Zehn Jahre Finanzkrise: Willkommen in der Zombiewirtschaft!

Niedrigzinspolitik und Finanzmarkt-Boom verschleiern die eigentliche Krise der Realwirtschaft. Ein Rück- und Ausblick zur Finanzkrise von Alexander Horn, Geschäftsführer des Novo Argumente Verlags und Novo-Redakteur.

Vor zehn Jahren sendete die Finanzkrise ihre ersten Schockwellen nach Deutschland. Am 30. August 2007 gestand die IKB Deutsche Industriebank in einer Ad-hoc-Mitteilung ein, in eine existenzbedrohende Schieflage geraten zu sein. Schließlich kollabierte die IKB, deren Rettung den Steuerzahler bis heute etwa zehn Milliarden Euro kosten sollte. Wegen der für die Staaten sehr teuren und für einige Staaten zu teuren Rettung „ihrer“ Banken entwickelte sich daraus die Eurokrise.

Der in letzter Minute vereitelte Staatsbankrott einiger überforderter Mitgliedsstaaten verhinderte den Kollaps der Eurozone. Um das Finanzsystem sowie Wirtschaft und Gesellschaft zu stabilisieren, haben die Staaten der Eurozone bis heute fünf Billionen Euro aufgebracht. Diese Summe ergibt sich, wenn man zum Anstieg der Staatsverschuldung in den letzten zehn Jahren um vier auf inzwischen zehn Billionen Euro noch die Zinsersparnis von einer Billion hinzurechnet, die durch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) eingespart wurde.

Dennoch konnten mit Hilfe dieser enormen Geldsumme gerade einmal die akuten Krisensymptome behandelt werden. In Ökonomie und Politik besteht weitgehende Einigkeit, dass die aktuelle Stabilität keineswegs das Ende der Krise bedeutet. „So stabil die Lage derzeit wirkt, so fragil bleibt sie“, fasst Gerald Braunberger, leitender Redakteur der FAZ für Finanzen, treffend zusammen.[i] Kennzeichnend für diese fragile Stabilität ist der Boom der Finanzmärkte einerseits, anderseits eine umso kraftlosere, immer noch nicht erholte Wirtschaft.

Die wirtschaftliche Erholung war seit der Finanzkrise in fast allen Euroländern von Rezessionen unterbrochen. In manchen Ländern darf man sogar von einer Depression sprechen. Auch an der Dauerhaftigkeit des gegenwärtigen Wachstums im Euroraum zweifeln viele Ökonomen. Bis heute haben Italien, Spanien, Portugal und Griechenland eine niedrigere Wirtschaftsleistung als vor der Krise.

Die Wirtschaft der Eurozone stagniert, obwohl die als krisenauslösend angesehenen instabilen Finanzmärkte inzwischen als stabilisiert gelten. Zudem führt die ultralockere Geldpolitik der EZB nicht zu den gewünschten Effekten. Weder die Kosteneinsparungen für laufende Kredite noch die niedrigen Zinsen auf Neukredite machen den Unternehmen Appetit auf mehr Investitionen.

Die europäische Politik setzte in den letzten Jahren vor allem darauf, die schon vor der Finanzkrise genutzten Instrumente zur wirtschaftlichen Stabilisierung erneut anzuwenden – mit einem Unterschied: Die Dosis (also der Geldeinsatz) wurde massiv erhöht, und die Effekte sind noch magerer als zuvor ausgefallen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Geldpolitik, die mit günstigen Krediten und steigenden Vermögenspreisen für eine Expansion der Finanzmärkte gesorgt hat.

Die seit der Finanzkrise weltweit noch wesentlich expansivere Geldpolitik hat den Anstieg der globalen Verschuldung von Konsumenten, Staaten und Unternehmen – entgegen der als notwendig angesehenen Rückführung der hohen Verschuldung – sogar noch weiter vorangetrieben. In das unmittelbare Blickfeld der Krisenmanager rückten die werterzeugenden Dienstleistungs- und Industrieunternehmen nur, sofern die Gefahr bestand, dass diese in den Strudel der Finanzkrise geratene könnten.

Ein typisches Instrument dieser Politik war die Nachfragestabilisierung, etwa die 2009 in Deutschland eingeführte Abwrackprämie für Pkw oder die ebenfalls 2009 eingeführte großzügige Kurzarbeiterregelung, die ebenfalls den Konsum stabilisierte und Unternehmen zudem vor kostspieligen Entlassungen und Wiedereinstellungen bewahrte.

Das „Durchwursteln“ der letzten Jahre hat letztlich noch höhere Hürden für die wirtschaftliche Erholung entstehen lassen. Der einseitige Fokus auf Finanzmärkte zum Doping der Gesamtwirtschaft reicht offenbar nicht aus, um der Realwirtschaft zu einer eigenen Dynamik zu verhelfen. Inzwischen sehen viele Experten die ohnehin nur in homöopathischen Dosen angestrebte Rückführung der ultralockeren Finanzpolitik als hochriskant an.

Heute stehen die Staaten, allen voran die Euroländer, aufgrund des enormen Schuldenanstiegs mit dem Rücken an der Wand. Die Geldpolitik ist ausgereizt. Auch der Eurokurs dürfte seinen Tiefststand überwunden haben. Von diesen Seiten werden kaum noch stimulierende Effekte zu erwarten sein. Hinzu kommt jetzt eine akute Bankenkrise. Zwar ist es den europäischen Banken teilweise gelungen, faule Kredite abzubauen, aber die schlechte Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre hat zum Entstehen neuer Problemkredite geführt. Inzwischen belasten faule Kredite im Wert von einer Billion Euro die europäischen Banken.

Vielen betroffenen Banken fehlt die Finanzkraft, um ihre Portfolios von faulen Krediten zu befreien. Um aber Kreditausfälle zu vermeiden, die diese Zombiebanken in Schwierigkeiten bringen könnten, werden bei wirtschaftlich schwachen Schuldnern zur Sicherung ihrer Solvenz tendenziell die Kreditlinien verlängert. Die von Krediten abhängigen Unternehmen können unter diesen Bedingungen zwar ökonomisch überleben, erwirtschaften aber kaum mehr Profite. Sie schaffen es daher, weder hinreichende eigene Mittel zu generieren noch fremdes Kapital aufzutreiben, um in eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit zu investieren. Die Unternehmen existieren als „Untote“, die zu schwach sind, sich mit produktivitätssteigernden Investitionen aus ihrer Lage zu befreien. Aufgrund der mit ihrem Untergang verbundenen Risiken für die Banken und oft auch für Staaten dürfen sie jedoch nicht sterben. Die Folge ist eine Zombiefizierung der gesamten Wirtschaft.

Die eigentlich bankrotten Unternehmen scheiden nicht aus dem Markt aus und beinträchtigen in ihrem Überlebenskampf die Profite und Expansionsmöglichkeiten produktiverer Unternehmen. Diese sind ohne Marktbereinigung ebenfalls zu schwach oder schrecken davor zurück, weitere investitionsgetriebene Produktivitätssteigerungen voranzutreiben. Auch unabhängig von der Rolle der Zombiebanken stabilisiert die Niedrigzinspolitik der letzten Jahrzehnte und erst recht die aktuell ultralockere Geldpolitik die Wirtschaft, indem sie gerade den weniger wettbewerblichen Unternehmen das Überleben ermöglicht. Bei ansteigenden Zinsen würden viele dieser Unternehmen aus dem Markt ausscheiden. Dies könnte wegen der seit der Finanzkrise vor zehn Jahren aufgehäuften Probleme eine Kettenreaktion aus Unternehmensbankrotten, Bankenpleiten und Staatskrisen auslösen.

Die auf Stabilisierung der Wirtschaft ausgerichtete Politik der letzten Jahrzehnte hat den werterzeugenden Wirtschaftsbereichen unter dem Strich mehr geschadet als geholfen. Eine direkte Konsequenz dieser fehlgeleiteten Strategie sind die in allen westlichen Volkswirtschaften gesunkenen Investitionsquoten, die zudem immer niedrigere Produktivitätssteigerungen zur Folge haben. Die schlaffe Produktivitätsentwicklung wiederum hat negative Folgen für den gesellschaftlichen Wohlstand. Denn eine positive Produktivitätsentwicklung würde preissenkend wirken und böte zudem eine Grundlage für Reallohnerhöhungen der Beschäftigten in diesen Wirtschaftsbereichen.

Trotz der vordergründig guten Wirtschaftslage bietet Deutschland ein gutes Beispiel für diesen Zusammenhang. Anfang der 1970er-Jahre gelang es in Deutschland noch, die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde jährlich um fünf Prozent zu steigern. Seitdem geht die Arbeitsproduktivitätssteigerung kontinuierlich zurück und lag von 2005 bis 2014 nur noch bei 0,8 Prozent jährlich. Ähnlich dramatisch entwickelte sich in diesem Zeitraum die Nettoinvestitionsquote. Diese lag Anfang der 1970er-Jahre noch bei gut 15 Prozent und hat sich nach einem rasanten Abstieg seit Anfang des Jahrhunderts bei etwa zwei Prozent eingependelt.[ii] Die für die Produktivitätsentwicklung entscheidenderen Brutto-Ausrüstungsinvestitionen (also ohne Berücksichtigung von Abschreibungen) sind weniger stark rückläufig, dennoch aber deutlich von zehn Prozent des BIP Anfang der 1970er-Jahre auf nur noch gut sechs Prozent zurückgegangen.[iii] Diese Trends haben sich in den letzten Jahren keineswegs umgekehrt, sondern bestätigt.

Zehn Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise ist es höchste Zeit, die Krisenbewältigungsstrategien grundsätzlich zu hinterfragen. Der Schlüssel zur Überwindung der fragilen Wirtschaftslage liegt nicht in der Geldpolitik und der Finanzwirtschaft. Mit Hilfe Letzterer mag man es zwar geschafft haben, die Probleme der werterzeugenden Wirtschaftsbereiche zu kompensieren. An den eigentlichen Ursachen der wirtschaftlichen Stagnation, die in der ungenügenden Wertschöpfung liegen, hat sich jedoch nichts geändert. Im Gegenteil: Der Trend niedriger Produktivitätsentwicklung setzt sich fort und wurde durch die Krisenintervention sogar noch verfestigt. In Anbetracht von fünf Billionen Euro, die bislang allein die Eurostaaten zur Krisenbewältigung mobilisieren mussten, sollten wir darüber nachdenken, ob und wie wir Geld in Zukunft einsetzen können, um eine dynamische Wirtschaft zu entwickeln, die Wohlstand für alle schafft, anstatt dem guten Geld immer mehr schlechtes hinterherzuwerfen.

Quellen:
[i] Gerald Braunberger: „Das Erbe der Finanzkrise“ in: FAZ, 28.7.17, S. 19.
[ii] Werner Plumpe: „Industrieland Deutschland 1945 bis 2008“ in: Hans Peter Schwarz (Hg.): „Die Bundesrepublik Deutschland – Eine Bilanz nach 60 Jahren“, Böhlau Köln, 2008, S. 384.
Statistisches Bundesamt: „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Arbeitsunterlage Investitionen, 1. Vierteljahr 2017“, Tab. 3: Investitionen nach Sektoren.
[iii] Statistisches Bundesamt: „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung – Fachserie 18 Reihe 1.5 – Inlandsproduktberechnung, Lange Reihen ab 1970“, Tabelle 3.9, eigene Berechnungen

Alexander Horn lebt und arbeitet als selbständiger Unternehmensberater in Frankfurt. Er ist Geschäftsführer des Novo Argumente Verlags und Novo-Redakteur mit dem Fokus auf wirtschaftspolitischen Fragen.

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Der Text erschien zuerst im Magazin Novo.

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Alexander Horn lebt und arbeitet als selbständiger Unternehmensberater in Frankfurt. Er ist Geschäftsführer des Novo Argumente Verlags und Novo-Redakteur mit dem Fokus auf wirtschaftspolitischen Fragen.

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