsel die zentrale Rolle der Tarifautonomie und der Tarifparteien infrage stellen.

Auch wenn bereits die Einführung des Mindestlohns 2015 tief in die Tarifautonomie eingriff, räumt die aktuelle Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes den Tarifparteien zumindest besondere Rechte bei der Anpassung der Mindestlohnhöhe ein. Die Aufnahme eines 60-Prozent-Kriteriums würde die Festsetzung der Mindestlohnhöhe von der Tariflohnentwicklung entkoppeln und die Autonomie der Tarifpartner in der MLK erheblich beschneiden.

Vergleich mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich

Zur Bewertung der Idee eines Living Wage lohnt sich auch ein Blick auf die europäischen Partnerstaaten Frankreich und Vereinigtes Königreich, in denen bereits ein Living Wage existiert (Frankreich) oder angestrebt wird (Vereinigtes Königreich). In beiden Ländern werden die hohen Mindestlöhne durch Lohnsubventionen flankiert.

In Deutschland gibt es eine derartige Unterstützung von Unternehmen bisher nicht. Die französischen und britischen Erfahrungen zeigen jedoch: Um negative Beschäftigungseffekte zu vermeiden, müsste bei einem Systemwechsel hin zu einem Living Wage über die Einführung von Lohnsubventionen nachgedacht werden, die vor allem kleine und mittlere Unternehmen unterstützen. In Frankreich wurden 2019 schätzungsweise 1,0 Prozent des BIP für Lohnsubventionen ausgegeben. Das entsprach einer Summe von 23,6 Milliarden Euro.

Der Mindestlohn ist eine Stellschraube in einem Gesamtsystem. Verändert man dessen Logik, müssen auch an anderen Stellen mitunter kostenintensive Änderungen vorgenommen werden. Zudem würde das im deutschen Staat tief verankerte Prinzip der Tarifautonomie infrage gestellt. Darüber sollten sich die politischen Entscheidungsträger, die einen Living Wage propagieren, bewusst werden.

Dieser Blogbeitrag basiert auf dem Gutachten „Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns: Argumente gegen eine politische Lohnfindung“ im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Bispinck, R., Dribbusch, H., Kestermann, C., Lesch, H., Lübker, M., Schneider, H., Schröder, C., Schulten, T., Vogel, S. (2020). Entwicklung des Tarifgeschehens vor und nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, in: BMAS (Hrsg.): Forschungsbericht Nr. 562

Heil, H. (2020). Die Corona-Krise muss zu höheren Löhnen führen, Interview, Bild am Sonntag, 13.12.2020 [14.1.2021]

Lesch, H., Schröder, C. (2020). Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, in: Mindestlohnkommission (Hrsg.): Stellungnahmen aus der schriftlichen Anhörung. Ergänzungsband zum Dritten Bericht der Mindestlohnkommission an die Bundesregierung nach § 9 Abs. 4 Mindestlohngesetz [8.1.2021]

Pusch, T., Schulten, T. (2019). Mindestlohn von 12 Euro: Auswirkungen und

Perspektiven, in: Wirtschaftsdienst, 98. Jg., Nr. 5, S. 335– 339

Wissenschaftliche Dienste (2016). Die Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission. Regelung der Beschlussfassung [6.1.2021]

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Autor:

Helena Schneider und Christoph Schröder sind Economist für Lohn- und Tarifpolitik und Senior Researcher für Einkommenspolitik, Arbeitszeiten und -kosten beim Institut der Deutschen Wirtschaft

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