Wettbewerb ist nicht gleich Kapitalismus
Wettbewerbslösungen werden in Deutschland oft kritisch beäugt. Sei es im Gesundheitswesen oder bei Themen wie Nachhaltigkeit und Umweltschutz, dem Wettbewerb wird oft nicht zugetraut, Leistungen für die Allgemeinheit zu erbringen. Dabei werden im selben Atemzug oft Kritik an Wettbewerb, Ökonomisierung, Kommerzialisierung oder Vermarktung gleichzeitig vorgebracht. Meine These ist aber: Wettbewerb ist ein viel allgemeineres, fundamentales Prinzip menschlichen Zusammenlebens als Ökonomie oder Markt im engeren Sinn. Denn Wettbewerbskonzepte gibt es viele: Dazu zählen neben dem Wettbewerb auf klassischen Märkten etwa auch Wettbewerb im Sport, in Wissenschaft und Kunst, in früheren Zeiten der sogenannte ritterliche Wettbewerb mit Turnieren und ähnlichem bis hin zu jenem hochkompetitiven System, das das chinesische Kaiserreich einst zur Auswahl seiner Beamten installierte. Wettbewerb gibt es in sehr unterschiedlichen Ausgestaltungen. Und dabei werden oft die im engeren Sinne wirtschaftlichen Märkte oder Finanzmärkte gar nicht berührt. Interessanterweise sind die zahlreichen Kritiker des Marktes, die Kapitalismuskritiker, nicht automatisch auch Kritiker des Wettbewerbs: Der britische Wirtschaftsminister Vince Cable der liberaldemokratischen Partei, der selbst oft genug Kritik an Unternehmen übt, sagte 2010: Der Kapitalismus mache keine Gefangenen und töte den Wettbewerb, wo er könne. Im Gegensatz zu manchen anderen versteht er zwischen Kapitalismus und Wettbewerb zu differenzieren. Wenn man genauer hinsieht, kann man diese Argumentation in vielen marktkritischen Schriften finden, angefangen bei Karl Marx: Marx sieht den Wettbewerb als ein Prinzip ein, das auch im Sozialismus seinen Platz haben sollte. Weiter ausgeführt hat dies Lenin im Jahre 1917, als er in einer Rede schrieb, der Sozialismus wolle den Wettbewerb erst richtig in Gang bringen. Der Sozialismus würde nämlich Monopole und Oligopole abschaffen, die nach Ansicht Lenins den Kapitalismus ausmachen. Und selbst bei einem aktuellen Kritiker wie Stéphane Hessel („Empört euch!“, 2010) finden sich Aussagen darüber, dass die individuelle Freiheit und die „kreative Konkurrenz“ der Individuen vergrößert und verbessert werden sollten. Das zeigt, dass Marktkritiker von ihren eigenen Anhängern zumindest gelegentlich missverstanden werden: Gegen Wettbewerb sind viele nicht grundsätzlich. Manche Probleme liegen im Begriff: Ich unterscheide daher grundlegend „Wettbewerb“ von „Wettkampf“. Wettkampf läuft weitgehend ungeregelt ab, zum Wettbewerb gehören dagegen immer die Regeln. Ohne diese bleibt der Wettbewerb nicht erhalten, sondern fällt zurück in ein Stadium der Monopole und Oligopole. Diese Rolle des Wettbewerbs ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine ethische: Der Wettbewerb erbringt in ethischer Hinsicht massive Leistungen. Diese sind jedoch nicht in erster Linie beim Individuum, in der individuellen Motivation, Gesinnung oder Präferenz zu suchen, sondern auf der Ebene des Systems: In der modernen Gesellschaft verbessern Systeme massiv das Leben der Einzelnen. Seit etwa 200 Jahren verfügen die klassischen Industrieländer über ein durch alle Krisen hinweg stabiles durchschnittliches Einkommenswachstum von 1,5 Prozent. Das klingt zwar zunächst nach nicht viel, ist aber über 200 Jahre hinweg historisch völlig ohne Beispiel. Und auch heute profitieren etwa viele ehemalige Entwicklungs- und Schwellenländer (etwa Südkorea, Taiwan, Brasilien, mittlerweile auch afrikanische Staaten wie Angola oder Mosambik) davon, sich in stärkerem Maße als früher dem Wettbewerb – kontrolliert und im Rahmen von Regeln – geöffnet zu haben. Wettbewerb ist kein Nullsummenspiel, aber das Nullsummendenken ist im Alltagsdenken vieler tief verankert: Sie sehen das Leben als Wippe, bei der einer notwendig am Boden liegt, wenn es dem anderen gut geht. Wir leben aber in der Moderne nicht mehr auf einer Wippe oder in einem Nullsummenspiel, sondern wir alle haben Vorteile vom System Wettbewerb. Einige große Philosophen haben die positive Rolle des Wettbewerbs erkannt. So schrieb etwa Bertrand Russell 1949: „Ich glaube nicht, dass normale Menschen ohne Wettbewerb glücklich sein können, denn der Wettbewerb ist schon seit Anbeginn der Menschheit der Ansporn für sehr bedeutende Aktivitäten gewesen. Wir sollten deswegen nicht versuchen, den Wettbewerb abzuschaffen, sondern uns nur darum kümmern, dass er nicht zu sehr schädigende Formen annimmt.“ John Rawls äußert ähnlich, dass die „… auf Eigentum beruhende Demokratie mit ihrem System von (funktionierenden) wettbewerblichen Märkten versucht, den Besitz an Reichtum und Kapital zu zerstreuen, und damit zu verhindern, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft die Ökonomie und indirekt auch das politische Leben selbst kontrolliert.“ Kurz: Wettbewerb dient allen – und er sollte nicht schlechtgeredet werden.
Eine ausführliche Analyse liefert das aktuell erschienene Buch “Ethik des Wettbewerbs: Über Konkurrenz und Moral” von Prof. Christoph Lütge.
Autor:
Prof. Dr. Christoph Lütge ist Lehrstuhlinhaber des Peter Löscher-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik an der TU München und twittert unter @chluetge