Schnöde Profiteure bleiben die größte Gefahr

Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft – die selbstzufriedene Republik, Hoffmann und Campe, Hamburg 2015

Wieder legt Peer Steinbrück eine Mischung aus SPD-Kritik, Selbstkritik und Medienschelte vor. Das hat er schon vor fünf Jahren bei seinem letzten Bestseller „Unterm Strich“ getan. Dennoch bietet Steinbrücks Gedankenwelt einen hochinteressanten Einblick hinter die Kulissen der Macht – und gibt einige überraschende Ansichten des Fast-Kanzlers preis: So wünscht er sich eine Debatte über einen neuen Verfassungsprozess für Europa.

Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft – die selbstzufriedene Republik, Hoffmann und Campe, Hamburg 2015Der Ex-Kanzlerkandidat kann schreiben. Keine Frage. Und der Mann ist wie immer: ein Verkünder seiner selbst und Entwickler zielgenauer Pointen. Geistreich, selbstbewusst, selbstkritisch und ebenso kokett – das macht die Marke Steinbrück aus. Dass sein neues Buch „Vertagte Zukunft – die selbstzufriedene Republik“ auch eine Abrechnung mit der SPD ist, mag Lesern mit Sinn für Häme und Klatsch gefallen. Besonders wichtig ist es aber nicht. Denn das kritische Verhältnis Steinbrücks zu seiner Partei ist nicht neu – und war auch ein entscheidender Grund für Steinbrücks Scheitern als Kanzlerkandidat. Natürlich ist es leicht für einen Mann, der aus dem Politzirkus mehr oder weniger raus ist, sich über die anderen zu mokieren – die beste Diagnose stellt immer der Pathologe. Dennoch ist Steinbrücks Buch voll von querbürstigen und manchmal recht steilen Aussagen zur aktuellen Politik. Allein darum lohnt sich ein Blick in sein lesenswertes Werk.

Die Finanzkrise ist nicht vorbei – sie schläft nur

Strukturell geht es um vier große Themen: Globalisierung, Finanzmärkte, die digitale Revolution und Russlands Rückfall in die chauvinistische Machtpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts („Europa darf sich davon nicht beeindrucken lassen“). Zunächst listet Steinbrück auf, warum die Wahl 2013 verloren ging (Selbsttäuschung, Koketterie, falsche Themen, Identifizierung mit der Partei), stellt die aktuelle große Koalition kritisch auf den Prüfstand, beklagt den Stil der Medien, die angeblich nicht mehr zwischen wichtigen und unwichtigen Meldungen unterscheiden können, bedauert den Verfall des Vertrauens zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und resümiert, dass unser Wohlstand heute auf dünnem Eis steht: „Die Finanzkrise ist nicht vorbei. Sie schläft nur. Wie tief, ist unklar.“ Für den Finanzmann Steinbrück stellen nicht Szenarien wie „Bankenzerschlagung“, „Verstaatlichung“ oder „Devisenbewirtschaftung“ die größte Gefahr für die soziale Marktwirtschaft dar, sondern es sind nach wie vor die „schnöden und vulgären Profiteure“ der Finanzbranche, „die Maß und Mitte, Gemeinwohl und Fairness für romantische Anwandlungen halten und deren Gier größer ist als ihr Selbsterhaltungstrieb“.

Gefahr droht auch durch die digitalen Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten – und zwar in punkto Datensicherheit, politische Einflussnahme und Marktkapitalisierung durch die Internetgiganten. Der „digitale Kapitalismus“ braucht Regeln, sagt Steinbrück, und zwar auf europäischer und internationaler Ebene.

Steuern erhöhen – Soli abschaffen

Für die Modernisierung Deutschland hat er zwei Schlüsselthemen im Anschlag: Bildung und Integration. Damit sie finanziert werden können, wird es für Steinbrück ohne Steuerhöhungen nicht gehen. „Ohne sie werden viele Stellschrauben nicht bedient werden können, die den Weg in eine sichere Zukunft weisen.“ Zur Verbesserung der öffentlichen Einnahmen legt er einen Zehn-Punkte-Plan vor, zu dem er allerdings ein von Politik zurzeit heiß diskutiertes Instrument nicht zählt: „Ich bin gegen eine Integration des Soli in den Einkommenssteuertarif. Ich bin für seine Abschaffung. Das hat auch etwas mit der Verlässlichkeit der politischen Ankündigung zu tun, dass er nach Auslaufen des Solidarpaktes mit den ostdeutschen Ländern 2019 abgeschafft wird.“

Was Europas Zukunft, seine Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit angeht, stellt er den Kontinent vor die Alternative: „Rückfall in nationale Egoismen oder fortschreitende Integration durch Übertragung souveräner Rechte auf gemeinsame Institutionen und Stärkung ihrer demokratischen Legitimation.“ Für Steinbrück ist es von entscheidender Bedeutung, dass es der Politik wieder gelingt, den Bürgern zu vermitteln, was Europa bedeutet und welchen Nutzen es für sie hat. Dazu würden aber allein Appelle und Reminiszenzen an kulturelle Gemeinsamkeiten nicht ausreichen. Steinbrück greift in die Wunde der europäischen Gemeinschaft: Die EU müsse endlich über Sinn und Unsinn seiner Verfassung nachdenken. Er wünscht sich eine Debatte über den Verfassungsprozess – „gemeinsam mit vielleicht zwei oder drei Partnern in Europa, unter Beteiligung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, von Intellektuellen und Künstlern bis hin zu Vertretern von Nichtregierungsorganisationen“. Eine solche Debatte könne neue Perspektiven eröffnen und aus dem EU-Jammertal des Streites um Posten und Geld wieder herausführen, meint Steinbrück.

Insolvenzverfahren für gescheiterte Euro-Staaten

Eine gute und wünschenswerte Idee – doch gerade aktuell angesichts der Griechenlandkrise zeigt sich, welche Schwierigkeiten Europa hat, gemeinsam Lösungen zu finden. Und säße Steinbrück heute am Regierungsruder, würde er zurzeit einen eher einsamen Kurs fahren. Denn: Für ihn darf es „keine bedingungslose und unendliche Solidarität mit Euro-Staaten geben […], denen langfristig die Möglichkeiten fehlen, in der Währungsunion auf eigenen Beinen zu stehen“. Er hält „ein geordnetes und rechtlich geregeltes Verfahren zum Austritt aus der Währungsunion für richtig“. Und: So wie es ein Abwicklungsverfahren für gescheiterte Banken gibt, sollte es auch ein geordnetes Insolvenzverfahren für scheiternde Euro-Staaten geben – „damit nicht die ganze Währungsunion ins Wanken kommt“. Klare Worte. Und sicherlich provokante. Schon gar von einem Sozialdemokraten. Allerdings auch nicht ganz neue. Schon vor zehn Jahren hat der Internationale Währungsfond (IWF) ein internationales Staatsinsolvenzverfahren vorgeschlagen.

Autor:

Dr. Martin Roos ist freiberuflicher Journalist. Er arbeitet als Autor, Ghostwriter und Redenschreiber für Unternehmen und Topmanager.

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