TARGET2: Das dicke Ende kommt früher als erwartet!

Der Pegelstand der europäischen Zahlungsbilanzkrise erreicht immer neue Höhen: Die TARGET2-Forderungen der Deutschen Bundesbank liegen aktuell bei rund 644 Mrd. Euro. Doch ob die hohen Überschüsse wirklich gefährlich oder doch nur Zahlenschieberei sind, darüber wurde viel diskutiert. Dabei ist bisher übersehen worden, dass das dicke Ende früher als erwartet kommt – Euro hin oder her.

In der manchmal unübersichtlichen TARGET2-Debatte wird viel Aufhebens darum gemacht, ob es sich bei TARGET2-Forderungen und -Verbindlichkeiten um Kredite handelt oder nicht und welche ökonomischen Auswirkungen zu erwarten sind. Im engeren Sinne stellen die TARGET2-Salden keine schuldrechtliche Kreditbeziehung dar. Viele meinen daher, dass TARGET2 nur ein Symptom einer darunterliegenden Zahlungsbilanzkrise ist, die irgendwann einmal wieder abebbt, so dass sich auch die TARGET2-Salden zurückbilden. Andere argumentieren hingegen, dass TARGET2 nicht nur den Pegelstand der Zahlungsbilanzkrise anzeigt, sondern auch mitursächlich für diese Krise ist, weil es sich aus ökonomischer Sicht tatsächlich um Kredite handelt. Wer hat nun Recht?

Aus Sicht der Zahlungsbilanztheorie haben Kern- und Peripherieländer im Euroraum eine Kreditbeziehung. Kennzeichnend für die Peripherieländer sind Zahlungsbilanzdefizite, d.h. passive Leistungsbilanzen. Währenddessen weisen Kernländer, wie z.B. Deutschland, entsprechende Überschüsse auf, d.h. aktive Leistungsbilanzen bzw. ein Warenexport. In dieser Hinsicht hat z.B. Deutschland bis etwa Spätsommer 2007 auf die Verwendung der eigenen Produktion im Inland verzichtet und dieselbe an das Ausland, sprich: die Peripherie, abgegeben (Warenexport). Dabei haben private Wirtschaftssubjekte marktgängige Vermögenstitel der Peripherie erworben (Kapitalexport) und damit den Warenverkehr finanziert. Die privaten Kapitalexporte Letztere stellen nichts anderes dar als eine verbriefte Form von Ansprüchen auf die zukünftige reale Produktion der Peripherie. Es handelt sich folglich um eine Forderung. Die entsprechenden Verbindlichkeiten auf Seiten der Peripherieländer sind ein Versprechen auf eine reale Leistungserbringung in der Zukunft. Das Vertrauen in einen zukünftigen realen Ausgleich der heutigen Forderungen und Verbindlichkeiten macht aus Sicht der Zahlungsbilanztheorie das Wesen eines Kredites aus.

Welche Rolle spielt TARGET2 hierbei? Es ist in erster Linie ein grenzüberschreitendes Bezahlsystem: Veranlasst z.B. ein Peripherieland eine Zahlung im europäischen Warenverkehr, dann weist dieser Zahler eine TARGET2-Verbindlichkeit auf, während der Zahlungsempfänger, z.B. Deutschland, eine TARGET2-Forderung gutgeschrieben bekommt. Wenn private Wirtschaftssubjekte aus einem Kernland, wie z.B. Deutschland, den grenzüberschreitenden Warenverkehr finanzieren, dann veranlasst Deutschland eine Zahlung, um einen marktgängigen Vermögenstitel in der Peripherie zu erwerben. Dementsprechend hat Deutschland eine TARGET2-Verbindlichkeit und die das Peripherieland als Zahlungsempfänger eine TARGET2-Forderung. Letztlich heben sich im privaten Waren- und Kapitalverkehr alle TARGET2-Salden wechselseitig wieder auf und haben daher nur temporären Charakter. So hat TARGET2 bis zum Ausbruch der europäischen Zahlungsbilanzkrise im Spätsommer 2007 reibungslos funktioniert.

In einer Zahlungsbilanzkrise wie der gegenwärtigen fehlt es an dem oben besagten Vertrauen: Die privaten Wirtschaftssubjekte glauben nicht mehr an die zukünftige Leistungserbringung der Peripherie. Eine weitere Finanzierung wird eingestellt und die fälligen Forderungen werden geltend gemacht. Die Folge ist normalerweise eine volle Umkehr der Ströme im Waren- und Kapitalverkehr, d.h. die bis dahin aufgelaufene Verschuldung der Peripherie gegenüber den Kernländern wird real abgebaut (u.U. wird eine Schuld sogar (teil-)erlassen bzw. umgeschuldet und abgeschrieben wie z.B. im Falle Griechenlands).

Offensichtlich weisen die Peripherieländer jedoch auch im Jahre fünf der europäischen Zahlungsbilanzkrise immer noch Zahlungsbilanzdefizite auf, d.h. sie verbrauchen real immer noch mehr als sie selbst erzeugen. Seit Ausbruch dieser Krise haben die privaten Wirtschaftssubjekte der Kernländer bzw. der privater Finanzsektor mangels Vertrauen die Finanzierung des Warenimports der Peripherie eingestellt. Die Finanzierung haben quasi die europäischen Zentralbanken via TARGET2 übernommen. Aufgrund der Eigenheiten des TARGET2 können Finanzierungen generiert werden, ohne dass es dafür im Gegenzug einer konkreten Zustimmung bzw. Willenserklärung privater oder öffentlicher Wirtschaftssubjekte der Kernländer bedarf. Vielmehr bucht das Eurosystem z.B. der Deutschen Bundesbank einfach eine TARGET2-Forderung ins Konto als Gegenbuchung zur Peripherie, die aufgrund einer dort veranlassten grenzüberschreitenden Zahlung eine entsprechende Verbindlichkeit aufweist. Eine derartige Finanzierung z.B. des europäischen Warenverkehrs in ‚Krisenzeiten‘ erfolgt normalerweise zu erhöhten Kosten und nur bei hinreichender Besicherung. Im Eurosystem entscheiden jedoch die Kreditnehmer mit über die Konditionen der Kreditausleihungen und die Anforderungen an die Besicherung. Es kommt daher gleichzeitig zu einem nach wie vor relativ hohen Warenimport der Peripherie und einer außerordentlichen „Kapitalflucht“ aus der Peripherie, d.h. es wird der Erwerb von Vermögenstiteln der Kernländer via TARGET2 finanziert.

Ob TARGET2-Salden vornehmlich auf Transaktionen im Waren- oder Kapitalverkehr zurückzuführen sind, ist eine empirisch nicht einfach zu beantwortende Frage. In den immer höheren Pegelständen der TARGET2-Salden zeigt sich zuerst einmal das Ausmaß der unterschiedlichen Verbringung von Zentralbank-Liquidität im Eurosystem. Aus Sicht der Zahlungsbilanztheorie ermöglicht TARGET2 der Peripherie jedoch weiter über ihre Verhältnisse zu leben. Wären die Zahlungsbilanzdefizite der Peripherie unter den Bedingungen nationaler Währungen aufgelaufen, dann hätten diese Länder eine fulminante Umkehr der Ströme im Waren- und Kapitalverkehr vollzogen, um ihre reale Verschuldung gegenüber den Kernländern abzutragen. TARGET2 ermöglicht jedoch dies Anpassungslasten auf der Zeitachse zu strecken und verschafft der Peripherie im ökonomischen Sinne einen Kredit. TARGET2 konterkariert damit einen erforderlichen ökonomischen Konsolidierungskurs der Peripherie in der Zahlungsbilanzkrise und ist somit nicht nur ein Symptom der europäischen Zahlungsbilanzkrise, sondern aufgrund seiner Eigenheiten mitursächlich für deren Fortschreitung mit immer höheren Pegelständen.

Kurzfristig profitieren zwar sowohl die Peripherie- als auch die Kernländer: TARGET2 sorgt dafür, dass der ökonomische Anpassungsprozess der Peripherieländer in der Zahlungsbilanzkrise „weicher“ ausfällt als dies unter den Bedingungen nationaler Währungen der Fall wäre (Damit ist keineswegs gemeint, dass die bisherigen Sparanstrengungen nicht „hart“ sind). Gleichzeitig fällt die über TARGET2 alimentierte Auslandsnachfrage aus Sicht der Kernländer relativ hoch aus. Die entsprechende Finanzierung eines Warenexports bei nicht voll ausgelasteten Kapazitäten führt zu einer Überschussnachfrage z.B. in Deutschland, so dass die inländische Produktion und Beschäftigung entsprechend stabilisiert wird bzw. wächst. Dass die europäische Zahlungsbilanzkrise aber auch langfristig für alle Seiten mit Kosten verbunden sein wird, liegt nahe: Da TARGET2 unter den gegenwärtigen Bedingungen zu einer anhaltenden Verlagerung von Liquidität aus der Peripherie in die Kernländer des Euroraums beiträgt, wird ein Teil der Anpassungslasten in der Krise auf die Kernländer verlagert. Die monetär bedingte Überschussnachfrage, die sich im Hintergrund innerhalb der Kernländer aufbaut, wird dazu führen, dass z.B. Deutschland volkswirtschaftlich seine Sparer durch Inflation „entsparen“ wird – wie die Deutsche Bundesbank jüngst hat durchblicken lassen. Deutschland wird dann relativ weniger exportieren und mehr importieren, seine Produktionsstruktur anpassen und kurzfristig entsprechende Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen müssen – und dass sich jedoch merklich an der Wettbewerbsfähigkeit der Peripherieländer etwas verbessert.

Selbst im Falle einer Stabilisierung des Euroraums werden die TARGET2-Forderungen der Deutschen Bundesbank ein reales Problem sein. Wenn – aus welch über-optimistischen Gründen auch immer – eine volle Wettbewerbsfähigkeit der Peripherie hergestellt werden kann, so dass der private Finanzsektor den „öffentlichen Finanzsektor“ in Gestalt von TARGET2 wieder ablöst, dann bleibt ein Teil der aufgelaufenen TARGET2-Salden bei der Deutschen Bundesbank zurück. Dies betrifft den Teil, für den die Deutsche Bundesbank TARGET2-Forderungen im europäischen Warenverkehr gutgeschrieben bekommen hat (TARGET2-Foderungen aus der sog. „Kapitalflucht“ sind in diesem Zusammenhang unbedenklich).

Wenn der private Finanzsektor, d.h. letztlich private Wirtschaftssubjekte aus den Kernländern, eine Finanzierung des Warenimports wieder ermöglichen sollte und dementsprechend marktgängige Vermögenstitel der Peripherie erneut erworben werden, dann verzeichnet das Kernland eine TARGET2-Verbindlichkeit und das entsprechende Peripherieland eine TARGET2-Forderung. Diese TARGET2-Forderungen und -Verbindlichkeiten im Kapitalverkehr, nämlich im privaten Finanzsektor, gleichen aber nun genau wieder die TARGET2-Forderungen und -Verbindlichkeiten im Warenverkehr von den Kernländern in die Peripherie aus. Erneut sind die TARGET2-Salden nur temporärer Natur. Die europäischen Zentralbanken bleiben auf der Strecke. Ein sog. Hysterese-Effekt wird sich bei einem Teil der TARGET2-Forderungen der Deutschen Bundesbank einstellen. Die Deutschen Bundesbank wird einen teilweisen Ausfall ihrer Forderungen verkraften müssen.

Geldpolitisch muss dies kein Problem darstellen, realwirtschaftlich bedeutet dies jedoch einen Wohlfahrtsverlust Deutschlands, da die inländische Erwerbsbevölkerung eine reale Produktion erzeugt hat, über die sie weder gegenwärtig noch in der Zukunft – aufgrund nicht erfolgter Lieferungen von Güter und Dienstleistungen aus der Peripherie – verfügen kann. Gleichwohl gibt es für die Peripherieländer einen Anreiz, ihren Zahlungsverpflichtungen in der Zukunft real nachzukommen, nämlich um ihre Kreditwürdigkeit zu sichern bzw. wieder herzustellen. TARGET2 schafft hierfür allerdings keine Voraussetzungen. In welchem Ausmaß Deutschland letztlich auf einen Teil seiner Wohlfahrt verzichtet, ist daher eine Frage politischen Verhandlungsgeschicks. Davor muss aber erst einmal das Problembewusstsein geschaffen werden. Am besten bevor sich – Euro hin oder her – das Problem uneinbringlicher TARGET2-Forderungen der Deutschen Bundesbank tatsächlich stellt.

Weitere Informationen

Fahrholz, Christian und Andreas Freytag. 2012. “Will TARGET2-Balances be Reduced again after an End of the Crisis?”

Fahrholz, Christian. 2012 „Das Zahlungsverkehrssystem TARGET2 aus zahlungsbilanztheoretischer Sicht.“

Autor:

Dr. Christian Fahrholz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Graduiertenkolleg Global Financial Markets an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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