Kalte Progression – ein ewiges Problem

Die Steuereinnahmen steigen auf einen neuen Rekord.Die Bekämpfung der kalten Progression ist ein Dauerbrenner. Bisher ist eine systematische Korrektur ausgeblieben. Obwohl die Kassen prall gefüllt sind, wird es dabei vermutlich bleiben.

Seit Jahrzehnten ist das deutsche Einkommenssteuerrecht so gestaltet, dass bei einem Anstieg der Einkommen die Steuerschuld überproportional steigt. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Einkommen inflationsbedingt oder real steigen. Erhält ein alleinstehender Arbeitnehmer mit einem Bruttomonatslohn von 3500 Euro im Jahr 2015 eine Lohnerhöhung um 2 %, also in Höhe der Inflationsrate, so steigen die Lohnsteuerschuld und der Solidaritätszuschlag um je 3,4 %. Der Nettolohn nimmt, wenn man die Sozialversicherungsbeiträge vernachlässigt, um 1,7 % zu. Inflationsbereinigt ergibt sich ein Minus von 0,3 %. Bei einer Lohnerhöhung um 3 % resultiert ein Plus von real nur 0,5 %. Man spricht von der kalten Progression. Treffender sollte man von heimlichen oder – noch besser – von unheimlichen Steuererhöhungen reden. Letztlich „erschleicht“ sich der Staat Geld, das dann den Bürgern in der Tasche fehlt.

Die unheimlichen Steuerhöhungen belaufen sich in dem Zeitraum 2015 bis 2018 auf 5,5 Mrd. Euro je Jahr: Das zu versteuernde Einkommen steigt bei unverändertem Recht stärker als das erzielte Einkommen, weil bestimmte Abzugsbeträge – wie etwa der Werbungskostenpauschbetrag – konstant sind. Zudem nimmt der durchschnittliche Steuersatz mit steigendem zu versteuernden Einkommen zu. Es entstehen Jahr für Jahr inflationsbedingt Steuermehreinnahmen in Höhe von reichlich 3,5 Mrd. Euro. Hinzu kommen knapp 2 Mrd. Euro je Jahr, die aus der Zunahme der Realeinkommen resultieren; darüber redet freilich kein Politiker.

In den vergangenen 60 Jahren ist es nicht gelungen, dieses Phänomen systematisch zu beseitigen. Zum einen verzichtet die Politik höchst ungern auf die Mehreinnahmen. Zum anderen lassen sich Korrekturen des Einkommensteuertarifs wählerwirksam als Steuersenkung verkaufen. Doch klar ist: Der Verzicht auf „heimliche“ Steuererhöhungen ist keine Steuersenkung. Eine Finanzierung durch eine Mehrbelastung der Spitzenverdiener ist nicht notwendig. Im Gegenteil: Auch Spitzenverdiener müssen bei Maßnahmen zur Vermeidung der kalten Progression einbezogen werden.

Der deutsche Staat leidet an vielem, aber nicht an Unterfinanzierung. Im ersten Quartal 2014 erreichte das Steueraufkommen mit 55,4 Milliarden Euro einen absoluten Rekord.  Im Jahr 2014 insgesamt ist mit einem Steueraufkommen in Höhe von 640 Mrd. Euro zu rechnen. Geld ist also genug da.

Statt heimlich die Steuern zu erhöhen, sollte die Politik die kalte Progression systematisch beseitigen, indem man den Steuertarif auf Räder stellt. Der Tarif sollte nicht nur Jahr für Jahr entsprechend der Inflationsrate korrigiert werden, er sollte auch Jahr für Jahr entsprechend der Entwicklung der Realeinkommen angepasst werden. Die Hintertür für Steuererhöhungen bliebe dann versperrt.

Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte muss und darf dabei natürlich nicht aus dem Fokus rücken. Ein ausgeglichener Haushalt ist ohne Weiteres ohne Mehreinnahmen infolge der kalten Progression möglich. Dazu muss man nur die Ausgabenseite in den Blick nehmen. Es gibt genügend Subventionen, die man mit einem Federstrich streichen könnte. „Jede Ausgabe des Staates beruht auf einem Verzicht des Volkes“ – so wird Ludwig Erhard zitiert. Jetzt muss der Verzicht des Staates zu Gunsten des Volkes kommen.

Autor:

avaris

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