Welche Rentenpolitik bringt Wählerstimmen?

Wie ticken die Deutschen beim Thema “Rente”? Welche Politik wird vom Wähler durch höhere Zustimmung zu einer Partei honoriert? Was wird dagegen von Wählern merhheitlich abgelehnt? Der renommierte Parteienforscher Oskar Niedermayer hat sich den INSM-Rentenmonitor genau angeschaut und die Ergebnisse im folgenden Kurzgutachten “Parteipolitik, Bevölkerungseinstellungen und Wahlverhalten am Beispiel des Rentenbereichs” (.PDF) eingeordnet.

Im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen drei Fragekomplexe:

  1. Besteht in den Grundfragen dieses Politikbereichs eher Konsens oder Konflikt zwischen den Akteuren?
  2. Wird die Problemwahrnehmung und das Verständnis grundlegender Zusammenhänge der durch die ökonomischen und demografischen Rahmenbedingungen geprägten Problemlage gerecht?
  3. Zeigt die durch die Große Koalition seit 2013 betriebene Sozialstaatsexpansion – nicht nur – im Rentenbereich den beabsichtigten Effekt auf das Wettbewerbsergebnis in Form steigender Wahl- beziehungsweise Umfrageergebnisse?

Konsens oder Konflikt in den Grundfragen der Rentenpolitik

Historisch gesehen, war die Errichtung des Sozialstaates seit dem späten 19. Jahrhundert eine wesentliche Streitfrage im Rahmen der gesellschaftlichen und parteipolitischen Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital, dem sogenannten Klassenkonflikt. Diese Konfliktlinie hat sich mit der Zeit von ihrer sozialstrukturellen Verankerung etwas gelöst und in einen Wertekonflikt um die Rolle des Staates im ökonomischen Wettbewerb transformiert.

Dabei geht es um die Grundwerte soziale Gerechtigkeit im Sinne staatlicher Interventionen zugunsten von mehr Ergebnisgleichheit und Bedarfsgerechtigkeit auf der einen und Marktfreiheit gepaart mit Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit auf der anderen Seite.

Im Parteiensystem bilden die Linkspartei auf der linken, staatsinterventionistischen und die FDP auf der rechten, marktliberalen Seite die beiden Polparteien dieser Konfliktlinie. Die SPD ist auf der staatsinterventionistischen Seite positioniert. Das gilt, auch wenn sie sich in neuester Zeit als nach beiden Seiten anschlussfähige Scharnierpartei im Parteiensystem präsentieren, programmatisch eindeutig auch für die Grünen. Die CDU/CSU ist – trotz der unter dem Parteivorsitz von Angela Merkel erfolgten „Sozialdemokratisierung“ der CDU – noch immer eher der marktliberalen Seite zuzuordnen. Die AfD war in der ersten Phase nach ihrer Gründung unter dem Vorsitz von Bernd Lucke eine sehr stark marktliberale Partei, hat jedoch in neuerer Zeit eine Positionsver­schiebung in Richtung einer staatsinterventionistisch-sozialeren Ausrichtung vollzogen, wobei die Frage, wie weit diese Positionsänderung gehen soll, innerparteilich gerade in der Rentenpolitik noch so stark umstritten ist, dass ein für dieses Frühjahr geplanter Rentenparteitag auf die Zeit nach den ostdeutschen Landtagswahlen verschoben wurde.

Konflikte über die Rolle des Staates im ökonomischen Wettbewerb können zwei Dimensionen betreffen: (1) die Grundfragen der Extensität, das heißt der staatlichen Verantwortung für diesen Bereich, und (2) die spezifischen Fragen der Intensität, das heißt des Ausmaßes der durch staatliche Interventionen erfolgenden Verhaltensregulierung und Umverteilung von Gütern. Im Rentenbereich sind die inhaltlichen Konflikte zwischen den Parteien primär auf die Intensitätsdimension bezogen, drehen sich also zum Beispiel um Fragen der Rentenhöhe, des Rentenniveaus, des Renteneintrittsalters und der Anspruchsvoraussetzungen. Bezüglich der Extensität ist der Konflikt in der Weise begrenzt, dass keine Partei die Legitimation staatlicher Regelungskompetenz im Rentenbereich grundsätzlich in Frage stellt, was ja auch den Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft entspricht. In diesem Bereich differiert zwischen den Parteien vor allem die Gewichtung der staatlichen Verantwortung auf der einen und der Eigenverantwortung der Bürger auf der anderen Seite.

Die Daten des Rentenmonitors der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft[i] spiegeln dies sowohl für die Gesamtheit der Befragten als auch für die einzelne Parteianhängerschaften durchaus wider: Gefragt wurden die Bürger, ob es ihrer Meinung nach in der Verantwortung des Staates oder jedes einzelnen Bürgers liegt, ausreichend für das Alter vorzusorgen, wobei sie zwischen eindeutig bzw. eher Verantwortung des Staates, beide gleich und eher bzw. eindeutig Verantwortung der Bürger wählen konnten (siehe Grafik unten). Die Antworten zeigen, dass es einen weitgehenden Konsens darüber gibt, dem Staat zumindest eine Mitverantwortung für die Altersvorsorge zuzuweisen: 80 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, nur 19 Prozent sehen die Verantwortung eher beziehungsweise eindeutig bei den Bürgern.

Die Aufgliederung nach Bundestagswahlabsicht (siehe Grafik unten) macht zum einen deutlich, dass eine große Mehrheit aller Parteianhänger der staatlichen (Mit-)Verantwortung zustimmt, zum anderen zeigen sich im Ausmaß der Zustimmung die nach der Positionierung der einzelnen Parteien zu erwartenden Unterschiede: Bei den Anhängern der staatsinterventionistischen Parteien ist die Zustimmung deutlich größer als bei den Anhängern der marktliberalen Parteien, und die größte Differenz besteht zwischen den Unterstützern der beiden Polparteien: die Anhänger der Linkspartei stimmen der staatlichen (Mit-)Verantwortung zu 93 Prozent zu, die der FDP nur zu 66 Prozent. Betrachtet man nur die beiden Extrempositionen, so ist ein Drittel der Linkspartei-Anhänger der Auffassung, dass die Altersvorsorge eindeutig in der Verantwortung des Staates liegt, während nur 7 Prozent der FDP-Anhänger dieser Auffassung sind und 18 Prozent die Verantwortung eindeutig bei den Bürger sehen, was nur 3 Prozent der Linken-Anhänger teilen. Interessant ist, dass die Zustimmung zur eindeutigen Eigenverantwortung der Bürger bei den AfD-Anhängern mit 18 Prozent ebenso hoch ist wie bei den FDP-Anhängern, aber auch die entgegengesetzte Haltung der eindeutigen Staatsverantwortung mit 22 Prozent nach den Linkspartei-Anhängern die zweithöchste Zustimmung findet. Dies macht deutlich, dass sich die parteiinterne Spaltung zwischen Marktliberalen und Anhängern einer zum großen Teil staatsfinanzierten Altersvorsorge auch bei ihren Anhängern wiederfindet.

Problemwahrnehmung und Verständnis grundlegender Zusammenhänge

Ein Blick in die geschichtliche Entwicklung des Sozialstaates mit seinen vier Phasen zeigt, dass die politischen (Regierungs-)Entscheidungen in diesem Bereich nicht nur von den unterschiedlichen Positionen der Parteien, sondern sehr stark auch von den jeweiligen ökonomischen und demografischen Rahmenbedingungen des politischen Wettbewerbs geprägt waren.

In der ersten Phase – der Sozialstaatsausweitung in den 1950er und 1960er Jahren – wurden die Rentner vor allem durch die Rentenreform von 1957 an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung („Wirtschaftswunder“) beteiligt.

In der zweiten Phase – der Konsolidierungsphase bis zur deutschen Vereinigung – dominierte eine zunächst durch die Wirtschaftskrise 1974/1975 und immer stärkere Finanzierungsprobleme ausgelöste restriktivere Sozialpolitik mit moderaten Kürzungen. Ende der 1980er Jahre gerieten dann der tiefgreifende Wandel zweier Rahmenbedingungen des politischen Wettbewerbs, die mit den Stichworten Globalisierung und demografischer Wandel umschrieben werden können, immer mehr in das Blickfeld der kontroversen Debatten über den Umbau und die Reform der sozialen Sicherungssysteme.

In der dritten Phase von 1990 bis Ende der 2000er Jahre kamen zu den strukturellen Problemen die finanziellen Herausforderungen der deutschen Einheit und 2008 die Finanz- und Schuldenkrise hinzu. Die Rentengesetzgebung dieser Phase war durch Einspar- und Umstrukturierungsmaßnahmen geprägt (Bindung der Rentenanpassung an die Nettolohnentwicklung, demografischer bzw. Nachhaltigkeitsfaktor, Riester-Rente, Rentenversteuerung, Rente mit 67).

Die vierte Phase beginnt mit der zweiten Großen Koalition ab 2013 und ist durch eine erneute deutliche Ausweitung des Sozialstaates, gerade auch in der Rentenpolitik, gekennzeichnet (Mütterrente I und II, Rente mit 63, doppelte Haltelinie beim Rentenniveau und Beitragssatz, Grundrente).

Es drängt sich der Eindruck auf, dass auf dem Hintergrund einer positiven ökonomischen Entwicklung mit sinkender Arbeitslosigkeit, Erhöhung des BIP und steigenden Steuereinnahmen die vor allem durch die demografische Entwicklung bestehenden Zukunftsprobleme der Alterssicherung bei den Regierungsparteien zu sehr aus dem Blick geraten sind. Diese Veränderung der Problemwahrnehmung ist umso problematischer, als sich zum einen das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenempfängern schon in naher Zukunft – vor allem durch den baldigen Renteneintritt der geburtenstarken „Babyboomer“-Generation von 1955 bis 1970 – deutlich verändern wird und sich zum anderen die Finanzierungsprobleme durch die seit dem Herbst 2015 dramatisch gestiegene Zahl der Asylsuchenden und die durch die neueste Steuerschätzung bestätigte Konjunktureintrübung verschärfen.

Wie die Problemwahrnehmung und das Verständnis grundlegender Zusammenhänge im Rentenbereich bei der Gesamtbevölkerung und den verschiedenen Parteianhängerschaften ausgeprägt sind, soll nun am Beispiel der Generationengerechtigkeit und ihrer Implikationen für das Renteneintrittsalter analysiert werden. Der Generationengerechtigkeit wird in der Bevölkerung generell eine hohe Bedeutung zugemessen. Dies zeigen im Rentenmonitor die Antworten auf die Frage, ob bei jedem neuen Gesetz zwingend geprüft werden sollte, welche Kosten es für künftige Generationen verursacht: Drei Viertel stimmten dem zu und nur ein Siebtel lehnte dies ab.

Zwischen den verschiedenen Parteianhängerschaften gab es in dieser Frage keine wesentlichen Unterschiede. Zudem waren 63 Prozent der Gesamtheit der Befragten und zwischen 61 (Union, SPD) und 77 (Grüne) Prozent der Parteianhängerschaften der Meinung, man sollte sogar noch weiter gehen und Generationengerechtigkeit in dem Sinne, dass die Politik keine Kosten auf künftige Generationen übertragen darf, auch im Grundgesetz verankern. Nur ein Fünftel lehnte dies ab (siehe Grafik unten).

In einem spezifischen Aspekt der Altersversorgung, dem Renteneintrittsalter, lässt sich allerdings eine deutliche Diskrepanz zwischen der allgemeinen Befürwortung der Generationen­ge­rech­tigkeit und der Akzeptanz ihrer Implikationen feststellen. In einer alternden Gesellschaft mit steigender Lebenserwartung ergibt sich aus dem Grundsatz der Generationengerechtigkeit als rein logische Konsequenz die Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung, um für die einzelnen Generationen die Relation zwischen der Dauer des Erwerbslebens und der Dauer des Rentenbezugs in etwa konstant zu halten. Das 2007 beschlossene Altersgrenzenanpassungsgesetz soll daher durch die 2012 begonnene schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze auf das 67. Lebensjahr eine generationengerechte Alterssicherung sicherstellen. Allerdings wurde dieses Prinzip 2014 durch die Einführung der „Rente mit 63“ für besonders langjährig Versicherte wieder durchbrochen.

Trotz der sehr stark ausgeprägten generellen Befürwortung der Generationengerechtigkeit finden es allerdings knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung und zwei Drittel der Anhänger der Linkspartei nicht angemessen, dass das gesetzliche Renteneintrittsalter steigt, wenn die Menschen immer länger leben (siehe Grafik unten).

Für drei Fünftel der Bevölkerung ist zudem das geltende gesetzliche Renteneintrittsalter von 67 Jahren ab 2030 zu hoch. Unter den Anhängern der staatsinterventionistischen Parteien sowie der AfD ist jeweils die absolute Mehrheit, bei den Anhängern der marktliberalen Parteien die relative Mehrheit der Befragten dieser Ansicht. Die größten Unterschiede bestehen wiederum zwischen den Anhängern der beiden Polparteien (FDP-Anhänger 46, Linkspartei-Anhänger 77 Prozent) (siehe Grafiken unten).

Fast ein Viertel der Bevölkerung ist sogar dafür, das gesetzliche Renteneintrittsalter ab 2040 auf weniger als 65 Jahre abzusenken (siehe Grafiken unten). Die Anhänger der Linkspartei befürworten eine solche Absenkung sogar zu gut 40 Prozent, die der AfD zu 36 Prozent.

Stellt man diese Ergebnisse der Tatsache gegenüber, dass die neue Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Auffangen der Negativfolgen der demografischen Alterung für die soziale Sicherung und zur Abwendung eines massiven Verteilungskonflikts zwischen Jung und Alt einen Maßnahmen-Mix für notwendig hält, in dem die Steigerung der Regelaltersgrenze bis 2060 auf 70 Jahre enthalten ist, dann wird deutlich, welche mittel- und längerfristigen Schwierigkeiten den Parteien durch eine expansive Rentenpolitik drohen, die die massiven Folgen der Veränderung der ökonomischen und demografischen Rahmenbedingungen für den Sozialstaat verschleiert statt sie offen anzusprechen und in der Bevölkerung die Akzeptanz für notwendige Reformmaßnahmen zu stärken.

Sozialstaatsexpansion und Wettbewerbsergebnisse

Wenn die expansive Rentenpolitik der Regierungsparteien ihnen mittel- und langfristig große Probleme bereiten wird, hat sie ihnen dann wenigstens einen kurzfristigen politischen Ertrag in Form steigender Wahl- beziehungsweise Umfrageergebnisse gebracht? Diese Frage soll im Folgenden analysiert werden.

Die neue Phase der Sozialstaatsexpansion wurde im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2013 eingeleitet, wo die „Mütterrente“ (Union) und die „Rente ab 63“ (SPD) wichtige Wahlkampfthemen waren. Das schien auch besonders erfolgversprechend, da knapp ein Drittel der Wählerschaft 60 Jahre und älter war, diese Gruppe traditionell die höchste Wahlbeteiligung aufwies und die beiden Volksparteien von dieser Gruppe weit überdurchschnittlich gewählt wurden.

Das Ergebnis war jedoch ernüchternd: Die Union legte bei dieser Wahl insgesamt sehr stark zu, verbuchte bei den Älteren aber keinen überdurchschnittlichen Zuwachs, und die SPD, die gegenüber 2009 insgesamt um 3 Prozentpunkte besser abschnitt, konnte bei den Älteren keinerlei Zuwächse erzielen.[ii] Als das im Koalitionsvertrag vereinbarte Rentenpaket mit den Leistungsverbesserungen Ende Mai 2014 kurz vor der Europawahl vom Bundestag beschlossen wurde, half dies den beiden Parteien in den Umfragen nicht.[iii] Auch im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 wurde das Rententhema von den Parteien aufgegriffen und diskutiert. Insbesondere die SPD versprach, die Rente stabiler und das System gerechter machen zu wollen. Diesmal war es sogar kurz vor der Wahl für die Bürger das zweitwichtigste Problem im Land.

Insgesamt verlor die Union drastisch und auch die SPD musste deutliche Verluste hinnehmen, wobei sich die Verluste bei den Älteren für die Union im Rahmen des Gesamtdurchschnitts hielten und bei der SPD nur leicht unter dem Durchschnitt lagen.[iv]

Auch nach der Wahl blieb das Rententhema in der Regel für die Bevölkerung das zweitwichtigste Problem des Landes mit dem Höhepunkt in der Woche der Verabschiedung des von der Großen Koalition vereinbarten Rentenpakets mit der „doppelten Haltelinie“ beim Rentenniveau und den Beitragssätzen sowie der „Mütterrente II“ Ende August 2018 im Kabinett. Auf die Umfragewerte der Union und der SPD hatte dies jedoch keinerlei Auswirkungen.[v] Die expansive Rentenpolitik seit 2013 hat den Regierungsparteien also keinen politischen Ertrag in Form von höheren Wahlergebnissen oder Umfragewerten gebracht.

Dies gilt auch für das Anfang Februar vorgestellte SPD-Konzept der „Respektrente“. Schon die in der gefundenen Bezeichnung anklingende Begründung und mehr noch die Tatsache, dass die SPD mit diesem Konzept weit über die im Koalitionsvertrag schon vereinbarte Grundrente hinausging und damit einen Konflikt mit dem Koalitionspartner provozierte, lässt den Schluss zu, dass es der SPD dabei primär nicht um eine schnell zu realisierende, zielgenaue und effiziente Bekämpfung von Altersarmut geht. Die Zielrichtung ist eher, durch eine Sozialleistungsausweitung für geschätzt 3 bis 4 Millionen Personen einen Weg aus dem Umfragetief zu finden und durch die Tatsache, dass von der Rentenerhöhung vor allem ostdeutsche Rentner profitieren würden, die Wahlchancen der Partei bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst zu erhöhen.

Die bundesweiten Umfragen direkt nach der Vorstellung des Konzepts zeigten jedoch – je nach Umfrageinstitut – eine Stagnation oder eine nur geringfügige Erhöhung der vorher sehr niedrigen SPD-Werte um 1-2 Prozentpunkte.[vi] Zudem sind die Umfragewerte der SPD in den drei ostdeutschen Ländern mit baldigen Wahlen in der ersten Umfrage nach der Vorstellung des Konzepts im Vergleich zur letzten Umfrage vor der Vorstellung nicht gestiegen, sondern gesunken.[vii] Für das Ausbleiben der gewünschten Wirkung auf die Wählerunterstützung gibt es mehrere Gründe:

(1) Das Konzept schafft neue soziale Ungerechtigkeiten, die den Wählern nicht verborgen geblieben sind: Die Anspruchsgrenze von 35 Versicherungsjahren führt zu zwei extrem unterschiedlich behandelten Gruppen: die eine kommt voll in den Genuss der Leistungsausweitung, die andere geht völlig leer aus. Durch den Verzicht auf jegliche Bedürftigkeitsprüfung kommt die „Respekt-Rente“ auch einer großen Zahl von Rentnern zugute, die – selbst oder durch den Lebenspartner – ausreichend oder sogar sehr gut abgesichert sind. Vor allem aber ist die durch das Konzept erfolgende Aushebelung des Leistungs- und Äquivalenzprinzips in der Rentenversicherung mit dem Gerechtigkeitsempfinden des größten Teils der Bevölkerung nicht vereinbar. Auf die Frage im Rentenmonitor der INSM, ob Menschen, die in ihrem Leben mehr Rentenbeiträge gezahlt haben, höhere Renten erhalten sollen als solche, die weniger eingezahlt haben, antworteten 84 Prozent der Befragten mit ja und nur 9 Prozent mit nein (siehe Grafik unten). Diese Art der Interpretation von „Respekt“ durch die Anerkennung der Lebensleistung wird über alle Parteianhänger­schaften hinweg von mindestens zwei Dritteln (Linkspartei) bis hin zu über 90 Prozent (Unions und FDP) befürwortet. Selbst die SPD-Anhänger sind zu 81 Prozent dieser Auffassung.

(2) Die SPD vernachlässigt einmal mehr die Interessen derjenigen, die dem Aufstiegsversprechen der Partei geglaubt und sich hochgearbeitet haben und jetzt zur so gerne beschwörten „arbeitenden Mitte“ gehören. Anfangs wurde zur Finanzierung des Konzepts eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes vorgeschlagen, damit – Zitat Generalsekretär Klingbeil – „auch Superreiche“ für den Erhalt des Sozialstaates zur Verantwortung gezogen werden. Allerdings zahlen heutzutage aufgrund der gestiegenen Einkommen mehr als 4 Millionen Steuerzahler den Spitzengrenzsteuersatz. Das sind zum größeren Teil keine Superreichen, sondern gutverdienende Facharbeiter sowie Angestellte und Beamte der Mittelschicht, deren Stimmen die SPD auch braucht, um aus dem Umfragetief herauszukommen. Selbst wenn die Steuererhöhung nicht kommt, weil nach den neuesten Plänen ein Teil der Kosten aus den Sozialkassen finanziert werden soll, bleibt die Tatsache bestehen, dass diese Schicht schon seit längerer Zeit unter der zweithöchsten Steuer- und Abgabenquote aller Industriestaaten leidet.

(3) Das Grundrentenkonzept hat nicht dazu geführt, das Vertrauen der Wähler in die Kompetenz der SPD zur langfristigen Sicherung der Altersversorgung zu stärken, im Gegenteil: Im Februar 2019 trauten nur noch 22 Prozent der Bürger der SPD dies am ehesten zu, im September 2018 waren es noch 32 Prozent gewesen. Die Werte der Union sind allerdings mit 23 Prozent auch nicht besser und 40 Prozent der Befragten trauten überhaupt keiner Partei zu, die Altersversorgung nachhaltig zu sichern. Dies ist der höchste Wert seit mehr als zehn Jahren und sollte als deutliches Alarmzeichen verstanden werden.[viii]

(4) Für die Wählerunterstützung der Parteien ist generell nicht nur ihre Positionierung auf der ökonomischen, sondern auch auf der sich um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens drehenden gesellschaftspolitischen Konfliktlinie relevant. Hier stehen linksliberale, multikulturell und international orientierte Wertvorstellungen auf der einen und konservative bis autoritäre, die nationale Identität und Kultur betonende Werte auf der anderen Seite. Wurde der politische Wettbewerb jahrzehntelang primär auf der ökonomischen Konfliktlinie entschieden, so hat sich dies mit dem als Flüchtlingskrise bezeichneten dramatischen Ansteigen der Zahl von Asylsuchenden seit dem Herbst 2015 gewandelt. Die Flüchtlingsfrage war 2017 für die Bevölkerung zwar nicht mehr wie 2015/16 das einzig wichtige aber immer noch das wichtigste politische Thema, hatte bei der Bundestagswahl einen großen Einfluss auf das Wahlverhalten und blieb auch nach der Wahl bis Ende April diesen Jahres – mit deutlich abnehmender Tendenz – für die Deutschen bundesweit das relevanteste Problem des Landes.[ix] Laut einer Civey-Umfrage vom März/April 2019 war das Flüchtlingsproblem zudem in zwei der drei ostdeutschen Bundesländer mit Landtagswahlen für die Bevölkerung das für ihre Wahlentscheidung wichtigste Thema und in keinem der drei Länder findet sich das Thema Rente unter den drei wichtigsten Themen.[x] Die starke gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung in dieser Frage ist auch für die SPD ein Problem, das ihre Wählerunterstützung beeinflusst, da vielen akademisch gebildeten, linksliberal und kosmopolitisch denkenden Angehörigen der Parteiführungsschicht die durch eine Reihe von Umfragen belegten ökonomischen und sozio-kulturellen Ängste und Sorgen der Mehrheit gerade ihrer Kernwählerschaft relativ fremd erscheinen, weil sie in einer anderen Lebenswelt zu Hause sind.

(5) Nur ein Teil der Bevölkerung richtet sein Wahlverhalten beziehungsweise seine Wahlabsicht in Umfragen nach der Positionierung der Parteien zu relevanten inhaltlichen Sachthemen aus. Andere haben eine feste, langfristige Parteibindung und für einen nicht unbeträchtlichen Teil spielt die Beurteilung des Spitzenpersonals die entscheidende Rolle. Dies macht der SPD zu schaffen, da sie mit ihrem personellen Angebot schon viele Jahre ein Problem hat, das in neuester Zeit angesichts der kontinuierlich negativen Bewertung der Partei- und Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles durch die Bevölkerung[xi] eher größer geworden ist.

Abschließend lässt sich aufgrund der Analyseergebnisse schlussfolgern: Da die expansive Rentenpolitik der Regierungsparteien angesichts der demografischen Rahmenbedingungen mittel- und langfristig zu großen Problemen für den deutschen Sozialstaat führt und den Parteien keinen kurzfristigen politischen Ertrag bringt, wäre ihnen zu raten, die eintretende Verschlechterung der ökonomischen Rahmenbedingungen zum Nachdenken über eine neue Prioritätensetzung zu nutzen.

Zusammenfassung

Das Kurzgutachten analysiert drei zentrale Aspekte des Beziehungsgeflechts zwischen Parteipolitik, Bevölkerungseinstellungen und Wahlverhalten im Bereich des Politikfelds Rente. Es zeigt erstens auf, dass – auf der Basis eines Grundkonsenses über die Legitimation staatlicher Regelungskompetenz im Rentenbereich – die Parteien und ihre Anhängerschaften sich in der Gewichtung von staatlicher Verantwortung und Eigenverantwortung der Bürger deutlich unterscheiden. Die Unterschiede folgen dabei dem generellen Muster des Wertekonflikts um die Rolle des Staates im ökonomischen Wettbewerb zwischen den Grundwerten soziale Gerechtigkeit im Sinne staatlicher Interventionen zugunsten von mehr Ergebnisgleichheit und Bedarfsgerechtigkeit auf der einen und Marktfreiheit gepaart mit Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit auf der anderen Seite. Zweitens wird am Beispiel der großen Diskrepanz zwischen der allgemeinen Befürwortung der Generationengerechtigkeit und der Akzeptanz ihrer Implikationen für das Renteneintrittsalter verdeutlicht, dass in der Bevölkerung und gerade auch bei den Anhängern der staatsinterventionistischen Parteien die Problemwahrnehmung und das Verständnis grundlegender Zusammenhänge der durch die ökonomischen und demografischen Rahmenbedingungen geprägten Problemlage noch nicht wirklich gerecht wird. Drittens wird gezeigt, dass und aus welchen Gründen die durch die Große Koalition seit 2013 betriebene expansive Rentenpolitik den beabsichtigten politischen Ertrag in Form von höheren Wahlergebnissen oder Umfragewerten nicht erbracht hat.

Weiterführende Literatur

Eichenhofer, E.; Rische, H.; Schmähl, W. (Hrsg.) (2012): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, 2. Aufl., Köln.

Kerschbaumer, J.; Schroeder, W. (Hrsg.) (2005): Sozialstaat und demographischer Wandel. Herausforderungen für Arbeitsmarkt und Sozialversicherung, Wiesbaden.

Niedermayer, O: (2018): Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems. Zur Bedeutung kurzfristiger Faktoren im Jahrzehnt des europäischen Wandels, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 49, H. 2, S. 286-303.

Pilz, F. (2004): Der Sozialstaat. Ausbau − Kontroversen − Umbau, Bonn.

Roller, E. (2015): „Welfare State and Political Culture in Unified Germany“, in: German Politics, 24, S. 292-316.

Roller, E. (2016): „Sozialstaatsvorstellungen im Wandel? Stabilität, Anpassungsprozesse und Anspruchszunahme zwischen 1976 und 2010“, in: Sigrid Roßteutscher, Thorsten Faas und Ulrich Rosar (Hrsg.), Bürger und Wähler im Wandel der Zeit. 25 Jahre Wahl- und Einstellungsforschung in Deutschland, Wiesbaden, S. 209-249.

[i] Verwendet wurden die kumulierten Ergebnisse der Civey-Umfragen vom März und April 2019 um Aktualität zu gewährleisten, die Einstellungen in einer nicht durch aktuelle öffentliche Diskussionen bestimmter Aspekte stark beeinflussten Phase abzubilden und durch ein genügend große Stichprobe den Stichprobenfehler im vertretbaren Rahmen zu halten. Auf die Methodendiskussion um Onlineumfragen kann hier nicht eingegangen werden.

[ii] Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 22. September 2013, Mannheim 2013, S. 42 ff.

[iii] Zu den Umfrageergebnissen zwischen den Wahlen vgl. die Politbarometerumfragen der Forschungsgruppe Wahlen e.V. (Langzeitentwicklung: https://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/) und die DeutschlandTREND-Umfragen von Infratest dimap (https://www.infratest-dimap.de/).

[iv] Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Bundestagswahl. Eine Analyse der Wahl vom 24. September 2017, Mannheim 2017, S. 49 ff.

[v] Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V.: Politbarometer August II 2018, S. 1 und Infratest dimap: ARD-DeutschlandTREND, September 2018, S. 10.

[vi] Vgl. die Umfrageergebnisse von fünf verschiedenen Instituten vom 4. bis 13. Februar 2019: http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm.

[vii] Vgl. die Landtagswahlumfragen in: http://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/index.htm.

[viii] Vgl. Infratest dimap: ARD-DeutschlandTREND, Februar 2019, S. 4.

[ix] Vgl. die Politbarometer-Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen e.V. (s. Endnote 3).

[x] Vgl. Holscher, Max: Diese Themen entscheiden die Wahlen in Ostdeutschland, SPON vom 3. April 2019
(https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sachsen-thueringen-brandenburg-diese-themen-entscheiden-die-wahlen-a-1261013.html)

[xi] Vgl. die Politbarometer-Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen e.V. (s. Endnote 3).

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Autor:

Prof. Dr. Oskar Niedermayer ist Politikwissenschaftler. Er leitete von 1993 bis 2017 das Otto-Stammer-Zentrum der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte seiner Forschung sind politische Einstellungen und Verhaltensweisen, Parteienforschung und Wahlforschung.

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