Liquidität bis zum Abwinken – die kurze und die lange Frist
Die lockere Geldpolitik der EZB zeigt Wirkung: Die Finanzmärkte werden beruhigt, die Zinsen auf Staatsanleihen sinken, die Industrie erhält billige Kredite für Investitionen und durch die Abwertung des Euro boomt der Export. Doch das dicke Ende steht noch bevor: Denn erst in der langen Frist werden die Kosten des Geldregens sichtbar.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat mit ihrer jüngsten drastischen Lockerung der Refinanzierungsbedingungen für Geschäftsbanken die europäischen Finanzmärkte stabilisiert. In Kombination mit den Bemühungen um mehr europäische Haushaltsdisziplin, scheint Europa – geführt von der deutschen Kanzlerin Merkel – auf dem richtigen Weg aus der Krise.
Die Liquidität bis zum Abwinken stabilisiert Europa über fünf Kanäle. Erstens werden aufgrund der verbesserten Refinanzierungsbedingungen die europäischen Finanzmärkte „beruhigt“. Insbesondere deshalb, weil die EZB Wertpapiere mit schlechterer Bonität gegen frische Liquidität tauscht. Zweitens stabilisieren sich die Zinslasten schuldengeplagter Regierungen. Die Käufe von Anleihen europäischer Krisenstaaten durch die EZB verhindern im Süden der Eurozone Staatsbankrotte. Drittens kann in der Industrie mit Hilfe billiger Kredite mehr investiert werden. Viertens wird durch Euro-Abwertung das Exportwachstum belebt. Durch alle vier Kanäle wird Arbeitslosigkeit vermieden, was, fünftes, politischer Instabilität entgegenwirkt. Keynes soll leben!
Auf die kurze Frist zumindest. Denn auf die lange Frist werden die Kosten des Geldregens unter dem italienischen Zentralbankpräsidenten Draghi sichtbar werden. Denn konvergiert der Zins für längere Zeit gegen Null – was sich nach Japan seit 1999 nun auch für die USA und das Eurogebiet abzeichnet –, dann werden Signal- und Allokationsfunktion des Zinses außer Kraft gesetzt. Die monetäre Expansion der Europäischen Zentralbank kaschiert das Warnsignal steigender Risikoprämien auf Staatspapiere, so dass der Zwang zum Schuldenabbau verloren geht. Pläne für Strukturreformen können – zum Beispiel in Griechenland, Portugal oder Italien – ad acta gelegt werden, so dass Arbeits- und Gütermärkte verkrustet bleiben. Leistungsbilanzungleichgewichte bleiben bestehen. Strukturelle Verzerrungen, die aus Übertreibungen auf Immobilien-, Aktien- und Finanzmärkten resultieren, werden nicht bereinigt, sondern zementiert. Ein weit überdimensionierter und zügelloser Finanzsektor wird weiter aufgebläht. Die Gewinnmöglichkeiten für Spekulanten bleiben hoch und frappierende Einkommensungleichheiten wachsen weiter.
Kurz: Die geldpolitische Therapie von heute ist die Ursache für Spekulation, unkontrollierte Staatsverschuldung, Krisen, Stagnation, soziale Ungerechtigkeit und politische Instabilität von morgen. Aus dieser Perspektive müssen auch die jüngsten Pläne zu europaweiten Schuldenbremsen nüchtern betrachtet werden. Schuldenabbau ist keine Kunst, wenn dieser nicht durch Ausgabenkürzung und Besteuerung, sondern über die Notenpresse erfolgt, wie sich das der französische Präsident Sarkozy wünscht – und offensichtlich bekommt. Nur Schuldenregeln in Kombination mit einem deutlich höheren – Spekulationsblasen-neutralen – Zinsniveau sind der Königsweg zu einer europäischen Stabilitätsunion. Davon sind wir nach den jüngsten Beschlüssen der europäischen Geldpolitik – trotz scheinbar solider Fiskalunion – weiter denn je entfernt.
Autor:
Prof. Dr. Gunther Schnabl ist Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.