Von Eigenverantwortung in einer unumkehrbaren Schicksalsgemeinschaft

Der Maastrichtvertrag sollte verhindern, dass für haushaltspolitische Fehlentscheidungen eines Mitglieds die Gemeinschaft haftet. Und zwar mit zwei Mechanismen: einem institutionalisierten Regelwerk zur Haushaltsdisziplin und dem Finanzmarkt. Beides hat nicht funktioniert. Eine ordnungspolitische Aufarbeitung einer falschen Politik.

So unterschiedlich die Zentralbanktraditionen Deutschlands und Frankeichs auch waren, während der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht zu Beginn des Jahres 1992 herrschte in einem grundsätzlichen Punkt Einigkeit: Die neu zu schaffende Wirtschafts- und Währungsunion sollte keine Transferunion sein. Die Entwürfe beider Länder zur Haushaltspolitik sahen jeweils ein Nichtbeistandsprinzip der Mitgliedsstaaten für die Schulden der anderen, ein Verbot der Staatsfinanzierung durch die Zentralbank und Obergrenzen zur Vermeidung übermäßiger Haushaltsdefizite vor. Griechenland, Spanien, Portugal und Irland, die ihre Volkswirtschaften nicht in der Lage sahen, strenge Fiskalregeln zu erfüllen und auf einen Finanzausgleich auf europäischer Ebene setzten, entgegnete der mit den Verhandlungen durch den Bundesfinanzminister beauftragte Staatssekretär Horst Köhler: “Die Haushaltsdisziplin ist ein wichtiges Element einer Stabilitätsgemeinschaft. Wir sollten nicht signalisieren, dass das ganze nicht so ernst gemeint ist.”

Im Kern des deutsch-französischen Vorstoßes steht der Versuch, die negativen Folgen von unterschiedlichen Interessen in einem ungleichen Währungsraum zu begrenzen. So wie ein Versicherungsvertrag versucht, Betrug einzudämmen, versucht der Maastrichtvertrag zu verhindern, dass für haushaltspolitische Fehlentscheidungen eines Mitglieds die Gemeinschaft haftet. Der institutionelle Rahmen der Union muss Informationen der Akteure verwerten und ihre Anreize so steuern, dass es sich für alle lohnt, Teil der Gemeinschaft zu sein und sich an ihre Regeln zu halten. Ein hoher Anspruch, dem die Begründer der Währungsunion mit zwei Mechanismen gerecht werden wollten: einem institutionalisierten Regelwerk zur Haushaltsdisziplin und dem Finanzmarkt.

Die Verschuldungs- und Defizitregeln waren jedoch von Anfang an nicht sonderlich glaubwürdig. Bereits während der Verhandlungen erfüllte eine Vielzahl der potentiellen Mitglieder die Regeln nicht. Aufgenommen in die Währungsunion wurden sie dennoch. Ebenfalls fehlt bis heute eine automatische Sanktionierung von Regelverstößen. Diese müssen erst durch Kommission und Rat festgestellt werden, denen ein großer Interpretationsspielraum eingeräumt wird. In den deutschen Verhandlungsprotokollen von Maastricht sind Bedenken zu diesen und weiteren Punkten zu finden. Ökonomische Einwände sollten dem politischen Währungsprojekt jedoch nicht im Wege stehen. So war es dann auch das Auswärtige Amt und nicht Bundesbank und Finanzministerium, welches die Einigung zur Wirtschafts- und Währungsunion vorantrieb.

Während es dem institutionellen und durch die Politik gestaltet und gesteuerten Regelwerk also an einer automatischen Durchsetzung mangelt, überlässt es die Nichtbeistands- oder “No-Bailout-Klausel” dem Finanzmarkt und nicht der Politik, über die Nachhaltigkeit der öffentlichen Kassen der Euroländer zu urteilen und diese auch zu sanktionieren. Das Ergebnis der Bewertung ist der Marktzins, den jeder Staat für eine Schuldenaufnahme entrichten muss. Fallen Haftung und Risiko zusammen, so ist der Markt der wohl beste Mechanismus um Informationen zu verwerten, Anreize zu steuern und zu einem effizienten Ergebnis zu gelangen. Die niedrigen Zinsen, zu denen sich hoch verschuldete Länder wie Griechenland oder Italien vor der Krise refinanzieren konnten, zeigen jedoch, dass das Prinzip des No-Bailouts von Anfang an keine Glaubwürdigkeit besaß. Die europäische Rettungspolitik der kommenden Staatsschuldenkrise war bereits eingepreist. Die Unumkehrbarkeit des Euro verträgt sich nicht mit finanzieller Eigenverantwortung.

Die Schwierigkeiten der Währungsunion waren bereits zu ihrer Gründung bekannt. Trotzdem scheiterte der Versuch seit mehr als 20 Jahren einen Mechanismus zu etablieren, der eben jene Anreize wirksam steuert. Woran dies liegt wird deutlich, wenn man sich mit der Grundlage von Verträgen beschäftigt. Damit diese eingegangen werden und Akteure sich entsprechend der Vorgaben verhalten, müssen zunächst folgende Bedingungen erfüllt sein:

  1. Der Vertragsabschluss muss sich mehr lohnen, als wenn man sich gegen eine Kooperation entscheidet. Dies ist entweder der Fall, wenn das Ergebnis der Interaktion alle Beteiligten sofort besser stellt als vorher, oder wenn auftretende Verluste durch Transfers ausgeglichen werden.
  2. Im Rahmen des Vertrages muss es sich immer mehr lohnen, die Regeln zu befolgen, als diese zum eigenen Vorteil zu umgehen. Jeder Regelverstoß muss sofortige Sanktionen zur Folge haben, die den Gewinn aus dem Abweichenden Verhalten aufzehren.

Bereits der Einwand der wirtschaftlich schwächeren Länder zu Beginn der Vertragsverhandlungen zeigt, dass sich für sie die Aufgabe der eigenen Geldpolitik zu Gunsten einer – für ihre Volkswirtschaften zu starken – Gemeinschaftswährung auf kurze Sicht nur mit einem Transfermechanismus lohnt. Eine schnelle Anpassung der Lebensstandards ohne fundamentale Strukturreformen wurde durch billiges Geld ermöglicht. Die günstigen Konditionen am Kapitalmarkt waren eine Form eines Transfers, der ESM eine andere. Dies ist der Preis, den die Gemeinschaft zahlen muss, damit das politische Projekt einer gemeinsamen Währung überhaupt erst beginnen konnte und weiterhin aufrechterhalten werden kann.

Mit der Missachtung der Haushaltsgrenzen 2003 durch gerade die beiden Länder, die sie in den Vertrag von Maastricht brachten, wurde klar, dass verpflichtende Regeln für souveräne Nationalstaaten durch einen politisch gesteuerten Mechanismus nicht durchzusetzen waren. Statt Sanktionen gab es eine nachträgliche Reform des Regelwerks. Seither werden Regelverstöße nicht mehr an beobachtbaren Verschuldungswerten, sondern an der strukturellen Verschuldung festgemacht. Am Ende ist dies nichts anderes als politische Mathematik. In über 20 Jahren Währungsunion erfüllte Frankreich sechsmal die Defizitgrenze von drei Prozent. Nicht einmal wurde ein Regelverstoß festgestellt. Es lohnt sich, Teil der Gemeinschaft zu sein und sich nicht an die Regeln zu halten.

Die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion war ausschließlich politischer Natur. Aus ökonomischer Sicht war von Anfang an klar, dass die Konsequenzen des Versprechens, das die CDU noch 1999 auf Plakate drucken ließ – “Der Maastrichter Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die Europäische Union oder die anderen EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedstaates haften. Eine Überschuldung eines Euro-Teilnehmerstaates kann daher von vornherein ausgeschlossen werden.” – nicht mit dem politischen Ziel zu vereinbaren war. Das Nichtbeistandsprinzip, das statt auf zentrale Planung auf haushaltspolitische Eigenverantwortung setzt, ist längst aus dem politischen Common Sense der europäischen Institutionen gestrichen worden. Die Unumkehrbarkeit des Euro hat aus der Währungs- eine “Schicksalsgemeinschaft” gemacht. So stellt es das analytische Papier zur „Vorbereitung der nächsten Schritte für eine bessere wirtschaftspolitische Steuerung im Euro-Währungsgebiet“ dar, das die vier Präsidenten von Kommission, EZB, Rat und Eurogruppe zu Beginn des Jahres vorstellten. Für sie ist klar, es muss auf „konkrete Mechanismen für eine stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung, Konvergenz und Solidarität“ hingearbeitet werden.

Zu den oben aufgeführten Bedingungen eines optimalen Vertrages zählt noch eine dritte. Die durch den Vertragsmechanismus erwirkte Allokation muss effizient sein. Dies stellt einen hohen Anspruch an die Informationsverarbeitungskapazität des institutionellen Rahmens. Niemand kennt die effiziente Allokation, niemand kann alle Informationen berücksichtigen. Im Markt muss sie auch niemand kennen, da eine Vielzahl von Einzelentscheidungen in die Preisbildung mit einfließen. Der politische Planer, der zentral über das Wunschergebnis entscheidet, mutet sich hier viel zu. Eine Stabilitätsgemeinschaft fußt auf Eigenverantwortung, eine Schicksalsgemeinschaft auf Solidarität. Wir stehen wieder da, wo es 1992 in den Verhandlungen begann. Die Volkswirtschaften der Peripherie waren dem neuen Währungsverbund nicht gewachsen.

Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen, “humanitäre Krisen”: Mit Kampagnen gegen Haushaltsdisziplin werden Wahlen gewonnen. Welches politische Gremium kann und darf Regeln, die als ungerecht empfunden werden, aufrechterhalten? Wer ist schon gerne dafür verantwortlich, wenn in einem Land jeder Zweite unter 25 keine Arbeit hat? Wer in einer solchen Gemeinschaft das Prinzip Verantwortung fordert, wird leicht als Nestbeschmutzer wahrgenommen. Der Markt nimmt einen Staatsbankrott in Kauf und führt Verantwortung und Haftung zusammen. Der Politiker hat viele Beweggründe dies so lange wie möglich zu verhindern. Volkswirtschaften, für die der Euro zu niedrig bewertet ist, werden weiterhin Volkswirtschaften, die unter dem für sie zu starken Euro leiden, durch Transfers für die negativen Folgen des eingegangenen Vertrages entschädigen. “Wir werden alles in unserer Macht stehende tun, um den Euro zu erhalten.” “Stirbt der Euro, stirbt Europa.”
Der Optimismus ist erbarmungslos. Skepsis wäre barmherzig.

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Autor:

Lisa Marie Kaus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Ausschuss für Wirtschaft und Währung im Europäischen Parlament.

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