Wider die verhärteten Fronten bei TTIP!

“Ausländerfeindlichkeit gegen Flüchtlinge, Nationalismus in Europa, der drohende Brexit sowie eine weitverbreitete Grundstimmung gegen Freihandel spiegeln eine allgemeine tiefsitzende Verunsicherung angesichts zahlreicher komplexer gesellschaftlicher Herausforderungen und den Wunsch nach einfachen Lösungen wider”, schreibt Prof. Dr. Andreas Freytag. Er plädiert für sorgfältig abgewogene Argumente und dafür, Kritiker ernst zu nehmen. 

Am kommenden Sonntag, 24. April 2016, wird die Hannover Messe 2016 eröffnet – unter den Festrednern befindet sich ganz prominent Präsident Obama, denn die Vereinigten Staaten (USA) sind in diesem Jahr das Partnerland der Messe. Dies ist ein wichtiges Signal der Messe an die Deutschen, denn es ist vielen Menschen nicht klar, dass die USA der wichtigste Handelspartner der Bundesrepublik sind. Knappe zehn Prozent deutscher Exporte (über 113 Milliarden Euro) gingen 2015 in die USA, damit sind die USA noch vor Frankreich der wichtigste Exportmarkt für die deutschen Hersteller. Und knappe 5 Prozent (fast 60 Milliarden Euro) unserer Importe stammen aus den USA; das bedeutet Platz 4 der Importstatistik.

Obwohl es im Zuge der alles überschattenden Flüchtlingskrise der Europäischen Union (EU) etwas ruhiger um die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) geworden ist, ist die Opposition gegen TTIP immer noch enorm. In den Niederlanden werden im Moment Unterschriften für ein Referendum gegen TTIP gesammelt. Interessanterweise wird damit gedroht, dass es nur dann ein Referendum geben wird, wenn die Regierung dem noch auszuhandelnden Abkommen zustimmen sollte – eine Kampfansage an die indirekte Demokratie. Auch hierzulande bleibt der Ton aggressiv.

Beim Widerstand gegen TTIP fallen zwei Dinge auf. Erstens scheinen viele Gegner typische Vertreter der Mittelschicht zu sein. Ihre Jobs und die zukünftigen Arbeitsplätze ihrer Kinder hängen maßgeblich von einer funktionierenden und entsprechenden offenen Wirtschaft ab. Dass sie dies in ihrem Urteil nicht berücksichtigen, passt zweitens irgendwie verhängnisvoll in die Zeit: Ausländerfeindlichkeit gegen Flüchtlinge, Nationalismus in Europa, der drohende Brexit sowie eine weitverbreitete Grundstimmung gegen Freihandel spiegeln eine allgemeine tiefsitzende Verunsicherung angesichts zahlreicher komplexer gesellschaftlicher Herausforderungen und den Wunsch nach einfachen Lösungen wider und erinnern fatal an den Isolationismus der 1930er Jahre.

Deshalb sollten diejenigen, die den Abschluss von TTIP als ein – nicht: das – Mittel zur Aufrechterhaltung des Wohlstandes hierzulande betrachten, ihre eigenen Argumente sorgfältig bedenken und diejenigen der Kritiker ernst nehmen. Letzteres fällt vor allem dann schwer, wenn der Eindruck überwiegt, es gehe gar nicht mehr um das bessere Argument; siehe die Ankündigung in den Niederlanden. Dennoch lohnt es sich!

Worum geht es bei TTIP? Das geplante transatlantische Abkommen geht über ein reines Freihandelsabkommen hinaus, weil es auch Kooperationen bei Regulierungen und Investitionsschutzabkommen vorsieht. Seine globale Bedeutung erführe der transatlantische Wirtschaftsraum durch seine schiere Größe: Er würde rund 40 Prozent des Welt-BIP und ein Drittel des Welthandles umfassen.

Das Ziel der Vereinbarungen ist es erstens, eine Freihandelszone zu schaffen, was angesichts der Komplexität der Wertschöpfungsketten gar nicht einfach ist. Zölle abzubauen ist dabei der kleinste Schritt; der auch deshalb leicht fällt, weil die Durchschnittszölle in der EU und den Vereinigten Staaten ohnehin schon sehr niedrig sind. Deshalb liegt der Schwerpunkt auf dem Abbau sogenannter nicht-tarifärer Handelshemmnisse; darunter fallen Regulierungen, Subventionen, diskriminierende Regeln des öffentlichen Beschaffungswesens und Verwaltungsvorschriften, wettbewerbspolitisch motivierte Industriepolitik und ähnliches. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Standards, die nach Auffassung vieler Kritiker durch TTIP nach unten abgesenkt werden könnten. Dem ist in der Tat vorzubeugen.

Abgesehen davon, dass amerikanische Standards keineswegs flächendeckend unter den europäischen liegen, kann man das Problem lösen. Dabei sind grundsätzlich zwei Wege denkbar: Man kann jeweils einheitliche Standards für jedes Produkt und jede Dienstleistung wählen, das heißt eine ex-ante Harmonisierung vornehmen. Dies ist politisch schwierig und ökonomisch zweifelhaft, da man durch die Vorab-Festlegung auf einen Standard zukünftige Innovationen von vornherein ausschließt, zumindest wenn die Standardsetzung politisch abgestimmt wird. Deshalb wird vermutlich die zweite Option, die gegenseitige Anerkennung von Standards, die einzig realistische Möglichkeit sein. Dies macht auch deshalb Sinn, dass es bei vielen Produkten nicht nur jeweils einen europäischen und amerikanischen Standard gibt, sondern es bis zu 78 Standards geben kann. In der EU hat man mit der gegenseitigen Anerkennung (bekannt als Ursprungslandprinzip) recht gute Erfahrung gemacht. Für die Bereiche, in denen man sich nicht einigen kann (genmodifizierte Lebensmittel o.ä.) dürfte es eine Liste von Ausnahmen geben.

Es gibt in diesem Zusammenhang die berechtigte Sorge, dass die Standardsetzung bei TTIP zulasten dritter Länder gehen könnte, so auch bei der Deutschen Bischofskonferenz in ihrer abgewogenen Stellungnahme aus dem Herbst 2015. Deshalb schlagen viele Beobachter vor, dass die gegenseitige Anerkennung von Standards auf Drittländer, zumindest die Entwicklungsländer ausgedehnt wird; das heißt Anbieter aus Uganda können in die USA nach europäischen Standards und umgekehrt verkaufen. Dies erfordert recht großzügige Ursprungsregeln. Angesichts der immer stärkeren Aufspaltung der Wertschöpfungsketten machen zu enge Ursprungsregeln ohnehin wenig Sinn; ein deutsches Produkt stammt regelmäßig aus vielen Länder, so dass der Ursprung des Produkts weit gestreut ist.

Keineswegs jede Regulierung ist überdies ein Handelshemmnis; das sehen auch Deregulierungsbefürworter so. Deshalb soll zweitens die Zusammenarbeit bei zukünftigen Regulierungen vertieft werden, um möglichst abgestimmt zu handeln; im öffentlichen Bericht der Europäischen Kommission über die zwölfte Verhandlungsrunde aus dem März 2016 ist von regulatorischer Kohärenz die Rede. Dieser Teil der Verhandlungen erweckt besonderes Misstrauen, da die Gefahr besteht, dass organisierte Interessen dieses Feld insofern kapern, als dass sie bestimmte Regulierungen zu ihren Gunsten bestimmen (zum Beispiel Umweltschutz- oder Gesundheitsschutzbestimmungen). Hier ist in der Tat dafür Sorge zu tragen, dass der Prozess der regulatorischen Kohärenz transparent verläuft. Die Kommission drängt besonders darauf, dass das staatliche Beschaffungswesen der USA sich für europäische Unternehmen weiter öffnet.

Drittens geht es in den Verhandlungen um den Schutz von Investitionen. Grundsätzlich sollten für in- und ausländische Investitionen gleiche und faire Regeln gelten; dies ist leider nicht durchgängig Realität. Deshalb sehen sich viele Staaten – gerade in Europa – veranlasst, auf Investitionsschutzabkommen (IPA) mit anderen Staaten zu bestehen; insbesondere gilt dies bei Investitionen in Entwicklungsländern. Vor diesem Hintergrund muss dieser Teil der Verhandlungen gesehen werden.

Die existierenden Investitionsschutzabkommen sehen die Streitschlichtung zumeist nicht bei nationalen Gerichten im Zielland der Investitionen, sondern bei Schiedsstellen (zumeist bei der Weltbank oder der Internationalen Handelskammer) vor. Die jeweiligen Panel bestehen aus drei Richtern, die von jeweils einer Partei (dem Staat oder dem Investor) und der Schiedsstelle vorgeschlagen werden und deren Urteil bindend ist; eine Berufung ist nicht möglich. Es gibt bisher eine recht geringe, aber in den letzten Jahren zunehmende Anzahl solcher Verfahren. Genaue Zahlen liegen nicht vor, man kann von etwas über 500 Verfahren seit Abschluss des ersten IPAs in den späten 1950ern ausgehen. Die meisten Kläger kamen aus Europa, und die Ergebnisse sind gemischt in dem Sinne, dass Investoren und Staaten unter den Gewinnern waren, mit leichten Vorteilen für Investoren.

An diesem Prozedere stören sich viele Beobachter, zumal der Eindruck entstanden ist, dass sich gerade jüngst eine „Schiedsgericht-Industrie“ herausgebildet hat und viele Unternehmen damit begonnen haben, Töchter im Ausland zu gründen, um gezielt gegen Regierungen, darunter die eigene, zu klagen. Viele Indizien sprechen dafür, dass dieses Verfahren grundsätzlich nicht zeitgemäß ist und einer Reform bedarf. Die Europäische Kommission hat bereits einen alternativen Vorsachlag für TTIP unterbreitet, der einen mehrstufigen Prozess mit Mediationsverfahren und einer zweistufigen Gerichtsbarkeit (Tribunal Court und Appeal Court) vorsieht. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Besser noch wäre es allerdings, die Verfahren weltweit zu vereinheitlichen und – zum Beispiel unter dem Dach der Welthandelsorganisation (WTO) – eine multilaterale Investitionsstreitbeilegungsinstitution zu gründen; z.B. nach dem Vorbild des sehr erfolgreichen Streitschlichtungsverfahrens in Fragen der Handelspolitik. Dann gäbe es nur eine Regel, die dann von TTIP vorgegeben werden könnte.

Ein abschließendes Wort sei zu den möglichen Wirkungen transatlantischer Integration erlaubt. Die vorliegenden ökonometrischen Schätzungen der Effekte von TTIP auf Außenhandel, Beschäftigung und Wohlstand zeigen bis auf wenigen Ausnahmen, deren Methode der Öffentlichkeit aber nicht zur Verfügung gestellt wurde, durchgängig einen leichten Anstieg des Handels und der Beschäftigung beiderseits des Atlantiks. Für Drittstaaten ist der Effekt – wie bei jeder regionalen Integrationsmaßnahme – nicht klar; er hängt von der detaillierten Ausgestaltung ab.

Bedeutsamer als die rein wirtschaftlichen Effekte sind die politischen Signale. TTIP kann, sofern entsprechend ausgestaltet, einen Schub der weltweiten Integration schaffen. Es kann den „Goldstandard“ des Investitionsschutzes schaffen und dafür sorgen, dass europäische und amerikanische Produktstandards auch in Entwicklungsländern angewendet werden. Von der anderen Seite betrachtet, kann ein Scheitern von TTIP dazu führen, dass die weltweit vorherrschenden Standards zukünftig in Asien festgelegt werden und die Europäische Union in die Außenseiterrolle gedrängt wird. Das kann niemand, der an einer gedeihlichen Zukunft des Kontinents interessiert ist, wollen. Das macht Kritik nicht überflüssig, spricht aber gegen Fundamentalopposition einerseits und gegen Überhöhung und Vereinfachung andererseits.

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Autor:

Prof. Dr. Andreas Freytag ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist zudem als Honoraprofessor an der Universität Stellenbosch und am Institute for international Trade der Universität Adelaide tätig. Neben den Fragen zur deutschen und europäischen Wirtschaftspolitik interessieren ihn außenwirtschaftliche und entwicklungspolitische Themen.

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