Mario Vargas Llosa: Die Wahrheit ist niemals endgültig
Mit diesem literarisch-ökonomischen Essay legt der peruanische Literaturnobelpreisträger die Gedankentiefe des Liberalismus frei und zeigt, dass die liberale Lehre unabhängig von Parteien und politischem Geklapper vor allem zu einem fähig ist: die Demokratie zu stärken.
Marxist, Kommunist, radikaler Gegner von Totalitarismus und Diktatur, Adam Smith-Verehrer, Karl-Popper-Gläubiger, liberaler Präsidentschaftskandidat und Literatur-Nobelpreisträger ⎼ was divers klingt, ist eine Person: Mario Vargas Llosa. Die bunte Kette der Titulierungen zeigt den langen, irrenden, suchenden und aufregenden politischen Weg, den dieser bemerkenswerte Autor in den vergangenen acht Jahrzehnten hinter sich gelassen hat. Sein neuestes Buch „Der Ruf der Horde“ ist nicht nur ein literarisches und politisch temperamentvolles Plädoyer für den Liberalismus, sondern auch eine „intellektuelle Autobiografie“ des großen Literaten ⎼ ein Buch voller persönlicher Eindrücke, Verfehlungen, glücklicher Wendungen und Einsichten.
Aversion gegen autoritären Sozialismus
So beschreibt Llosa zunächst, wie er bereits im Alter von zwölf Jahren politisiert wurde: Durch einen Militärputsch in Peru wurde der Präsident, ein Verwandter der Familie, gestürzt. Dass Llosa in einer privilegierten Minderheit aufwuchs, wurde ihm erst später bewusst, sodass er sich nach und nach für den kommunistisch-marxistischen Weg interessierte. Bis weit in die 60er-Jahre begeisterte er sich für Fidel Castros Revolution in Kuba. Erst allmählich brachte ihn die Erfahrung, die er in der damaligen UdSSR und in Kuba mit Willkürherrschaft und Dissidentenverfolgung gemacht hatte, allmählich von dieser Begeisterung ab. In einem „jahrelangen, vor allem intellektuellen Prozess“ entschied er sich schließlich für den Liberalismus.
Ausgerechnet die konservativen und umstrittenen Regierungen von England und den USA unter Margret Thatcher und Ronald Reagan inspirierten ihn. Denn beide hielt er ⎼ trotz ihrer fast reaktionären Position in vielen gesellschaftlichen Fragen ⎼ in ihren politischen Überzeugungen für „zutiefst liberal“. Zu ihren Reformen, schreibt Llosa, gehörte nämlich „die Verteidigung der demokratischen Kultur und die Bekräftigung der moralischen und materiellen Überlegenheit der liberalen Demokratie über den autoritären, korrupten und wirtschaftlich ruinierten Sozialismus, was schließlich auf die ganze Welt ausstrahlte“.
Sieben Säulenheilige
Kern seines Buches sind die prägnanten und sehr lesenswerten Kurzporträts seiner sieben internationalen Gedanken-Heroen, die seine heutige politische Identität gebildet haben. Dazu gehören die drei Philosophen und Ökonomen, denen Llosa nach eigener Aussage „am meisten zu verdanken“ hat: Karl Popper (1902-1994), Friedrich August von Hayek (1899-1992) und Isaiah Berlin (1909-1997). Zu seiner „Leib- und-Magen-Lektüre“ zählen vor allem Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ und Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“. Die weiteren Porträts gelten Adam Smith (1723-1790), José Ortega y Gasset (1883-1955), Raymond Aron (1905-1983) und Jean-François Revel (1924-2006).
Anekdotisch und geradezu lebendig wird das Buch stets dann, wenn er von seinen persönlichen Begegnungen mit dem Polit-Spitzenpersonal seiner Zeit berichtet ⎼ aber auch von intellektuellen Plauderstündchen mit Schriftstellern wie V.S. Naipaul, Al Alvarez oder Tom Stoppard. Solche Begegnungen mögen für einen Literatur-Nobelpreisträger nicht ungewöhnlich sein, doch die jeweiligen Gesprächspartner bilden ebenso seine Wandlung zum überzeugten Liberalen ab. „Liberale sind undogmatisch“, meint Llosa heute, „sie wissen, dass die Wirklichkeit komplex ist und dass politische Ideen und Programme sich, sollen sie Erfolg haben, anpassen müssen: dass man die Wirklichkeit nicht starren Konzepten unterordnen darf, sie wären sonst zum Scheitern verurteilt.“
Gegen den Ruf der Horde
Als „Kinderkrankheit“ des Liberalismus identifiziert er ⎼ wie andere Kritiker auch ⎼ den Glauben, gesellschaftliche Probleme mit dem Allheilmittel des „freien Marktes“ lösen zu können. Da sich nun aber im Laufe der vergangen zwei Jahrzehnte die politischen Gegner, bedingt durch die globale Finanzkrise, stärker denn je auf den Liberalismus und speziell auf den Neo-Liberalismus eingeschossen haben, fühlt sich Llosa, der sich 1990 um das Präsidentenamt seines Heimatlandes Perus beworben hatte, aber gegen den populistischen Kandidaten Fujimori unterlag, nun aufgerufen, die liberale Lehre (die für ihn nicht mit einer liberalen Partei zu verwechseln ist) mit seinem jetzt vorliegenden Buch zu verteidigen. Denn sie steht für ihn für „die am weitesten entwickelte Form der demokratischen Kultur“. In der freien Gesellschaft habe sie die größten Fortschritte gebracht: bei den Menschenrechten, der Meinungsfreiheit, den Rechten sexueller, religiöser und politischer Minderheiten, dem Umweltschutz und der Bürgerpartizipation im öffentlichen Leben. Letztlich sei sie es, die vor populistischen Tendenzen und Machenschaften und damit vor dem ewigen „Ruf der Horde“ schütze.
Fazit
Llosas ökonomisch-literarischer Essay ist anregend, vorurteilsfrei und schnörkellos geschrieben. Auch wenn sich seine Gedankenwelt auf große Ideen vergangener Heroen bezieht, bleiben seine referierten Thesen doch hochaktuell. Sie machen möglich, auch Fragen unserer Zeit in ihrer Komplexität besser zu begreifen. Llosa startet nicht den Versuch, auch nur ansatzweise an seine sieben großen Vorbilder heranzureichen. Das wäre auch kaum möglich. Was ihm aber gelingt, sind eindrucksvolle Porträts von sieben Männern, deren Thesen zeitlos sind und bleiben. Die Darstellung der sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten und ihrer Theorien macht deutlich, dass es zum einen widersprüchliche Wahrheiten gibt. Doch zum anderen muss eine gesunde Demokratie sie akzeptieren können. Dass die Ideale der Menschen sie einander feindlich gegenüberstehen lassen, heißt für Llosa nicht, dass „wir verzweifeln oder uns für machtlos erklären müssen“. Es heißt nur, „dass wir uns über die Bedeutung der Wahlfreiheit bewusst werden müssen“. Llosa rät allen, „wachsam zu bleiben und die Gedanken, Gesetze und Werte, die unsere Welt regieren“, immer wieder auf die Probe zu stellen. Wahrheit ist niemals endgültig, sondern entsteht stets wieder neu.
Autor:
Dr. Martin Roos ist freiberuflicher Journalist. Er arbeitet als Autor, Ghostwriter und Redenschreiber für Unternehmen und Topmanager.