Soziale Marktwirtschaft
Soziale Marktwirtschaft

Mangel einer Standarddefinition

Ungeachtet der gemischten Gefühle, die vom Begriff der sozialen Gerechtigkeit ausgelöst werden, darf man nicht übersehen, daß dieser als Terminus technicus inzwischen Einzug in die Gesellschaftswissenschaften gehalten hat. In dieser Rolle sind an ihn dieselben Anforderungen gestellt, die auch anderen Kernbegriffen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung zufallen.

4. Februar 2006

So sollten zum Beispiel die zentralen Begriffe einer Theorie in bezug auf deren Aussagebereich hinreichend präzise und eindeutig sein, gegebenenfalls - wie der Philosoph Rudolf Carnap betonte - durch Explikata, das heißt durch präzisere Begriffe, ersetzt werden. Dies empfiehlt sich schon allein deshalb, weil eine Theorie nicht an sprachlichen Unzulänglichkeiten scheitern sollte, sondern, wenn überhaupt, nur an der Wirklichkeit.

Was den Begriff der sozialen Gerechtigkeit betrifft, so hat sich allerdings noch keine Standarddefinition herausgebildet. Einigkeit scheint nur darüber zu herrschen, daß die Verteilungsergebnisse des Marktes den Aussagebereich bestimmen. Sämtliche Thesen, die für eine bestimmte Gesellschaft in einem bestimmten Zeitraum soziale Gerechtigkeit unterstellen oder bestreiten, führen ihre Behauptung auf bestimmte Verteilungsergebnisse des Marktes zurück. Dabei wird stets ein Verhältnis zwischen der sozialen und der herkömmlichen Gerechtigkeit hergestellt - sei es ein sich gegenseitig ergänzendes oder ein begrenzendes Verhältnis. Wie auch immer, gemeinsamer Ausgangspunkt der Konzeption sozialer Gerechtigkeit ist die Annahme, daß mit der traditionellen Gerechtigkeit sich nicht alle Fragen der materiellen Gerechtigkeit beantworten lassen, die im Zuge wirtschaftlicher Transaktionen aufgeworfen werden können. Anderenfalls wäre der Begriff "soziale Gerechtigkeit" obsolet.

Gleichwohl halten viele Vertreter der Theorie sozialer Gerechtigkeit an der traditionellen Gerechtigkeitskonzeption als Grundlage zur Klärung vieler anderer materieller Verteilungsfragen weiterhin fest. Ein Grund dafür liegt wohl in der Eigenschaft des herkömmlichen Gerechtigkeitsbegriffs, mit wenigen kompatiblen Regeln zur Klärung solcher Fragen auszukommen, nämlich fremdes Eigentum zu achten und in Freiheit eingegangene Verträge einzuhalten. Wird eine der beiden Regeln bei Transaktionen verletzt, dann kommt die Restitutionsregel zum Einsatz. Sie legt fest, wie der Ausgangszustand wiederherzustellen ist. Prinzipiell ließen sich alle Verteilungsergebnisse des Marktes danach regeln, wären da nicht jene Verteilungsergebnisse, die - nach Auffassung der Vertreter einer Theorie sozialer Gerechtigkeit - in anderer Weise gerecht zu regeln sind.

Bevor man einzelne Varianten dieser Theorie betrachtet, scheint es angemessen, ein Problem anzusprechen, das mit der Idee einhergeht, die herkömmliche Gerechtigkeit sei erweiterungs- oder korrekturbedürftig. Auf dieses Problem hat Hayek hingewiesen: Was die Verteilungsergebnisse des Marktes betreffe, so könne kein Akteur dieselben hinreichend bewirken oder gar vorhersagen und folglich auch nicht beabsichtigen. Vielmehr seien sie ein Resultat, das spontan, das heißt unbeabsichtigt, aus den Interaktionen aller Marktakteure hervorgehe, die jeder für sich völlig andere, eigene Ziele verfolgten. Da im Rahmen einer individualistischen Ethik nur solche Handlungen zur Bewertung anstünden, die vom Akteur intendiert und für das Ergebnis hinreichend ursächlich seien, stelle sich die Frage der Gerechtigkeit für die spontanen Verteilungsergebnisse des Marktes erst gar nicht. Daher könne weder sinnvoll behauptet werden, der Markt sei sozial ungerecht, noch, er sei sozial gerecht. Diesem Argument kann man sich nicht entziehen - es sei denn, man nähme, explizit oder implizit, statt oder neben einer individuellen Ethik auch eine kollektive oder holistische Ethik an und die damit verbundenen methodologischen Probleme in Kauf.

Das von Hayek aufgezeigte Problem, Verteilungsergebnisse des Marktes im Rahmen einer individualistischen Ethik nicht moralisieren zu können, führt zum Grundproblem der Theorie sozialer Gerechtigkeit, das auch zugleich das Grundanliegen der Theorie ist - nämlich die Kriterien anzugeben, nach denen bestimmte Verteilungsergebnisse, die gemäß dem herkömmlichen Gerechtigkeitsverständnis gerecht sind, sozial ungerecht zu nennen wären.

Die Theorie sozialer Gerechtigkeit geht dabei von der Vermutung aus, daß die Ergebnisse des Marktes den Akteuren zu ungleichen Teilen zufallen. Daß dies so sein kann und in aller Regel auch ist, wird selbst von Kritikern der Theorie kaum bestritten. Ungleiche Verteilungsergebnisse gründen in der Natur der Knappheit und spontanen Ressourcenverteilung und sind im Rahmen der traditionellen Gerechtigkeitsidee gerecht, solange sie nicht anderweitig deren Regeln verletzen, zum Beispiel in Form von Marktzutrittsverwehrungen. Folglich wäre - wie der englische Philosoph Anthony Flew hervorgehoben hat - eine auf bloße materielle Ungleichheit gründende Umverteilung eine ungerechte Handlung im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit, weil sie unrechtmäßig "einigen rechtmäßig erworbenes Eigentum wegnimmt, um es an andere, die dessen nicht unrechtmäßig beraubt wurden, zu transferieren".

Mit der sozialen Gerechtigkeit wird also nolens volens ein Kriterium ins Spiel gebracht, das den Schluß erlauben soll, allein eine materielle Ungleichheit der Verteilungsergebnisse könne eine Ungerechtigkeit bewirken. Allerdings halten die Vertreter der Theorie sozialer Gerechtigkeit nicht nur ein Kriterium, sondern verschiedene Kriterien bereit.

Obwohl der Begriff der sozialen Gerechtigkeit verhältnismäßig jung ist (nach Hayek ist er erst seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert gebräuchlich), reicht die Idee, das traditionelle Gerechtigkeitsverständnis sei unzureichend, recht weit zurück. So unterscheidet bereits Aristoteles zwischen einer ausgleichenden (kommutativen) und einer austeilenden (distributiven) Gerechtigkeit. Beide sind für Aristoteles Unterklassen der partikularen Gerechtigkeit, die sich mit dem deckt, was wir oben traditionelle oder herkömmliche Gerechtigkeit genannt haben.

Während er die ausgleichende Gerechtigkeit zur Beurteilung der Tauschhandlungen des freiwilligen und unfreiwilligen Verkehrs vorsah, reservierte er die austeilende Gerechtigkeit als Maßstab für die öffentliche "Zuerteilung von Ehre oder Geld oder anderen Gütern" gemäß dem Verhältnis, "das die Leistungen der Bürger zueinander haben". Andere Parameter wie Bedürftigkeit, Zugehörigkeit zu einer Gruppe und ähnliches spielen für ihn keine Rolle. Sie gewinnen erst in den neueren Theorien sozialer Gerechtigkeit an Bedeutung.

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