Welche Gerechtigkeitsvorstellungen haben die Deutschen?
Obwohl sich die meisten Menschen in Deutschland selbst gerechter entlohnt fühlen als noch vor wenigen Jahren, glauben sie, dass es in Deutschland immer ungerechter zugeht. Warum das so ist und was das für Konsequenzen für die Politik hat, erklären Dr. Susanne Cassel und Dr. Tobias Thomas.
Dieser Policy Brief entstand auf Grundlage des ECONWATCH-Meetings „Deutschland ein ungerechtes Land? – Wahrnehmung sozialer Ungleichheit im Wandel der Zeit“ mit Prof. Dr. Stefan Liebig (Sozioökonomisches Panel – SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin.
In Deutschland wird seit einigen Jahren intensiv über Umverteilung und den Sozialstaat diskutiert. Dabei hat sich das Niveau der Einkommensungleichheit seit 2005 kaum verändert. Steuern und Sozialtransfers führen dazu, dass die Ungleichheit der Markteinkommen erheblich reduziert wird; der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist konstant hoch. Objektive Daten und wahrgenommene Ungleichheit klaffen jedoch oftmals auseinander. Obwohl sich die meisten Menschen in Deutschland selbst gerechter entlohnt fühlen als noch vor wenigen Jahren, glauben sie, dass es in Deutschland immer ungerechter zugeht. Besonders die unteren Einkommen werden als zu niedrig erachtet.
Die empfundene Ungerechtigkeit hat reale Konsequenzen: Sie kann zu Resignation am Arbeitsplatz und Politikverdrossenheit führen und sich so negativ auf Wohlstand und Demokratie auswirken. Zudem empfinden immer mehr Menschen Chancen- und Verfahrensgerechtigkeit, zum Beispiel „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ oder die Gleichbehandlung durch Behörden, als zunehmend wichtig. Verteilungsgerechtigkeit verliert hingegen an Relevanz. Die Politik sollte daher einen stärkeren Fokus auf Verfahrensgerechtigkeit statt auf mehr Umverteilung legen. Sozialleistungen sollten auf diejenigen konzentriert werden, die sie tatsächlich benötigen. So fällt zum Beispiel die Armutsgefährdung unter Berücksichtigung der regionalen Kaufkraftunterschiede deutlich geringer aus.
Entgegen dem in der öffentlichen Debatte oft suggerierten Abbau des Sozialstaates und der vermeintlich zunehmenden Ungleichheit ist die Einkommensverteilung seit dem Jahr 2005 relativ stabil. Lediglich in den unteren Einkommensklassen ist das durchschnittliche verfügbare Haushaltseinkommen gesunken. Dies ist vor allem auf den zunehmenden Anteil von Migranten zurückzuführen, die (noch) nicht ausreichend in den Arbeitsmarkt integriert sind. Der Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt hat sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert und liegt mit rund 25 Prozent über dem Durchschnitt der OECD-Länder. Sozialausgaben sind zudem bei Weitem der größte Posten in den öffentlichen Haushalten.
Das deutsche Umverteilungssystem führt dazu, dass die Ungleichheit der Markteinkommen erheblich reduziert wird. Auch subjektiv geht es dem Großteil der Menschen in Deutschland gut. Die Lebenszufriedenheit ist kontinuierlich gestiegen und befindet sich derzeit auf einem Allzeithoch. Zudem sind die Menschen zunehmend zufriedener mit dem demokratischen System. Die hohe Lebens- und Demokratiezufriedenheit ist wesentlich auf die aktuell sehr gute Lage am Arbeitsmarkt zurückzuführen.
Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) zeigen, dass die Menschen in Deutschland eine Verteilung der Einkommen nach dem Leistungsprinzip und damit eine ungleiche Entlohnung gutheißen. Sie empfinden es als gerecht, dass diejenigen, die mehr Leistung erbringen, auch mehr verdienen. Längsschnittbefragungen zeigen, dass die als „gerecht“ angesehenen Einkommen jeweils nur etwas höher liegen als die tatsächlichen Einkommen – mit dem Resultat, dass sich die tatsächliche und die gewünschte Einkommensverteilung kaum unterscheiden, wenngleich letztere auf einem etwas höheren Niveau liegt. Allerdings empfindet eine große Mehrheit der Befragten insbesondere die untersten Einkommen als zu niedrig und wenig gerecht.
Darüber hinaus zeigen Untersuchungen aus Schweden, dass die Präferenzen der Menschen für Umverteilung tendenziell abnehmen, wenn Zuwanderung stattfindet und die Gesellschaft heterogener wird. Der Stellenwert von Verfahrensgerechtigkeit, zum Beispiel bei staatlichen Entscheidungen, nimmt hingegen zu.
Sowohl die wahrgenommene (Un)Gerechtigkeit des eigenen Einkommens als auch der Einkommensverteilung hat reale Konsequenzen. So führt die Einschätzung, dass man selbst zu wenig verdient, genauso wie die Wahrnehmung, dass hohe Einkommen zu hoch sind, dazu, dass Menschen ihre Leistungen am Arbeitsplatz reduzieren. Eine als ungerecht empfundene Entlohnung in den unteren Einkommensbereichen führt, ebenso wie eine als zu niedrig empfundene eigene Entlohnung, wiederum zu einer sinkenden Bereitschaft, sich an Wahlen zu beteiligen. Beide Effekte sind gesellschaftspolitisch gefährlich, können sie doch zu sinkendem Wohlstand und abnehmendem Vertrauen in die Demokratie führen.
Konsequenzen
In der Debatte um Ungleichheit und Ungerechtigkeit sollte stärker differenziert und die Gerechtigkeitspräferenzen der Bevölkerung sollte nicht missverstanden werden. Denn nicht alle vermeintlichen Ungerechtigkeiten werden von den Bürgern auch als solche empfunden. So wird die Tatsache, dass Einkommen ungleich verteilt sind, durchaus als gerecht bewertet: Leistung soll sich lohnen. Gleichzeitig führen staatliche Umverteilungsmaßnahmen zu einem immer dichteren Regulierungsgeflecht, das seinerseits (gefühlte) Ungleichbehandlung mit sich bringt.
Ansatzpunkte für die Politik ergeben sich im Wesentlichen bei den niedrigen Einkommen, die von einer Mehrheit als ungerecht angesehen werden. Das Transfersystem sollte daher zielgenauer werden und nur denjenigen helfen, die tatsächlich Hilfe benötigen. So fällt zum Beispiel die Armutsgefährdung unter Berücksichtigung der regionalen Kaufkraftunterschiede deutlich geringer aus.
Darüber hinaus sollte die Politik den Fokus auf mehr Verfahrensgerechtigkeit legen, das heißt darauf achten, dass die Menschen zum Beispiel von Behörden gleichbehandelt werden. Gerät dies vor lauter Umverteilung aus dem Blick, nimmt das Ungerechtigkeitsempfinden in der Gesellschaft nämlich zu statt ab.
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Autor:
Dr. Susanne Cassel und Dr. Tobias Thomas sind Vorsitzende bei Econwatch, einer gemeinnützigen und unabhängigen Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, verständlich und wissenschaftlich fundiert über Wirtschaftspolitik zu informieren und Reformmöglichkeiten aufzuzeigen.