Statement zum Arbeitsmarkt

"Der Niedriglohnsektor schafft neue Beschäftigungsmöglichkeiten"

Der Niedriglohnsektor nimmt zu, aber nicht auf Kosten der Normalbeschäftigten. Das ist eine wesentliche Erkenntnis des Gutachtens „Der Niedriglohnsektor in Deutschland: Entwicklung, Struktur und individuelle Erwerbsverläufe“, das Holger Schäfer zusammen mit Dr. Jörg Schmidt erstellt hat. Im folgenden veröffentlichen wir hier das Statement, das Holger Schäfer auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens am 30.08.2011 im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin gegeben hat.

29. August 2011

In der Diskussion um den Niedriglohnsektor stehen sich im Kern zwei konkurrierende Forschungshypothesen gegenüber:

1. Die eine Sicht sieht den Niedriglohnsektor als ein Resultat von wirtschafts-, tarif- und bildungspolitischen Fehlentscheidungen. Niedriglohnbeschäftigung sei ein verteilungs- und sozialpolitisches Problem und müsse durch geeignete gesetzgeberische Maßnahmen eingedämmt werden.

2. Die andere Sicht sieht den Niedriglohnsektor als eine notwendige Bedingung, um Arbeitnehmer mit eher geringer Produktivität besser in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Niedriglohnbeschäftigung wäre damit unerlässlich, wenn Vollbeschäftigung hergestellt werden soll.

Die vorliegende Untersuchung kann die Frage, welche These zutrifft, nicht abschließend beantworten, zumal dabei auch immer subjektive Wertungen eine Rolle spielen. Sie trägt aber eine ganze Reihe von Indizien zusammen, auf deren Basis belegt werden kann, dass der Niedriglohnsektor eher eine Einstiegs- und Aufstiegschance für Arbeitslose als eine Bedrohung für Arbeitnehmer mit Löhnen oberhalb der Geringverdienergrenze darstellt.

Worum geht es im Detail? Eine offizielle Definition des Niedriglohnsektors gibt es nicht. Nach einer häufig verwendeten Definition, der auch in der vorliegenden Untersuchung verwendet wird, sind Niedriglöhne durch einen Bruttostundenlohn von weniger als zwei Dritteln des mittleren Bruttostundenlohns gekennzeichnet. Im Jahr 2009 ergab sich aus dieser Definition eine Niedriglohngrenze von knapp 9 Euro. Ob man einen Stundenlohn von knapp 9 Euro als niedrig empfindet oder nicht, ist nicht zuletzt eine Frage der subjektiven Wertung. Auf jeden Fall führt ein solcher Stundenlohn bei Vollzeitarbeit zu einem Erwerbseinkommen, das deutlich über der Grenze liegt, bis zu der ein Anspruch auf ergänzende Transferleistungen besteht. Insofern handelt es sich hier um eine eher weite Definition des Begriffs Niedriglohn.

Um den Umfang, die Entwicklung und die Struktur des Niedriglohnsektors zu untersuchen, wurde das Sozio-ökomische Panel ausgewertet. Dabei handelt es sich um einen Datensatz aus einer jährlich durchgeführten Befragung von rund 20.000 Personen, von denen rund die Hälfte erwerbstätig ist und Informationen zum Stundenlohn vorliegen. Die Untersuchung konzentriert sich bei der Analyse der Geringverdiener auf abhängig Beschäftigte ohne Auszubildende und verwendet gesamtdeutsche Daten im Zeitraum 1994 bis 2009. 

Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor an allen Beschäftigten Tabelle 1: Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor an allen Beschäftigten

Wird der Umfang des Niedriglohnsektors als prozentualer Anteil an der gesamten Beschäftigung berechnet, so stellt man fest, dass die Niedriglohnbeschäftigung in nicht unbeträchtlichem Maße zugenommen hat. Waren 1994 noch 16 Prozent aller Beschäftigten dem Niedriglohnsektor zuzuordnen, so sind es im Jahr 2009 schon mehr als 22 Prozent gewesen. Seit 2006 nimmt der Anteil allerdings nicht weiter zu. (Tabelle 1). Nach diesen Daten ist von einem Zuwachs er Niedriglohnbeschäftigung auszugehen. 

Bevölkerung im Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre) nach Lohnstatus Tabelle 2: Bevölkerung im Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre) nach Lohnstatus

Die Betrachtung des Anteils an der gesamten Beschäftigung lässt jedoch den zentralen Aspekt außer Acht, dass die gesamte Beschäftigung in dem fraglichen Zeitraum beträchtlich zugenommen hat. Dieser Tatbestand kann dadurch berücksichtigt werden, dass statt des Anteils an der gesamten Beschäftigung der Lohnstatus an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – das reicht von 15 bis 64 Jahre – ausgewiesen wird (Tabelle 2).

Auch in dieser Betrachtungsweise kommt es zu einem wachsenden Niedriglohnsektor. Dessen Anteil bezogen auf die Erwerbsbevölkerung stieg von 9 Prozent in 1994 auf 13 Prozent im Jahr 2009. Allerdings fand dieses Wachstum nicht auf Kosten der Beschäftigung mit höherer Entlohnung statt. Der Sektor der Normalverdiener – also der Beschäftigten mit einem Stundenlohn oberhalb der Niedriglohnschwelle – blieb vielmehr über den gesamten Beobachtungszeitraum konstant bei rund 45 Prozent. Wenn überhaupt, ist er am aktuellen Rand sogar leicht angestiegen.

Spiegelbildlich zum Wachstum des Niedriglohnsektors hat dagegen das Segment der inaktiven Bevölkerung abgenommen, die sich aus Schülern, Studenten, Rentnern und anderen Nichterwerbstätigen zusammensetzt. Besonders stark rückläufig war einerseits der Anteil der Rentner – wobei hier ausschließlich Frührentner erfasst sind, da ja nur Personen im Erwerbsalter betrachtet werden. Andererseits ging der Anteil der sonstigen Nichterwerbstätigen zurück, das waren in erster Linie Frauen. Per Saldo hat also der Niedriglohnsektor neue, zuvor nicht existente Beschäftigungsgelegenheiten geschaffen. Er war entscheidender Faktor dafür, dass eine gestiegene Erwerbsneigung auch in eine höhere Erwerbstätigkeit überführt werden konnte.

Eine wichtige Frage ist dabei, welche Personengruppen von dieser Entwicklung profitierten. Eine These lautet, dass der Niedriglohnsektor Beschäftigungsmöglichkeiten in einfachen Tätigkeiten bietet, wovon besonders die Geringqualifizierten profitieren sollten. Geringqualifizierte haben es auf dem Arbeitsmarkt schwer, weil arbeitsparender technischer Fortschritt die Arbeitskräftenachfrage begrenzt und die Globalisierung und sinkende Transaktionskosten das Arbeitskräfteangebot ausweiten. 

Niedriglohnbeschäftigte nach tatsächlicher und erforderlicher Qualifikation (2009) Tabelle 3: Niedriglohnbeschäftigte nach tatsächlicher und erforderlicher Qualifikation (2009)

Der empirische Befund scheint auf den ersten Blick diese These nicht bestätigen zu können. Über 80 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor verfügt über mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung (Tabelle 3). Niedriglohnbeschäftigung, so wird daraus verbreitet gefolgert, betreffe zunehmend die Kerngruppen des Arbeitsmarktes. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass man es im Niedriglohnsektor in beträchtlichem Ausmaß mit Fehlqualifikationen zu tun hat. Denn nur etwas mehr als die Hälfte der Niedriglohnbeschäftigten benötigt zur Ausübung ihrer Tätigkeit überhaupt eine Berufsausbildung. Unter den Normalverdienern beträgt dieser Anteil weit über 80 Prozent.

Es gibt im Niedriglohnbereich viele Arbeitnehmer mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung, die in Jobs arbeiten, in denen keine Ausbildung erforderlich ist – zum Beispiel gelernte Bäcker, die als Lagerhelfer arbeiten. Hinzu kommt eine Reihe von Arbeitnehmern, die zwar über eine Ausbildung verfügen und für ihre Tätigkeit auch eine benötigen, tatsächlich aber fachfremd beschäftigt sind (zum Beispiel Bäcker, die als Gärtner arbeiten). Nur rund ein Drittel der Niedriglohnbeschäftigten arbeitet in einem Beruf, der mindestens eine Berufsausbildung voraussetzt, und hat gleichzeitig auch eine Ausbildung in diesem Beruf (also Bäcker, die als Bäcker arbeiten).

Anders ausgedrückt: Zwei Drittel der Niedriglohnbeschäftigten übt entweder einfache Tätigkeiten aus, für die keine Ausbildung erforderlich ist, oder ihre Ausbildung ist nicht passgenau. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine formale Qualifikation in Form einer abgeschlossenen Berufsausbildung nicht zwingend bedeutet, dass es sich um eine am Arbeitsmarkt verwertbare oder gar gesuchte Qualifikation handelt. Somit können wir Indizien für die These vorlegen, dass der Niedriglohnsektor Beschäftigungsmöglichkeiten für Personengruppen bereithält, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben – wenn auch mit der vorliegenden Methodik kein eindeutiger Beleg für diese These gelingt.

Ein häufig verwendetes Argument, um eine Austrocknung des Niedriglohnsektors durch staatliche Eingriffe zu begründen, ist die Befürchtung einer zunehmenden sozialer Spaltung. Zunehmende „Armut trotz Arbeit“ müsse durch geeignete Gesetze verhindert werden. Die Daten zeigen jedoch, dass der Zusammenhang zwischen Niedriglohnbeschäftigung und Einkommensarmut eher lose ist.

Armut ist ein Konzept, das am Haushaltseinkommen ansetzt. Üblicherweise wird das Haushaltsnettoeinkommen herangezogen, das anhand eines bestimmten Gewichtungsverfahrens durch die Haushaltsgröße geteilt wird. Danach wird jedem Haushaltsmitglied ein sogenanntes Äquivalenzeinkommen zugerechnet. Wessen Äquivalenzeinkommen einen Wert von 60 Prozent des mittleren Einkommens unterschreitet, gilt als armutsgefährdet.

Nun ist das eigene Erwerbseinkommen zwar ein möglicherweise wichtiger Bestandteil des Haushaltseinkommens. Häufig sind aber noch weitere Einkommensquellen vorhanden, zum Beispiel ergänzende Transfers, vor allem aber das Erwerbseinkommen des Partners. Viele Tätigkeiten im Niedriglohnsektor tragen daher nur ergänzend zum gesamten Haushaltseinkommen bei. 

Quote der Armutsgefährdung nach Lohnstatus (2009) Tabelle 4: Quote der Armutsgefährdung nach Lohnstatus (2009)

Im Ergebnis sind nur 16 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor armutsgefährdet (Tabelle 4). Das ist zwar deutlich mehr als das Armutsgefährdungsrisiko von Normalverdienern, das bei nur 2 Prozent liegt. Es ist aber deutlich weniger als die Armutsgefährdungsquote der Arbeitslosen, die über 60 Prozent beträgt. Es gibt in Deutschland kein nennenswertes Problem der Armut trotz Arbeit. Es gibt durchaus Armut, aber diese speist sich in erster Linie aus der Arbeitslosigkeit. 

Dies wird auch in der Debatte um die so genannten Aufstocker deutlich, die erwerbstätig sind und ergänzend Arbeitslosengeld II beziehen. Aufstocker sind, technisch betrachtet, Erwerbstätige. Der typische Aufstocker ist aber kein Arbeitnehmer, der trotz Vollzeitarbeit aufgrund seines geringen Stundenlohns gezwungen ist, zusätzlich ALG II zu beantragen. Der typische Aufstocker ist vielmehr ein Arbeitslosengeld II-Empfänger, der sich in geringem Umfang etwas hinzuverdient. Von den 1,4 Millionen Aufstockern sind nur 24 Prozent vollzeitbeschäftigt. Von diesen leben die meisten in größeren Haushalten – würden also selbst bei höheren Löhnen einen Anspruch auf ergänzende Leistungen haben. Es gibt nur 74.000 alleinstehende vollzeitbeschäftigte Aufstocker, bei denen die Abhängigkeit von Transferleistungen eindeutig auf niedrige Löhne zurückgeführt werden kann. Dies entspricht 0,3 Prozent der insgesamt sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.

Auch wenn Niedriglohnbeschäftigte selten arm sind, so ist ihre soziale Lage dennoch in aller Regel schlechter als jene von Arbeitnehmern mit höheren Löhnen. Daher ist nicht zuletzt von Bedeutung, inwieweit der Niedriglohnsektor eine Durchlässigkeit zum Segment der Höherverdienenden aufweist. Mit dem Sozio-ökonomischen Panel können solche Übergänge nachvollzogen werden. Das SOEP ist ein Panel, d.h. es werden – soweit möglich – immer dieselben Personen befragt. Somit ist es möglich, Eigenschaften einzelner Individuen im Zeitablauf nachzuverfolgen. 

Übergangsmatrix nach Lohnstatus   Jahr-zu-Jahr-Wechsel, Zeilenprozente, Zeitraum 1994-2009 Object

Gut die Hälfte der Niedriglohnbezieher ist auch im jeweils nächsten Jahr noch zu einem Niedriglohn beschäftigt. Immerhin 24 Prozent schaffen binnen Jahresfrist den Aufstieg in eine besser bezahlte Beschäftigung (Tabelle 5).

Besonders große Chancen eines Aufstiegs in das Normalverdienersegment haben Arbeitnehmer, die auf eine möglichst lange Phase von Vollzeitbeschäftigungen zurückblicken können. Als hinderlich erweisen sich hingegen ausgedehnte Phasen der Arbeitslosigkeit. Von überragender Bedeutung ist jedoch die Qualifikation. Gegenüber Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung haben Hochschulabsolventen eine 2,4-mal so hohe Chance auf den Aufstieg. Auch für Personen mit einer beruflichen Ausbildung sind die Chancen 1,9-mal so hoch.

Während rund ein Viertel der Niedriglohnbezieher in das Segment höherer Löhne aufsteigt, beträgt das durchschnittliche Risiko eines Normalverdieners, umgekehrt in den Niedriglohnsektor zu wechseln, nur knapp 5 Prozent. Werden alle Übergänge im Zeitraum 1994 bis 2009 zusammengezählt, so übersteigt die Zahl der Aufstiege vom Geringverdienersektor in den Normalverdienersektor jene der Abstiege vom Normalverdienersektor in den Niedriglohnbereich um rund 3 Millionen.

Hierbei muss berücksichtigt werden, dass es sich um Betrachtungen des Lohnstatus in jeweils zwei aufeinander folgenden Jahren handelt. Würde man den Vergleichszeitraum erweitern, würde auch die Zahl der Übergänge zunehmen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der großen Bedeutung der Qualifikation. Wer durch Qualifikation den Aufstieg aus dem Niedriglohnsektor schafft, der erreicht dies in der Regel nicht in kurzer Zeit. Der Erwerb von Qualifikationen kostet Zeit. Erst wenn die Phase des Qualifikationserwerbs abgeschlossen ist, erhöht sich die Chance auf den Aufstieg aus dem Niedriglohnsektor.

Genau spiegelverkehrt als bei den Übergängen zwischen Niedriglohnsektor und Normalverdienersegment verhält es sich bei den Arbeitslosen: Knapp 12 Prozent der Arbeitslosen finden im Niedriglohnsektor einen Job. Demgegenüber verlieren nur 8 Prozent der Geringverdiener ihre Arbeit, ohne eine neue Beschäftigung zu finden. Im Beobachtungszeitraum übersteigt die Zahl der Übergänge aus Arbeitslosigkeit in den Niedriglohnsektor die Zahl der Austritte aus dem Niedriglohnsektor in Arbeitslosigkeit um rund 600.000.