Jede Innovation ist disruptiv: Warum aus Deutschland keine großen Erfindungen mehr kommen
In Deutschland herrscht ein innovationsfeindliches Klima. Staatliche Forschungsförderung und Regulierung kreieren keine echten Innovationen. /// Der zweite Beitrag unserer Serie „Innovation und Disruption“, verfasst von Peter Heller, widmet sich der Frage, wieso die hiesige Forschungsförderung echte Innovationen ausbremsen.
Jede hinreichend fortgeschrittene Gesellschaft steht technischen Fortschritten mit zunehmender Ablehnung gegenüber. Innovationen stellen den Wert des Etablierten in Frage, und kaum etwas scheuen Menschen mehr als eine Veränderung der Umstände, unter denen sie Wohlstand erringen konnten, in denen sie sich eingerichtet und an die sie sich gewöhnt haben. Man trachtet höchstens noch danach, zu bewahren und zu beschützen, was man bereits hat, weil jeder Gedanke an Verbesserungen mit der unbequemen Erkenntnis verbunden ist, wohl doch noch nicht in der bestmöglichen Welt zu leben. Manche Errungenschaft wird gar freiwillig und ohne Not aufgegeben, könnte ihre Nutzung doch neue, unbekannte und daher nicht einschätzbare Wege öffnen. Unter allen trägen, diesem Wunsch nach Zukunftsvermeidung anheimgefallenen Gesellschaften kommt der deutschen eine besondere Stellung zu. Denn in keinem anderen Land klaffen Selbstbild und Realität so weit auseinander. Wir sind ziemlich gut darin, uns Innovationskraft einzureden, obwohl doch hierzulande schon lange keine mehr zu finden ist.
Vergleichsweise kurz war die Epoche, in der Innovationen aus Deutschland die Welt prägten. Sie begann 1852, als Alfred Krupp den nahtlosen Radreifen für die Eisenbahn entwickelte, und endete 1919 mit dem Erstflug der von Hugo Junkers konstruierten F 13. Davor beschränkte sich die kreative Leistung hiesiger Tüftler auf die Übernahme und Adaptierung britischer Technologie, und danach kann man nur noch eine gelegentliche, mittelbare Beteiligung deutscher Ingenieure an den Umwälzungen geltend machen, die die Gegenwart definieren. Bis heute ist unsere Volkswirtschaft von den Wertschöpfungsketten abhängig, die bereits das Kaiserreich trugen, ob im Maschinen- und Fahrzeugbau, in der Grundstoffproduktion, in der chemischen oder der elektrotechnischen Industrie. Natürlich kann man gut davon leben, technische und ökonomische Risiken zunächst den Pionieren anderswo zu überlassen, um später nur das zu optimieren, was sich bereits bewährt hat. Aber dann sollte man sich nicht einbilden, innovativ zu sein. Nein, seit hundert Jahren hat dieses Land nichts wirklich Neues mehr hervorgebracht.
„Man hat vergessen, was Innovationen sind und woher sie kommen.“
Trotzdem herrscht der Konsens, das Gegenteil wäre der Fall. Eine Selbsttäuschung, die mit einer vernebelnden und in vielen Aspekten schlicht irreführenden Deutung des Begriffes „Innovation“ einhergeht. So klebt man inkrementellen Verbesserungen, zu denen die deutsche Wirtschaft unbestreitbar fähig ist, mit großem Eifer das Etikett „innovativ“ an und hält dadurch die Wohlfühlatmosphäre aufrecht, in der sich Unternehmen und Politik gegenseitig bestätigen, auf dem richtigen Weg zu sein. Dieser stellt jedoch eine Sackgasse dar, in die man von der Illusion gelenkt wurde, der Fortschritt richte sich nach politischen Wünschen, deren Erfüllung man erzwingen könnte. Tatsächlich bremsen selbst vermeintlich wohlmeinende staatliche Eingriffe die Kreativität von Unternehmern aus, wenn sie sie nicht gleich verhindern. Man hat vergessen, was Innovationen sind und woher sie kommen.
Innovationen entstehen nicht in der Wissenschaft
Ohne Zweifel verfügt Deutschland über eine vielfältige und gut ausgebaute Forschungslandschaft. Insbesondere die Einrichtungen der ingenieurtechnischen Disziplinen an Hochschulen, in der Fraunhofer-Gesellschaft und in der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt weisen ein exzellentes, auch im internationalen Vergleich herausragendes Niveau auf. Ein substantieller Teil der staatlichen Forschungsförderung fließt in den Versuch, dort die Generierung neuen Wissens zu unterstützen und dieses in die Wirtschaft zu transferieren. Getreu dem naiven Ansatz, vor allem die Entdeckungen von Forschern würden Möglichkeiten für neue Produkte aufzeigen. Als ob Alfred Krupp zunächst von einem klugen Professor über die atomaren Strukturen metallischer Legierungen aufgeklärt worden wäre oder Hugo Junkers erst ein Studium der Aerodynamik absolviert hätte. In Wirklichkeit hatten beide überhaupt nicht die Möglichkeit, auf für sie nützliche wissenschaftliche Erkenntnisse zurückzugreifen, da es diese in ihrer jeweiligen Zeit noch nicht gab. Ebenso verfügten Newcomen und Watt nicht über thermodynamische Beschreibungen von Wärmekraftmaschinen, Siemens und Edison ahnten nichts von der Existenz eines Elementarteilchens namens Elektron, und Röntgen kannte nicht die wahre Natur der von ihm entdeckten Strahlung.
Es interessiert den Ingenieur schlicht nicht, warum etwas funktioniert und wie es modellhaft in den größeren Rahmen einer abstrakten Weltbeschreibung eingeordnet werden kann. Er betrachtet natürliche Phänomene und Prozesse allein mit der Motivation, sie artifiziell auszulösen, auszurichten und zu regeln, um einen bestimmten Effekt hervorzurufen. Tatsächlich sind die Natur- und Technikwissenschaften die Kinder technischer Innovationen und nicht deren Eltern. Erst waren die Uhr und das Getriebe, dann die theoretische Mechanik. Erst waren Kunststoffe wie Gummi oder Zelluloid und dann die moderne Chemie.
Erst waren mechanische, elektromechanische und elektronische Rechenmaschinen und dann die Informatik. Der Mensch züchtet seit mehr als zehntausend Jahren Pflanzen und Tiere gemäß seinen Bedürfnissen, wie aber die genetische Information in den Zellen codiert wird, weiß er erst seit sieben Jahrzehnten. Der Fortschritt führt den Forscher, er zeigt ihm auf, in welche Richtung den Blick zu lenken sich lohnt. Dabei erzeugt er nicht Innovationen, sondern gebraucht sie, um der Natur die für den Erkenntnisgewinn tauglichen Fragen auf die geeignete Weise zu stellen. Die staatliche Alimentierung der Wissenschaft mit der Anforderung zu verknüpfen, sie müsse der Wirtschaft nutzen, schadet hingegen beiden Seiten. Solche Vorgaben schränken auf strukturelle Weise die Forschungsfreiheit ein und erschweren das Ausbrechen aus dem Rahmen des Bestehenden.
„Die deutsche Innovationsschwäche ist also paradoxerweise auch eine unmittelbare Folge der deutschen Forschungsstärke.“
Die deutsche Innovationsschwäche ist also paradoxerweise auch eine unmittelbare Folge der deutschen Forschungsstärke. Letztere versetzt uns zwar in die Lage, bereits perfekte Fräsmaschinen weiter zu perfektionieren, damit dies aber wirklich gelingt, sind enorme Ressourcen zu bündeln. Für alternative Ansätze, man denke an den 3D-Druck, fehlt dann die Kraft. Die bringen eben andere auf, anderswo.
Der Krieg ist nicht die Mutter aller Dinge
Als Napoleons Armeen durch Europa zogen, war die Dampfmaschine schon seit fast hundert Jahren im Einsatz. Trotzdem hatten seine Soldaten weder Eisenbahnen noch Dampfwagen zur Verfügung, um sich selbst und ihre Ausrüstung zu bewegen. Auch auf den Meeren trugen immer noch Segelschiffe die Gefechte aus. Obwohl also mehrere Generationen von Fürsten und Feldherren die Maschinen Newcomens und Watts dabei beobachten konnten, wie sie das Wasser aus britischen Bergwerken pumpten, erkannten sie deren wahre Potentiale nicht. Obwohl doch parallel zahlreiche Erfinder dampfgetriebene Fahrzeuge aller Art immer wieder der staunenden Öffentlichkeit präsentierten, blieben die Militärs blind. Dabei hätten sie mit entsprechenden Investitionen die Entwicklungen, die sich erst im 19. Jahrhundert einstellten, um Jahrzehnte beschleunigen können. Ein Muster, das sich weiter fortsetzte. Als die österreichische Tochter der Daimler-Motoren-Gesellschaft im Jahr 1906 dem Kaiser Franz Joseph einen der ersten Panzer vorführte, scheuten die Pferde der anwesenden Offiziere. Worauf der betagte Monarch der neuen Waffe jegliche Einsatztauglichkeit absprach. Die Flugzeug- und Raketenpioniere der damaligen Zeit erlebten Ähnliches.
Es gibt kein einziges gutes Beispiel für eine Innovation, die aus der militärischen Forschung in zivile Massenmärkte diffundiert wäre. Die industrielle Revolution ist nicht durch den Wunsch nach neuen Legierungen für Kanonen ausgelöst worden, Spinnmaschinen und mechanische Webstühle dienten nicht zuvorderst der Herstellung von Uniformen, weder die Eisenbahn noch das Auto oder das Flugzeug sind in geheimen, mit weltentrückten Spitzenwissenschaftlern bestückten unterirdischen Laboratorien der Rüstungsindustrie entstanden.
Es wäre aus militärischer Sicht auch kontraproduktiv, auf neue und daher unvermeidbar unausgereifte und fehleranfällige Systeme zu vertrauen. Stattdessen saugt man lieber auf, was sich im zivilen Gebrauch bereits bewährt hat, um es für kriegerische Zwecke zu modifizieren. Und die sichtbaren Resultate dieses Vorgehens, ob U-Boot oder Rakete, ob Kampfflugzeug oder Artillerie, sind allein schon deswegen keine Innovationen, weil sie nicht wirklich dem Markt zur Verfügung stehen. Und selbst wenn man Schützenpanzer online bestellen oder im Autohaus seiner Wahl zur Probe fahren könnte, was wollte man im Alltag mit einem solchen denn anfangen?
Tatsächlich ist das Wirken des häufig so betitelten „militärisch-industriellen“ Komplexes, ein mit Vorsicht vor Verschwörungstheorien zu verwendender Begriff, in Bezug auf technische Weiterentwicklungen eher kontraproduktiv. Er bindet Mittel und einfallsreiche Techniker, die dann der übrigen Wirtschaft fehlen. Er arbeitet dem Wesen seiner Motive entsprechend introvertiert, obwohl doch vor allem der freie Austausch von Ideen die Phantasie der Entwickler anregt. Und er grenzt durch die selbstsüchtige Durchsetzung seiner als elementar kommunizierten Eigeninteressen viele Technologien auf enge Entwicklungspfade ein. So verankerte das Manhattan-Projekt die Kerntechnik in der öffentlichen Wahrnehmung als staatlicherseits zu fordernde und zu fördernde „Großtechnik“, die nur in einem künstlich geschaffenen institutionellen Rahmen gedeihen könne, der Großforschungseinrichtungen, Großindustrie, Verwaltung und das Militär einschließt. So legten die Bestrebungen, Kriegsschiffe mit nuklearen Antrieben auszustatten, die zivile Nutzung der Kernenergie auf den Leichtwasserreaktor als Stromproduzenten fest, obwohl es doch Hunderte effektivere und effizientere Konzepte für eine Vielzahl an Anwendungen gäbe.
„Was für den Mond ist, bietet den Menschen auf der Erde keinen unmittelbaren Nutzen.“
Auch Mondraketen und Raumstationen sind keine Innovationen. Zumal eine vorwiegend von politischen und militärischen Interessen geleitete Raumfahrt aufgrund ihrer Aversion gegen alle Risiken nicht etwa modernste, sondern in Bezug auf den irdischen Standard im Grunde veraltete Dinge in den Weltraum bringt. Nicht das Apollo-Programm selbst ist eine der Säulen, auf der die gegenwärtige Innovationskraft der USA beruht. Es war die Entscheidung, es gerade noch rechtzeitig zu beenden, durch die mehr als zehntausend hochqualifizierte und inspirierte Ingenieure im besten Alter die Wirtschaft befruchten und die Grundsteine für völlig neue Branchen schaffen konnten. Vorhergesehen, erwartet oder gar intendiert hatten das allerdings weder die Politik noch die involvierten Rüstungsfirmen. Man sollte dies bedenken, sobald mal wieder die Metapher vom „Mondprogramm“ für politisch ausgerufene Entwicklungsziele verwendet wird. Was für den Mond ist, bietet den Menschen auf der Erde keinen unmittelbaren Nutzen.
Regulierung schadet
Zur gelenkten Wissenschaft und zu den auf politische Verwertbarkeit ausgerichteten Großprojekten gesellen sich Regulierungen als dritte Variante der Maßnahmen, die gemeinhin als innovationsfördernd betrachtet werden. Getreu der Devise, das Neue könne andernfalls nicht entstehen oder sich gegen das Etablierte nicht durchsetzen, erzwingt man es oder stellt es durch rechtliche Bevorzugung und umfangreiche Subventionierung künstlich besser.
Dieser planwirtschaftliche Ansatz ignoriert die Notwendigkeit eines fruchtbaren, aus den vielfältigen Verknüpfungen von technischen Systemen miteinander und mit ihren Vorläufern bestehenden Bodens als Basis für Innovationen. Nein, die Römer hätten die Dampfmaschine niemals bauen können, da sie für eine solche weder die geeigneten Materialien herstellen noch diese in geeigneter Weise verarbeiten konnten. Ohne solche Materialien wiederum wäre es nicht möglich gewesen, nach Erdöl zu bohren, und ohne Erdöl gäbe es keine Kunststoffe und damit keine Elektronik. Und ohne diese keine Computer, die nicht nur dabei helfen, noch bessere Materialien zu entwickeln, sondern auch noch bessere Computer zu entwerfen. Die Technik schafft durch solche Rückkoppelungen erst die Voraussetzungen für ihre eigene Entfaltung. Innovationen entstehen nicht sprunghaft, sondern in stetigen Prozessen. Die kreative Leistung des Innovators äußert sich nicht in zufälligen, spontanen Erfindungen, sondern in der intelligenten Verknüpfung des bereits Vorhandenen. Innovationen findet man nicht jenseits des Machbaren, sondern durch das optimale Ausreizen gegebener Möglichkeiten.
Das Auto erschien eben nicht als Ergebnis von Zauberei auf der Bühne. Es beruhte auf einer durch die Textilindustrie vorangetriebenen Werkzeugmaschinentechnologie, mit der Komponenten für Kutschen, Fahrräder und Nähmaschinen präzise und robust genug hergestellt werden konnten, um deren Verbindung zu einer neuen Anwendung zu gestatten. Die mit Lochkarten angesteuerten Jacquard-Webstühle demonstrierten das Konzept programmierbarer Maschinen. In Kombination mit der zunächst als Signalverstärker eingesetzten Elektronenröhre, als deren Vorläufer die Glühbirne genannt werden kann, entstand der Elektronenrechner. Der entpuppte sich, nach Umstellung auf integrierte Schaltkreise, als perfekte Unterhaltungsmaschine. Das wiederum induzierte die Entwicklung immer leistungsstärkerer Grafikchips, mit denen man heute künstliche Intelligenzen auf Basis neuronaler Netze realisiert.
„Man kann nicht eine bestimmte Technologie verhindern, ohne gleichzeitig allen anderen zu schaden.“
Die Pfade der technischen Evolution sind vielfältig und eng ineinander verschlungen. Jedes technische System hängt mit allen anderen zusammen und letztlich von allen anderen ab. Den einen Ast abzusägen schafft nicht etwa mehr Raum für einen alternativen Trieb, sondern reduziert dessen Wachstum und die Zahl der Zweige, die in Zukunft aus diesem noch hervorgehen könnten. Wer beispielsweise den Luftverkehr aus ökologischen Gründen einschränken möchte, schadet der Windenergie, deren Anlagen hinsichtlich ihrer Gestaltung, hinsichtlich der verwendeten Materialien und hinsichtlich der eingesetzten Fertigungsverfahren Ableger des Flugzeugbaus sind. Wer gegen die Kerntechnik, gegen Verbrennungsmotoren oder auch gegen die Gentechnik agitiert, wirbt im Grunde für den Verzicht auf neue Sensortechnologien, auf neue Methoden zur Analyse großer Datenmengen, auf neue Ansätze in der Robotik oder auf neue, korrosions- und hochtemperaturbeständige Materialien, um nur einige Felder zu nennen. Man kann nicht eine bestimmte Technologie verhindern, ohne gleichzeitig allen anderen zu schaden. Wenn Investitionen in die Optimierung von Komponenten, Werkzeugen und Verfahren unterbleiben, stehen deren verbesserte Eigenschaften schließlich auch anderen Anwendungen nicht mehr zur Verfügung. Wer innovativ sein will, darf keine Scheuklappen tragen.
Innovationen lösen keine Probleme
Die staatlich verordnete Einschränkung des Sichtfeldes ist natürlich beabsichtigt. Man teilt Technologien in „gut“ und „böse“, in „falsch“ und „richtig“, in „erwünscht“ und „ungewollt“ ein, strikt einem Ansatz folgend, nach dem Innovationen zur Lösung sogenannter „gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen“ beizutragen hätten, andernfalls wären sie verwerflich. Völlig unabhängig von der Frage, ob Probleme mit einem Klimawandel, einer demographischen Entwicklung oder auch einer Ressourcenverknappung wirklich existieren oder nur konstruiert werden, um Forschungsmittel zu akquirieren, politische Abseitigkeiten zu decken und Wähler mit Angst zu motivieren, liegt in dieser Denkweise der eigentliche Ursprung unserer Innovationsschwäche.
Waren denn Innovationen jemals auf gefühlte oder reale Zukunftsrisiken ihrer Zeit ausgerichtet? Werfen nicht all die Maschinen, Systeme und Strukturen, die seit der industriellen Revolution über uns gekommen sind, die oben angeführten Fragestellungen erst auf? Welchen „gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen“ begegneten denn Telefon oder Filmkamera? Wofür genau waren denn Flugzeuge unbedingt erforderlich? Worin bestand denn in den 1970er Jahren der Beitrag von Industrierobotern, Heimcomputern und Farbfernsehern zur Lösung jener Umwelt- und Versorgungskrisen, von deren baldigem Eintreten damals viele überzeugt waren?
Nein, Innovationen sind keine Hilfsmittel zur Rechtfertigung politischer Ideologien. Nein, Innovationen zielen nicht auf „Gesamtgesellschaftliches“, sondern immer nur auf einzelne, konkrete Menschen in ihren individuellen Lebensumständen. Sie erfüllen deren Bedarfe, ob sich diese nun auf Nahrung, Kleidung und Wohnraum, auf die medizinische Versorgung, auf Mobilität und Kommunikation oder schlicht auf Spaß und Unterhaltung beziehen. Das Neue besticht dadurch, in dieser Hinsicht besser, also effektiver oder effizienter zu sein als das bereits Vorhandene. Natürlich haben nicht nur physische Objekte, Maschinen mit Zahnrädern und Kolben, sondern auch Prozesse, Algorithmen oder Dienstleistungskonzepte dieses Potential. Zu beachten ist aber in jedem Fall, dass am Ende jeder Wertschöpfungskette der privaten Endverbraucher wartet und daher der Erfolg jeder Innovation von der Orientierung an diesem abhängt. Krupps Radreifen lohnte sich nur, weil Menschen mit der Eisenbahn fahren wollten, und Junkers Flugzeuge dienten der Beförderung von Menschen durch die Luft.
Wieder innovativ werden
Innovationen lösen keine Probleme, sie schaffen neue Möglichkeiten. Die skeptische Betrachtung Letzterer zeichnet Deutschland aus. Der unbedingte Wunsch, die Gegenwart zu konservieren und Änderungen nicht zuzulassen, wird durch die Orientierung an den oben geschilderten Fehleinschätzungen perfekt erfüllt. Wer Innovationen an den falschen Stellen sucht, findet auch keine. Wer Innovationen aus falschen Gründen fordert, bekommt auch keine. Wer Innovationen nach falschen Kriterien bewertet, eröffnet dem Neuen keinen Raum. Und wer sich dabei trotzdem wohlfühlen will, der begrüßt es, begrifflich in die Irre geführt zu werden.
„Innovationen bieten der angesprochenen Zielgruppe einen bislang unbekannten Nutzen.“
Es sind eben nicht Regierungen oder Verwaltungen, nicht Forschungseinrichtungen oder Militärs, die Innovationen schaffen. Die Quelle allen Fortschritts ist allein die Wirtschaft. Und der Unternehmer produziert das Neue auch nicht zur Rettung der Welt, sondern nur zur Erzielung von Gewinnen. Ja, Innovationen entstehen aus Gier, aus Gier nach Geld, nach Wohlstand, nach Reichtum. Aber es handelt sich um eine positive, produktive Form von Gier, da sie mit der Schaffung von Mehrwerten einhergeht. Denn Innovationen bieten der angesprochenen Zielgruppe einen bislang ungekannten Nutzen. Die ersten Automobile konnten eben fahren, waren schneller und ausdauernder als Pferde, und die ersten Flugzeuge konnten eben fliegen, was anders gar nicht möglich war, und seien es auch noch so klapprige Kisten gewesen. Mit den ersten Autotelefonen konnte man eben mobil telefonieren, und seien es auch noch so klobige und unhandliche Gebilde gewesen, die den halben Kofferraum für sich beanspruchten. Die ersten Heimcomputer hatten einen Arbeitsspeicher von nur wenigen Kilobyte. Und waren doch spannend genug, um Leidenschaften und den Wunsch nach mehr zu wecken.
Innovationen bestechen nicht durch Perfektion. Innovationen sind zum Zeitpunkt ihres ersten Markteintrittes laut und dreckig, unsicher und unkomfortabel, sie sind fehleranfällig und teuer und richten sich meist nur an Nischenanwender. Aber diese greifen zu. Nicht deswegen, weil das Neue anders ist. Sondern deswegen, weil es einen Unterschied bedeutet, ob man es hat oder nicht.
Sicher sind Verbesserungen im Detail sinnvoll und tragen dazu bei, Marktanteile zu behaupten oder zu erobern. Aber die bloße Optimierung des Bestehenden, im politischen Sprachgebrauch mit dem inflationär eingesetzten Wort „Modernisierung“ umschrieben, verändert nichts. Ein Auto bleibt ein Auto, ganz gleich, über welche Motorisierung es verfügt, über welche Sicherheitssysteme, über welchen Komfort oder aus welchen Materialien es gebaut wird. Das Auto ist eine Innovation gegenüber dem Pferd. Ein modernes Fahrzeug hingegen bietet noch immer dieselbe Kernfunktion wie ein Oldtimer. Elektromobilität ist nicht nur keine Innovation, weil sie seit mehr als einhundert Jahren regelmäßig am Markt scheitert, sondern vor allem deswegen, weil ein Batteriefahrzeug aus der Nutzerperspektive auch keine anderen Möglichkeiten eröffnet als ein Verbrenner. Wer von der „Neuerfindung“ des Automobils fabuliert und damit allen Ernstes Elektrokarren meint, der leidet unter einem Mangel an Inspiration und Anspruch.
Dieser Mangel wird hierzulande gerne mit der Einbildung verdeckt, es gäbe einerseits „normale“ und andererseits besonders wirkungsvolle, als „disruptiv“ bezeichnete Innovationen, die eher selten und im Grunde reine Glückssache seien. Doch in Wahrheit sind erfolgreiche Innovationen immer disruptiv, oder besser ausgedrückt: Was nicht das Potential in sich trägt, substantielle Umwälzungen zu induzieren, darf nicht Innovation genannt werden.
Die Auswirkungen des Neuen sind natürlich nicht immer einfach und nicht immer sofort zu erkennen. Auch die Hersteller selbst vermögen meist nicht vorherzusehen, wie sich ihre Entwicklungen im Wechselspiel mit dem übrigen Marktumfeld mittel- und langfristig tatsächlich auswirken. So konnte die Eisenbahn erst durch Krupps Radreifen ihren Geschwindigkeitsvorteil auf langen Strecken mit hoher Betriebssicherheit wirklich ausspielen und von einem ergänzenden Fortbewegungsmittel zum bedeutendsten werden. Und mit der F 13 schuf Hugo Junkers erst die technische Basis der zivilen Linienluftfahrt als neuer Mobilitätsoption. Der ganz aus Metall gefertigte freitragende Tiefdecker mit geschlossener Kabine definiert zudem die primären Gestaltungsmerkmale aller Verkehrsflugzeuge bis heute.
Vergleichbares ist deutschen Entwicklern seitdem nicht mehr gelungen. Um dies zu ändern, bedarf es neuer Rahmenbedingungen, die es dem Unternehmer vereinfachen, Investitionen in Innovationen zu tätigen, es bedarf absoluter Technologieoffenheit statt staatlicher Vorgaben hinsichtlich der Entwicklungspfade und Entwicklungsziele, es bedarf einer weitgehenden Deregulierung statt immer mehr Zulassungs- und Zertifizierungsvorschriften. Denn nicht Ängste treiben Innovationen, sondern Visionen, nicht Reduktion ist der Motor des Fortschritts, sondern Expansion.
Der Text ist zuerst in der aktuellen Printausgabe des Magazins Novo erschienen. Alle weiteren Teile der Serie finden Sie hier.
Keinen Ökonomen-Blog-Post mehr verpassen? Folgen Sie uns auf Facebook, Instagram und Twitter, und abonnieren Sie unseren WhatsApp-Nachrichtenkanal, RSS-Feed oder einen unserer Newsletter.
Autor:
Dr. Peter Heller ist Strategieberater und analysiert technologische Trends. Über seine Erfahrungen im Spannungsfeld zwischen Politik und Innovation schreibt er bei Novo, Tichys Einblick und der Achse des Guten