Nach dem Ökonomen-Aufruf: Alternative zur Haftungsunion
Der Ökonomen-Aufruf zur Haftungsunion im Euroraum war teilweise scharf kritisiert worden. Zu destruktiv, ohne Ausblick, wie die Währungsunion funktionieren könnte, so die Kernpunkte der Kritik. Prof. Dr. Gunther Schnabl von der Universität Leipzig war einer der Unterzeichner. In diesem Blogpost legt er dar, wie die Währungsunion trotz ihres Konstruktionsfehlers unterschiedlichster nationaler Finanzpolitiken funktionieren könnte.
Am 21. Mai 2018 wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Der Euro darf nicht in die Haftungsunion führen“ ein Aufruf von 154 Wirtschaftsprofessoren veröffentlicht. Dieser warnte vor der vom französischen Präsidenten Macron und EU-Kommissionschef Juncker geforderten Vertiefung der Europäischen Währungsunion. Der Aufruf verbreitete sich schnell in Deutschland und ganz Europa.
Die Kritiker des Aufrufs äußerten, dass es zur Haftungsunion keine Alternative gäbe, wenn der Euro beibehalten werden solle (IW-Direktor Hüther, DIW-Präsident Fratzscher). Zudem seien viele Ökonomen anderer Meinung (Wirtschaftsweise Schnabel). Ein weiterer Kritikpunkt war, dass der Aufruf keine Alternative zur Haftungsunion enthalte. Das ist nur bedingt richtig, weil Ansatzpunkte für Reformen genannt werden, die in der Folge näher erläutert werden.
Der wichtigste Schritt für eine erfolgreiche Therapie ist die Ursachenanalyse. Die europäische Finanz- und Schuldenkrise hat zwei Gründe:[1] Erstens hat die Währungsunion einen Konstruktionsfehler: Eine einheitliche Geldpolitik ist mit 19 unterschiedlichen nationalen Finanzpolitiken verbunden. Nach Einführung des Euros bewirkten gegensteuernde Finanzpolitiken (Ausgabenzurückhaltung in Deutschland, Mehrausgaben in den Südländern) unterschiedliche Konjunkturen in Europa (Flaute in Deutschland, Boom im Süden), die die Wirksamkeit der Geldpolitik unterminierten: Der von der Europäischen Zentralbank (EZB) gesetzte Zins war für Deutschland zu hoch (was dort die Flaute verstärkte) und für den Süden zu tief (was dort die Übertreibungen verstärkte).
Zweitens hat die EZB nach dem Platzen der Dotcom-Blase (2000) den Zins zu tief gesetzt, was im Süden der Währungsunion viele Investitionen mit geringer Rendite, Spekulation auf den Immobilienmärkten und überbordende Staatsausgaben begünstigte.
Die aus beiden Faktoren entstandene Finanz- und Schuldenkrise wird von der EZB mit drei Instrumenten bekämpft: Null- und Negativzinsen, Anleihekäufe im Umfang von bald 2550 Milliarden Euro sowie die quasi bedingungslose Kreditvergabe an die Krisenländer über die sogenannten TARGET2-Salden des Systems der Europäischen Zentralbanken.
Alle drei Faktoren haben bewirkt, dass im Süden bei Unternehmen, Banken und Staaten wichtige Reformen unterblieben sind. Es ist eine große Anzahl von sogenannten Zombie-Banken und Zombie-Unternehmen entstanden, deren Überleben von der EZB abhängt. Der Macron-Juncker-Vorschlag dürfte darauf abzielen, die zinslosen Kreditlinien ohne Rückzahlungsvereinbarung zu verstetigen bzw. in Transferzahlungen umzuwandeln. Dies ist kritisch, weil dadurch die Produktivitätsgewinne und das Wachstum in Europa auf Dauer gelähmt würden.
Eine nachhaltige Alternative zur Haftungsunion hat zwei Pfeiler. Erstens gilt es, zeitnah die Ankäufe von Staats- und Unternehmensanleihen einzustellen und die Zinsen anzuheben. Die Geldpolitik ist immer noch locker, obwohl sich die Konjunktur überall in Europa erholt hat. Schon führt das billige Geld zu neuen Risiken: In vielen deutschen Städten wachsen Immobilienblasen, der deutsche Arbeitsmarkt ist überhitzt. Die vom billigen Geld aufgeblähten Staatsbudgets verleiten die Regierungen – wie in Südeuropa vor der Krise – zu zahlreichen zusätzlichen Ausgabenverpflichtungen, die sich nach dem Platzen der Blase als nicht mehr finanzierbar herausstellen dürften.
Würden die umfangreichen Staatsanleihekäufe eingestellt bzw. die Bestände von Staatsanleihen in der Bilanz der EZB reduziert, dann müssen alle Regierungen im Eurogebiet ihre Ausgaben straffen und reformieren. Ansonsten würden steigende Zinslasten die öffentlichen Budgets blockieren. Mit steigenden Finanzierungskosten würde der Druck auf die Unternehmen wachsen, die Effizienz zu steigern. Die Marge zwischen Kredit- und Einlagenzinsen als wichtigster traditioneller Einkommensquelle der Geschäftsbanken würde wieder wachsen. Die Banken hätten dann einen größeren Puffer, um ihre Bilanzen von faulen Krediten zu bereinigen. Durch die daraus resultierenden Produktivitätsgewinne würde das Potenzial für reale Lohnerhöhungen wieder zunehmen, die Nachfrage steigen und die Investitionen wiederbelebt.
Da die oben genannten Anpassungsprozesse Zeit brauchen, sollte die EZB den Zins nur sehr langsam anheben, z. B. um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr über einen Zeitraum von ca. zehn Jahren hinweg. Der Zinsanstiegspfad müsste als unumkehrbar kommuniziert werden. Denn würde antizipiert, dass bei ersten Instabilitäten auf den Finanzmärkten der Ausstiegspfad unterbrochen würde, dann würden die Reformen erst gar nicht angegangen.
Zweitens sollte der institutionelle Rahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken reformiert werden. Da mit dem derzeit praktizierten Prinzip „Ein-Land,-eine-Stimme“ eine Koalition vieler Länder auf Kosten eines großen Landes leben kann, sollten Stimmrechte und Haftung zusammenfallen. Da Deutschland derzeit einen Kapitalanteil an der EZB von ca. 26 Prozent unter den an der Währungsunion beteiligten Ländern hat, sollte es auch 26 Prozent der Stimmen bei den geldpolitischen Entscheidungen haben. Zudem sollte jedes Land grundsätzlich das Recht auf Austritt (und Wiedereintritt) aus der (in die) Währungsunion haben.
Es sollten die Salden des TARGET2-Interbankenzahlungssystems regelmäßig geschlossen werden. TARGET2 wurde als Zahlungssystem für den Euroraum entwickelt, hat sich mit der Krise aber gleichzeitig zu einem zins- und bedingungslosen Kreditmechanismus entwickelt. Weil die Krisenländer Italien, Spanien, Portugal und Griechenland Kredite in Höhe von 950 Milliarden Euro erhalten haben, konnten dringend notwendige Reformen verschleppt werden.[2] Hilfskredite für Mitgliedsländer sollten einzeln verhandelt werden und mit Bedingungen für Strukturreformen sowie mit der Verpflichtung zur Rückzahlung verbunden sein. Zudem sollten sie in den Geberländern einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen.
Mit der geldpolitischen Straffung und dem Schließen der TARGET2-Salden dürften einige Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion vor die Wahl gestellt werden, ob sie reformieren, um ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, oder austreten. Die meisten Länder werden verbleiben, weil ein stabiler Euro den innereuropäischen Handel und das Wachstum begünstigt. Für die Länder, die sich für den Austritt entscheiden, muss ein geordnetes Austrittsverfahren entwickelt werden. Es muss auch ein Insolvenzrecht für Staaten geben, da der Austritt aus dem Euro mit einer Abwertung der neuen Währungen verbunden sein wird. Die in Euro fixierte Verschuldung würde gerechnet in der neuen Währung aufgebläht, so dass eine internationale Zahlungsunfähigkeit bei Austrittsländern wahrscheinlich ist.
Da unterschiedliche Konjunkturentwicklungen ein maßgeblicher Grund für die europäische Finanz- und Schuldenkrise waren, müssen die Kapitalmärkte besser integriert werden. Wenn sich die Geschäftstätigkeit der Banken der Euroländer gleichmäßiger über das Eurogebiet verteilen würde, dann würden höhere Risiken in Euroländern in der Rezession durch geringere Risiken in Euroländern im Boom ausgeglichen. Eine Grundvoraussetzung ist es, dass zu niedrige Leitzinsen, die spekulative Übertreibungen und damit Krisen herausfordern, ausgeschlossen werden.
Die sehr hohe Staatsverschuldung in vielen Euroländern hat den Druck auf die EZB erhöht, durch Staatsanleihekäufe die Zinslasten der Euroländer niedrig zu halten. Derzeit müssen Banken für Staatsanleihen in ihren Bilanzen keine Risikovorsorge betreiben, obwohl bei einigen Staaten ein deutliches Ausfallrisiko besteht. Diese privilegierte Risikovorsorge für das Halten von Staatsanleihen im Rahmen von Basel III muss also beendet werden.
Die Haftungsunion lähmt das Wachstum in Europa und begünstigt so Unzufriedenheit und politische Polarisierung. Deshalb gilt es, zeitnah aus ultra-lockerer Geldpolitik und bedingungsloser Kreditvergabe auszusteigen. Dieser Weg ist nicht einfach. Aber er lohnt, weil nur so die Errungenschaften des europäischen Integrationsprozesses gesichert werden.
Literatur:
Schnabl, Gunther (2018): Exit Strategies from Monetary Expansion and Financial Repression. Cato Journal 38, 2.
[1] Zu Details siehe: Schnabl, Gunther (2017): The Failure of ECB Monetary Policy from a Mises-Hayek Perspective. CESifo Working Paper 6388.
[2] Die TARGET2-Forderungen der Deutschen Bundesbank gegenüber der EZB liegen derzeit bei 923 Milliarden Euro. Bei einem Auseinanderbrechen des Eurosystems wären diese mit hoher Wahrscheinlichkeit verloren.
Autor:
Prof. Dr. Gunther Schnabl ist Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.