Verteidigung des rationalen Menschen
Die Verhaltensökonomie hat sich im Wissenschaftskanon etabliert. Sie bietet aber auch eine pseudowissenschaftliche Legitimation für antidemokratische Einstellungen. Eine Kritik.
Unsere persönliche Sicht auf politische Zusammenhänge hängt zu großen Teilen davon ab, ob wir glauben, dass Menschen dazu fähig sind, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass die Ideen von Freiheit und Demokratie auf der Annahme basieren, dass Menschen rational handeln können.
Denken Sie an eine beliebige politische Entscheidung: Sollte Großbritannien zur Europäischen Union gehören? Wer sollte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden? Welche Wirtschaftspolitik würde der Bevölkerung am meisten zugute kommen? Diese politischen Fragen zur öffentlichen Debatte freizugeben und zur Wahl zu stellen, setzt die Annahme menschlicher Rationalität voraus.
Natürlich halten sich Antidemokraten selbst in der heutigen Zeit normalerweise damit zurück, demokratische Prinzipien oder die menschliche Rationalität direkt anzugreifen. Stattdessen bedienen sie sich häufig der impliziten Annahme, dass nur die technokratische Elite tatsächlich dazu befähigt sei, rationale Entscheidungen zu treffen. Der Rest von uns wird als unfähig erachtet, vernünftig zu handeln. Sie halten uns für dumm, aber hüten sich selbstverständlich davor, dies öffentlich so zu äußern.
Stattdessen wird gerne die ‚Verhaltensökonomie‘ als Argument herangezogen. Im Gegensatz zu ihrer Bezeichnung hat diese wenig mit Ökonomie zu tun – zumindest mit deren traditionellem Verständnis als Studium der Verhältnisse von Produktion und Verbrauch. Sie sollte eher als eine vermeintlich wissenschaftliche Abwertung der rationalen Fähigkeiten des Menschen verstanden werden.
Der Grund dafür, dass ‚Ökonomie‘ in den Namen miteinbezogen wurde, liegt darin, dass diese Disziplin üblicherweise Rationalität geradezu verkörpert. Die Mainstream-Ökonomie wird von ihren Kritikern schließlich gerne als Verkörperung eines blinden Glaubens an die menschliche Rationalität dargestellt. Die Verhaltensökonomie geht jedoch weit über Ansätze zum Verständnis der materiellen Welt hinaus. Sie basiert auf der Annahme, dass psychologische Studien zeigen, dass Menschen tiefgreifende kognitive Einschränkungen haben. Schlussfolgernd wird davon ausgegangen, dass Menschen anfällig dafür sind, schwerwiegende Fehler zu machen.
Das Buch „Aus der Welt“ von Michael Lewis gibt eine nützliche Übersicht darüber, wie sich diese Ideen entwickelt haben. Lewis‘ große Fähigkeit liegt darin, komplexe Sachverhalte auf zugängliche Art und Weise zu präsentieren. Viele seiner Bücher, die sich oft mit relativ abstrusen Finanzthemen auseinandersetzen, wurden zu Bestsellern. Einige davon, wie „Moneyball“ und „The Big Short“, haben sogar die Grundlage für Hollywood-Blockbuster geliefert.
Die unscheinbaren Vorläufer dessen, was heute als Verhaltensökonomie bekannt ist, waren zwei israelische Psychologen, die ihre Arbeit in den 1950er Jahren begonnen haben. Daniel Kahneman, dem 2002 der Wirtschafts-Nobelpreis verliehen wurde, verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in Frankreich. Er ist dem Holocaust wahrscheinlich nur entronnen, weil sein Vater Chemiker bei der großen französischen Kosmetikfirma L’Oréal war. Die Arbeit des Vaters wurde als hilfreich für die Kriegsführung erachtet und sein Leben deshalb verschont.
Amos Tversky, Kahnemans wissenschaftlicher Partner, wurde im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina geboren, wo später der Staat Israel entstand. Er war weitaus extrovertierter als Kahneman, aber beide einte ein gemeinsames Interesse an der Humanpsychologie. Tversky verstarb 1996, sodass ihm, obwohl er in professionellen Kreisen bis dahin durchaus bekannt war, nie eine so breite öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde wie Kahneman in letzter Zeit.
Obwohl Michael Lewis nicht näher darauf eingeht, versteht er es gut, die spezifischen Umstände zu umreißen, unter denen Kahneman und Tversky ihre Ideen entwickelten. Beide arbeiteten kurz nach dem Holocaust in einer Nation, die sich in einem permanenten Kriegszustand befand. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie ein starkes Interesse dafür entwickelten, wie Menschen denken, und auch, dass ihre Schlussfolgerungen häufig negativer Art waren.
Einen Großteil von Kahnemans und Tverskys Arbeitsweise bildeten intensive Debatten über psychologische Phänomene, die hinter verschlossenen Türen stattfanden. Lewis‘ Ausführungen nach zu urteilen, standen sich die beiden mindestens so nah wie ein Ehepaar. Ein weiterer wichtiger Teil ihrer Methodik bestand darin, Probanden anhand verschiedener Rätsel zu testen. Ihre wichtigste Schlussfolgerung war, dass Menschen systematische kognitive Verzerrungen aufweisen. Sie machen nicht nur Fehler, ihre Irrtümer sind sogar vorhersehbar und lenken Menschen oft in eine bestimmte Richtung.
Kahnemans und Tverskys erste große Idee wurde unter dem Begriff „Verfügbarkeitsheuristik“ bekannt. Es handelt sich dabei um die Tendenz von Menschen, Urteile auf Basis von Informationen zu fällen, die ihnen unmittelbar in den Sinn kommen. In einer amerikanischen Studie etwa wurde eine Gruppe von Studenten nach der Häufigkeit von Buchstaben in der englischen Sprache befragt (Wörter mit weniger als drei Buchstaben wurden ausgeschlossen). Die Studenten gaben an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Buchstabe ‚k‘ der erste Buchstabe eines Wortes ist, doppelt so hoch sei, wie die, dass er der dritte ist. In Wirklichkeit ist jedoch das Gegenteil der Fall. Der Buchstabe taucht in englischen Wörtern zweimal so oft als dritter Buchstabe denn als erster Buchstabe auf.
Kahneman und Tversky schlossen daraus, dass das Gedächtnis von Menschen insofern verzerrt ist, dass es einfacher ist, sich Wörter zu merken, die mit ‚k‘ beginnen, als jene, die das ‚k‘ als dritten Buchstaben tragen. Deshalb schlagen die mentalen Stützen, die genutzt werden, um alltägliche Entscheidungen zu treffen, in solchen Fällen fehl.
Ein weiteres Beispiel ist bekannt als Anker- beziehungsweise Anpassungsheuristik. Kahnemann und Tversky baten zwei Gruppen von Schülern, die Antworten zu Matheaufgaben innerhalb von fünf Sekunden zu schätzen. Die erste Gruppe wurde gebeten, das Ergebnis von 8 x 7 x 6 x 5 x 4 x 3 x 2 x 1 zu schätzen, die zweite Gruppe jenes von 1 x 2 x 3 x 4 x 5 x 6 x 7 x 8. Wer kurz darüber nachdenkt, sollte merken, dass die Antworten der beiden Aufgaben identisch sind (das Ergebnis lautet übrigens 40.320). Die durchschnittliche Antwort der ersten Gruppe war jedoch 2250 und die der zweiten 512. Der Grund dafür ist, dass die erste Gruppe die acht und die zweite Gruppe die eins als mentalen Anker beziehungsweise Ausgangspunkt genutzt hat.
Auf den ersten Blick scheinen diese Beispiele rein gar nichts mit Politik zu tun zu haben. Im Endeffekt hängt dies jedoch davon ab, welche Schlussfolgerungen man aus ihnen zieht. An und für sich ist es nicht verkehrt, kognitive Vorurteile dieser Art zu untersuchen. Es ist im Gegenteil sogar ein höchst sinnvoller Forschungsbereich für Psychologen. Wenn solche Fälle jedoch (aus)genutzt werden, um dem Argument, dass Menschen irrational handeln, wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu verleihen, ist das eine ganz andere Angelegenheit.
Sogar Kahneman, der es im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen vermeidet, menschliches Verhalten als irrational zu bezeichnen, ist anfällig für derartige Interpretationen. In seinem Weltbestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ nutzt er zum Beispiel das Verhalten von Taxifahrern, um seine Argumentation zu illustrieren. Kahneman führt aus, dass Taxifahrer typischerweise den Fehler begehen, sich ein tägliches Verdienstziel zu setzen. Daher würden sie zu lange arbeiten, wenn es sonnig ist (wenn also die Gewinne durchschnittlich geringer sind), und nicht lange genug fahren, wenn es regnerisch ist (wenn also die Gewinne durchschnittlich höher sind).
Man sollte jedoch stets vorsichtig sein, wenn Experten damit anfangen, pauschale Aussagen darüber zu treffen, wie gewöhnliche Menschen ihren Alltag führen. Es kann alle möglichen Gründe dafür geben, dass sich Leute auf eine bestimmte Weise verhalten. Taxifahrer zum Beispiel haben vielleicht wöchentliche Rechnungen zu bezahlen, unabhängig vom Wetter. Und eventuell haben sie keine Rücklagen, um durch magere Zeiten zu kommen. Viele Fahrer weisen außerdem die Aussage zurück, dass die Verdienste in regnerischen Zeiten besser sind (ich habe sie nämlich bei jeder passenden Gelegenheit danach gefragt). Einigen zufolge buchen Gäste sogar kürzere Fahrten, wenn es regnet, und gehen die Leute bei schlechtem Wetter ohnehin seltener raus als bei sonnigem.
Menschliches Verhalten ist meist weitaus komplexer, als es simple Laborexperimente, wie die vorstehend beschriebenen, erfassen können. Selbsternannte Experten agieren meist voreilig, wenn sie Menschen unterstellen, dass sie ihren eigenen Interessen zuwider handeln.
Dies ist umso mehr der Fall, wenn es um komplizierte politische Entscheidungen wie den Brexit geht. Was technokratisch orientierten Politikern wichtig ist – im Falle der Europäischen Union etwa die Fähigkeit, wichtige politische Entscheidungen fernab von öffentlicher Überprüfung zu treffen, ist nicht identisch mit dem, was den meisten Bürgern wichtig ist. Wenn also EU-Fans Brexit-Befürworter als irrational bezeichnen, so ist dies im Wesentlichen eine Form der Diffamierung. Tatsächlich haben die Brexit-Wähler lediglich andere, jedoch durchaus vernünftige, Kriterien angelegt. Solche grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten sollten das Wesen politischer Debatten darstellen.
In jedem Fall ist natürlich die Behauptung absurd, die Prämisse der Rationalität würde besagen, dass alle Menschen perfekt kalkulierende Maschinen sind. Kein ernstzunehmender politischer Philosoph würde argumentieren, dass Menschen immun gegen Fehler sind. Der Kernpunkt ist jedoch, dass Menschen fähig sind, ihre Interessen zu verstehen und in rationaler Art und Weise zu artikulieren.
Politische Institutionen sollten so organisiert sein, dass sie rationale Entscheidungsprozesse ermöglichen. Dazu brauchen wir freie und ehrliche Debatten, die uns erlauben, Entscheidungen ernsthaft zu reflektieren. Solche Debatten würden den Bürgern außerdem bei der Abwägung helfen, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen auf die Gesamtgesellschaft haben, anstatt diese nur aus einem engen, persönlichen Blickwinkel zu beurteilen.
Die Schwäche von „Aus der Welt“ liegt darin, dass das Buch die Verhaltensökonomie nicht in ihrem breiteren politischen Kontext sieht. Die Abschätzigkeit der Elite gegenüber den rationalen Fähigkeiten der Öffentlichkeit reicht schließlich mindestens bis zu Platons „Politeia“ zurück. Die Verhaltensökonomie hat gerade deshalb in Establishment-Kreisen so an Popularität gewonnen, weil sie eine pseudowissenschaftliche Legitimation für antidemokratische Ideen liefert.
Dieser Beitrag ist zuerst im Magazin Novo Argumente erschienen.
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Autor:
Daniel Ben-Ami ist ein in London beheimateter Journalist und Autor mit dem Fokus auf Wirtschafts- und Finanzthemen. Er ist Autor der Bücher 'Ferraris for All' und 'Cowardly Capitalism'.