Ist die Lust am Experimentieren das Todesurteil der Ideologien?
Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, war Politik von Ideologie geprägt – rechts gegen links, arm gegen reich, Elite gegen Außenseiter. Je nach Weltbild – von Zuhause geprägt oder über die Jahre angeeignet – interpretierte man die Welt und ihre Geschehnisse. Selten sprachen Fakten und Entwicklungen eine so deutliche Sprache, dass man seine Meinung hätte revidieren müssen. Das hat sich geändert. Aber wird die Politik den neuen Erkenntnissen folgen? Die Forschung im Bereich “Entwicklungspolitik” könnte Vorbild sein.
Reformen und Gesetze werden regelmäßig nach dem gleichen Muster eingeführt: Ein Problem wird identifiziert, es werden Lösungen vorgeschlagen, Interessensverbände machen Vorhersagen über ihre Wirkungen, man entscheidet sich, was bei der eigenen Klientel besser ankommt und woran man eher glaubt, und dann wird ein Gesetz eingeführt – und bleibt auf unabsehbare Zeit in Kraft, selbst wenn es ein Fehlschuss mit ungewollten Nebenwirkungen ist. Das ist eigentlich paradox in einer Zeit, in der wir so viele Daten und Informationen wie nie zuvor haben und diese häufiger anstelle ideologischer Theorien sprechen lassen könnten.
In der Volkswirtschaftslehre hat eine solche Verschiebung zur Empirie bereits über das letzte Jahrzehnt eingesetzt. Neben mehr und besseren Daten haben neue Methoden, kreative Forscher und die Einsicht, dass theoretische Modelle oft ambivalente praktische Vorhersagen liefern ihren Teil dazu beigetragen. Ganz besonders hat diese Veränderung in der Entwicklungsökonomie Einzug gehalten, in der Experimente (sogenannte „Randomized Control Trials“) nicht wegzudenken sind. Der enttäuschten Hoffnung auf Demokratisierung und Infrastrukturprogramme sowie Rückschläge bei weiteren Entwicklungsprojekten folgte das Argument „wir haben bloß nicht genug Geld in die Hand genommen.“
Aus dieser Idee entstanden zum Beispiel die sogenannten Millenium-Dörfer von Jeffrey Sachs, ein Projekt genau an der Zeitenwende zu rigoroseren Evaluierungen. Die Millenium-Dörfer wurden nicht etwa zufällig, sondern nach Willen von Jeffrey Sachs ausgewählt, sodass eine vernünftige Evaluierung zu vergleichbaren Dörfern nicht wirklich möglich war. Manche dieser Projekte sind dann im wahrsten Sinne des Wortes versandet.
Aus Frust über wenig Fortschritt und ideologisch geprägte Debatten, was denn der richtige Ansatz sei, setzten Experimente schließlich ihren Siegeszug an. Die treibende Frage dabei lautete: „Was wirkt und was wirkt nicht?“
Ausgehend von Fragen wie „Welchen Effekt hat ein Jahr mehr Bildung“ entwickelte sich die Forschung zu Fragen wie etwa: „Unter welchen Umständen kommen Lehrer und Schüler überhaupt zur Schule?“ In Feldexperimenten werden dafür bestimmte Maßnahmen nach Zufall zugeteilt, mit dem Ziel, funktionierende Ansätze in größerem Umfang umzusetzen. Michael Kremer und Ted Miguel haben so gezeigt, dass die Behandlung eines Großteils von Schulen gegen parasitische Würmer auch Nichtbehandelten durch allgemein besseren Schutz zugute kommt und bauten in Folge die Initiative „Deworm the World“ auf. Angetrieben von diesen beiden Professoren und weiteren Forschern wie Esther Duflo, Abherjit Banerjee, Pascaline Dupas & Co. ist so in den letzten 15 Jahren eine wahre Industrie entstanden, die mit Instituten wie J-PAL (The Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab) oder IPA (Innovations for Poverty Action) Experimente durchführt und ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit zugänglich macht. Auch wenn viele NGOs weiterhin eher nach persönlichem Glauben handeln, nimmt doch das Bedürfnis zu, das begrenzte Geld effizient einzusetzen. Und so geht es insgesamt zwar langsam voran, aber es geht voran.
Das wirft die Frage auf, warum wir nicht ähnlich rigoros mit unseren eigenen Geldern in der Heimat umgehen und warum wir Reformen nicht so entwerfen, dass wir sie auch vernünftig evaluieren können. Offene Fragen gibt es genug: wie genau wirkt der Mindestlohn? Wie lassen sich Mietpreise bremsen? Wie kann man Flüchtlinge und Asylbewerber in den Arbeitsmarkt integrieren? Solche Fragen sind wie geschaffen dafür, mit verschiedenen Ansätzen zu experimentieren; zum Beispiel könnte man nach Zufallsprinzip Gutscheine für Programmierunterricht an Flüchtlinge zu verteilen, um nach einiger Zeit die Wirkung des Programms zu messen.
Anstatt experimentierfreudig diese Fragen anzupacken, diskutieren wir lieber, ob die Neuankömmlinge die richtigen Zertifikate haben. Wir maßen uns an, aus beschränkter eigener Erfahrung vorab beurteilen zu können, was die beste Lösung sein wird. Wir schenken Vorhersagen Vertrauen, die das Papier, auf dem sie geschrieben sind, nicht wert sind.Falls in Prognosen ein Szenario zu unrealistisch wirkt, wird eben eine Excelzelle angepasst, sodass das Resultat etwas realistischer wirkt. Und trotzdem halten wir an unserem Glauben an Vorhersagen fest; dabei bleibt dieser vor allem eins, ein Glaube.
Frustrierend ist die Lage auch in Bezug auf Studiengebühren: Die eine Seite schreit, Studiengebühren seien asozial, weil sie Kinder von Geringverdienern vom Studium abschreckten (dass Gebühren für Kindertagesstätten viel ungerechter nach diesem Gesichtspunkt sind, wird dabei im Übrigen ausgeblendet). Die andere Seite verweist auf die Budgets von Harvard, Oxford, Zürich und stimmt einen Abgesang auf unsere Universitäten an. Dabei übersehen sie, dass deutsche Unis mit dem vorhandenen Geld einen durchaus guten Job leisten und bleiben schuldig, wie das Geld genau eingesetzt werden würde.
Angesichts eines ideologisch so verbrannten Terrains: Warum führt man Studiengebühren nicht auf verschiedene Art in verschiedenen Bundesländern, sodass man analysieren kann, wie sich welche Art von Studiengebühren auf die Entscheidung für oder gegen ein Studium, auf die Studienort- und Studienfachwahl auswirkt? Stattdessen führt man sie halbherzig ein paar Jahre ein, schafft sie wieder ab und ist danach nicht viel schlauer.
Im Übrigen: Für‘s leidenschaftliche Diskutieren bleiben noch komplexere Probleme, bei denen eine empirische Klärung nicht so einfach möglich ist. Insofern hat niemand zu befürchten, sich seine Ideologie in naher Zukunft ganz nehmen lassen zu müssen. Ein bisschen Klassenkampfrhetorik, ein bisschen Rechts gegen Links wird auch weiterhin drin sein.
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Autor:
Maximilian Müller promoviert in Volkswirtschaftslehre an der University of California, Berkeley mit Schwerpunkten in Verhaltensökonomie, Entwicklungsökonomie und Wirtschaftsgeschichte.