Warum die Aufweichung der Schweigepflicht bei der Behandlung von Piloten kontraproduktiv wäre
Sollten die Rechte von Piloten eingeschränkt werden, in dem deren Ärzte von der Schweigepflicht entbunden werden? Auf den ersten Blick könnten damit Tragödien wie der Germanwings-Absturz durch einen depressiven Piloten im vergangenen Jahr verhindert werden. Doch der erste Blick greift zu kurz. Die Beschränkung der Freiheit wäre kein Fortschritt.
Am 24. März 2015 tötete der Pilot Andreas L. 149 Menschen, um Selbstmord mit einem Flugzeug zu begehen. Vor wenigen Tagen hat das französische Bureau d’Enquêtes et d’Analyses pour la sécurité de l‘aviation civile seinen Untersuchungsbericht vorgelegt. Der widmet sich insbesondere der Frage, wie solche Handlungen in Zukunft zu verhindern sind. Einer der Vorschläge lautet: die ärztliche Schweigepflicht soll aufgeweicht werden.
Auch rund ein Jahr nach dem Absturz sind das Entsetzen und das Unverständnis, das L.s Tat hervorgerufen hat, nicht geringer geworden. Auch in diesem Fall hört man, wie so oft nach grausamen Verbrechen, Unfällen oder Anschlägen, den Satz: man hätte alles tun müssen, um das zu verhindern. Dazu ist es zu spät, weshalb sich nun eine verbissene Energie darauf richtet, zumindest ähnliche Fälle in der Zukunft zu verhindern.
Nimmt man diesen Stoßseufzer wörtlich, lassen sich sehr schnell konsequente und sichere Lösungen finden. Man könnte die Luftfahrt einfach abschaffen oder, für den etwas gewalttätigeren Geschmack, auch alle Pilotinnen und Piloten unter Hausarrest stellen. Doch man erkennt unmittelbar, dass diese Vorschläge absurd sind. Sie zeigen, dass man den Satz vom Alles-tun-Wollen nicht für bare Münze nehmen darf, sondern ihn auch als Ausdruck überwältigender Emotionen verstehen muss. Alles heißt eben nicht alles, was möglich ist, sondern alles, was sinnvoll ist.
Genau danach, nach den positiven und negativen Folgen und dem möglichen Beitrag zur Erreichung des angestrebten Ziels, ist auch in Bezug auf die Beibehaltung oder Einschränkung der Schweigepflicht zu fragen. Theoretisch ist eine solche Einschränkung ohne weiteres möglich. Aber ist sie auch sinnvoll und vor allem, ist wirklich zu erwarten, dass solche schrecklichen Handlungen dadurch verhindert werden?
Mit aller Unsicherheit, die Prognosen nun einmal eigen ist, lässt sich vermuten, dass ein solcher glücklicher Fall durchaus eintreten könnte. Mindestens ebenso wahrscheinlich, und vielleicht sogar wahrscheinlicher ist es jedoch, dass die Einschränkung der Schweigepflicht einen kontraproduktiven Effekt hätte.
Stellen Sie sich doch einmal vor, dass Sie psychische Beschwerden haben, von denen Sie befürchten, dass sie sich negativ auf ihre berufliche Laufbahn auswirken könnten. Würden Sie darüber noch offen mit einem Arzt sprechen? Oder würden Sie ihre Beschwerden zu ignorieren versuchen? Zur Selbstmedikation greifen? Die Krux an der Sache ist: Nur, wenn Sie ohnehin bereit wären, sich mit den einschränkenden Konsequenzen ihrer möglichen Krankheit offen auseinanderzusetzen, würde Sie eine Einschränkung der Schweigepflicht nicht oder nur geringfügig verunsichern. Menschen, die das um (fast) jeden Preis vermeiden wollen, würden hingegen eher möglichst lange auf ärztliche Hilfe verzichten, als das damit verbundene Risiko einzugehen. Ausgerechnet für jene, die der Hilfe und Unterstützung besonders bedürfen, wird die Schwelle zu diesen Angeboten erhöht – vielleicht bis auf ein Maß, das eine unüberwindliche Hürde darstellt. Dass sich in dieser Gruppe ein massenmordender Selbstmörder befindet, wollen wir alle nicht hoffen. Ausschließen können wir es gleichwohl nicht.
Bestenfalls gelangen wir also zwischen der Beibehaltung und der Einschränkung der Schweigepflicht zu einem Patt, was die Verhinderung von Gefahren für unbeteiligte Dritte betrifft. Unterhalb eines solchen Ausmaßes von Tod und Leid dürfte die Einschränkung der Schweigepflicht eher negative Folgen haben. Denn es muss ja nicht zu Todesopfern kommen, um eine Situation, in der psychische Beschwerden nicht mehr behandelt werden und sich damit vermutlich eher verschlimmern als bessern, als Verschlechterung gegenüber dem heutigen Stand zu betrachten.
Anders läge die Sache bei einer regelmäßigen gesundheitlichen Überprüfung. Die lässt sich problemlos auch dann durchführen, wenn die Schweigepflicht behandelnder Ärztinnen und Ärzte erhalten bleibt. Durch die strikte Trennung von Behandlung und Begutachtung, der jeweils erhobenen Daten und des dabei eingesetzten Personals ließen sich jedoch das geschilderte Vermeidungsverhalten verhindern.
Eine Einschränkung der ärztlichen Schweigepflicht aus Angst vor dunklen Geheimnissen unserer Mitmenschen klingt hingegen verdächtig nach der Maxime vom Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Und auch wenn wir bisweilen, überwältigt von Wut, Trauer oder Hilfslosigkeit, Zuflucht zu solchen irrationalen Gedanken nehmen, so wissen wir doch recht gut, dass diese Lösung höchst fragwürdig ist. Sicher, man kann auf diese Weise jedes Lebensrisiko durch 100%ige Gewissheit ersetzen. Doch das ist immer nur genau die schreckliche Gewissheit, die wir so sehr verhindern wollten.
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Autor:
Dr. Dagmar Schulze Heuling ist Politikwissenschaftlerin. Sie forscht und lehrt an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.