Ist der Neoliberalismus schuld an „The Donald“ und Konsorten?

Der Neoliberalismus sei schuld am Aufstieg der Populisten, behaupten viele. Was ist an dieser Behauptung Unsinn – und was nicht. Karen Horn prüft Behauptungen über den Neoliberalismus auf ihren Wahrheitsgehalt. 

Derzeit breitet sich die Erzählung aus, schuld am Rechtsruck des Westens sei der Neoliberalismus. In Amerika betrachtet nicht nur der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky die Mehrheit der Wähler des neuen Präsidenten Donald Trump als „Opfer der neoliberalen Politik der vergangenen Generation“. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hält den Neoliberalismus für eine Krankheit. Und in Deutschland ruft die Rosa-Luxemburg-Stiftung dazu auf, „klare Kante gegen den Neoliberalismus und die AfD“ zu zeigen, was für sie offensichtlich zusammenhängt. Auf der linken Seite des politischen Spektrums war der Neoliberalismus noch nie beliebt. Doch in einer Zeit, in der einen Ressentiments und Legenden nachgerade umzingeln, ist es hilfreich, hinter derlei demagogische Schlagworte zu schauen und die Zusammenhänge aufzudröseln. Erst wenn klar ist, was genau gemeint ist, lässt sich beurteilen, ob an den Vorwürfen vielleicht etwas dran ist. Und siehe da: Das Bild ist gemischt.

Aussage 1: Der Neoliberalismus ist eine Ideologie, die der Ökonomie ein Primat einräumt.

Ideengeschichtlich ist das auf jeden Fall falsch. Aus dem Ende des 19. Jahrhunderts stammend, sollte das Wort „Neoliberalismus“ einst in Abgrenzung vom Laissez-faire auf die Notwendigkeit verweisen, den Liberalismus als ein ethisches, soziales, rechtliches, politisches und ökonomisches Gesamtprojekt neu zu fassen. Nichts lag den Vordenkern in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ferner, als das Ökonomische zu verabsolutieren. Es ging um eine in jeder Hinsicht menschengerechte, harmonische Gesellschaftsordnung; die soziale Frage spielte eine tragende Rolle. In Deutschland liegt dieses Denken an der Wurzel der heute auch von Linken angerufenen „Sozialen Marktwirtschaft“.

Doch nunmehr befinden wir uns bekanntlich im 21. Jahrhundert, und es hat sich bedauerlicherweise ein anderer Gebrauch des Wortes „Neoliberalismus“ eingebürgert. Das ist nicht nur Ergebnis der langjährigen Verunglimpfungen von links, sondern auch der Engführungen mancher Liberaler. Wenn von „Neoliberalismus“ die Rede ist, geht es jedenfalls in der Regel um eine – von den Kritikern als exzessiv bewertete – Strömung, deren Vertreter in wirtschaftlichen Belangen auf Wettbewerb und Selbstkoordination setzen. Diese Definition ist durchaus korrekt. Weil die spontane, freie und freiwillige Interaktion der Marktteilnehmer sowohl im Interesse ihrer persönlichen Freiheit als auch der gesamtwirtschaftlichen Effizienz stets Vorrang gegenüber der Zentralentscheidung genießen sollte, gilt es, für Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung und Globalisierung zu werben.

Doch auch jede andere Interaktion lässt sich als marktlicher Tauschvorgang paraphrasieren, sofern man nicht auf das Materielle, sondern auf das Freiwillige und Spontane abhebt. Zurückgehalten von kollektivistischen konservativen Grundhaltungen, sehen sich freilich nicht alle Menschen in der Lage, das liberale Paradigma auch auf gesellschaftliche Fragen anzuwenden. So schleicht sich dann in der Tat ein Primat der Ökonomie ein, wie es auch im bezeichnenden Wort „Wirtschaftsliberalismus“ zum Ausdruck kommt. Wenig zuträglich ist zudem der Beißreflex mancher „Lunatic-fringe“-Liberalen, die sich derart in ihren Lieblingsfeind, den Staat, verbissen haben, dass sie so blauäugig wie ahistorisch von seiner Abschaffung träumen und alles andere als „Sozialismus“ denunzieren. Auch eine gewisse „Heiligung des Egoismus“ (Olaf Sievert) auf dem Markt hat das Bild vom Neoliberalismus beschädigt.

Aussage 2: Das neoliberale Zeitalter war ein einziges Scheitern, es musste etwas geschehen.

Die Kritiker sind einig, dass es eine neoliberale Wende gab, nur datieren sie diese unterschiedlich: mal auf die siebziger Jahre im Gefolge der Ölkrisen, mal auf die achtziger Jahre unter der Führung von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, mal auf die neunziger Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Es ist korrekt, dass es diese Phasen gab, in denen jene Stimmen, welche die Expansion des Interventionismus bremsen und der privaten Initiative mehr Raum geben wollten, es etwas leichter hatten als sonst. Daraus gleich ein neoliberales Zeitalter zu machen, ist freilich kühn.

Insgesamt waren diese Phasen der Lockerung wirtschaftlich gute Zeiten. Aber es wäre unredlich zu leugnen, dass  beim Zurückbinden des Staats Fehler unterlaufen sind. Und es ist tatsächlich so, dass diese Fehler großenteils auf jenen ökonomischen Tunnelblick zurückgehen, der mit jener Verkürzung des liberalen Paradigmas auf wirtschaftliche Belange zusammenhängt, die viele Kritiker mit dem Neoliberalismus verbinden. So war nach der Wende in Osteuropa zwar der Markt rasch liberalisiert, doch es fehlte vielfach an den rechtsstaatlichen Institutionen. Das ist bis heute zu spüren, allen voran in Russland, wo nicht zuletzt die postsowjetische Kleptokratie den Boden für Putin bereitet hat. Als neoliberal gilt zudem der „Washington Consensus“, also die auf makroökonomische Tragfähigkeit zielenden, per se richtigen Reformen von Weltbank und IWF in Transformations-, Schwellen- und Entwicklungsländern. Doch allzu oft fehlte es hier am Sinn für die institutionellen Voraussetzungen und am Fingerspitzengefühl im Umgang mit der fremden Kultur – und das Ganze endete als Panne.

Dass es nicht ohne Scheitern abgegangen ist, hat mithin per se nicht mit zu viel oder zu wenig Markt zu tun, sondern mit dem Verlust des ganzheitlichen Ansatzes, mit Inkonsistenzen und schlichten Einschätzungsfehlern. Prominentes Ordnungsversagen zeigte sich in der Finanzkrise, die Ende 2008 ihren Lauf um den Globus nahm. Nur hat sie nicht gezeigt, wohin „ungezügelte“ Märkte führen – sondern fehlregulierte. Wir haben mitnichten in einer regellosen Welt gelebt. Es war im Gegenteil ein hochgradig interventionistisches Umfeld, in dem nur noch Inseln der Deregulierung geblieben waren – und das oft auf Druck von Interessengruppen, denen die Konsistenz des Ganzen gleichgültig war. Das Ergebnis: lückenhafte Börsenaufsicht, systematische Interessenkonflikte von Ratingagenturen, verzerrte Anreize durch den Fiskus. Dies ist das System, das sich ad absurdum geführt hat, ob man es neoliberal nennt oder nicht. Hiergegen muss etwas geschehen: durch bessere, universelle Regeln. Gewiss nicht durch Schwächung des Rechtsstaats und Günstlingskapitalismus à la Trump.

Aussage 3: Die von den neoliberalen Ökonomen befürwortete Globalisierung schafft nur Verlierer.

Diese rechts außen wie links beliebte Aussage ist in dieser Zuspitzung, die im Wörtchen „nur“ zum Ausdruck kommt, schlicht Unfug. Es ist bestens belegt, dass die wirtschaftliche Verflechtung der Welt insgesamt das wirksamste Mittel gegen Armut darstellt – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Je größer die wirtschaftliche Freiheit und je enger die Integration eines Landes in die Weltmärkte, desto stärker die Wachstumsimpulse. Der orchestrierte Kampf gegen TTIP, TTP, Ceta, Nafta und andere Handelsabkommen ergibt nur aus der Perspektive jener Wachstumskritiker Sinn, die ein rückständiges Leben für alle predigen. Notwendig ist allerdings eine robuste internationale Ordnung, die jene Verflechtung in wünschenswerte Bahnen lenkt. Derzeit verdient sie aus der Sicht des Wirtschafts-Nobelpreisträgers Angus Deaton an manchen Stellen nur das Adjektiv „stümperhaft“.

Ohne das Wörtchen „nur“ sieht die Sache schon anders aus. In jedem Strukturwandel kommt es zu Verlierern, natürlich auch im Zuge der Globalisierung – wobei die Digitalisierung die weit größere Herausforderung darstellen dürfte. Ein Wandel jedenfalls, der kein Land, kein Unternehmen, keinen Arbeitnehmer von seiner angestammten Position weichen lässt, wäre kein Wandel und brächte keine Aussicht auf Besserung. Fortschritt kommt erst durch Reallokation zustande, also dadurch, dass die Produktionsfaktoren rationeller eingesetzt werden als bisher und der Wirtschaftsprozess an Effizienz gewinnt. Genau das ist ja der Zweck der Übung. Und dabei kommt es womöglich zur „Zerstörung ganzer Industriezweige, die der Mittelschicht bis dato eine Existenz sicherten“, wie die amerikanische Politologin Wendy Brown konstatiert. Es wäre zynisch, wenn Liberale als Wahrnehmungsverzerrung oder notwendiges Opfer abtäten, dass manche Menschen von diesem Strukturwandel benachteiligt, belastet und überfordert sind: ob in Afrika, in den englischen Midlands oder im amerikanischen Rust-Belt. Dort sind die  Auswirkungen des Strukturwandels schon deshalb härter als in Deutschland, weil die vom Humankapital profitierende industrielle Exportbasis dort deutlich schwächer ist.

Aussage 4: Der Neoliberalismus spart, zerstört den Sozialstaat, lässt Globalisierungsverlierer allein.

Das ist Unsinn. Erst einmal ist diese Behauptung nicht vom Wirklichkeitsbefund gedeckt: Nach beispiellosen Konjunkturprogrammen und mit einer Staatsquote von gut 44 Prozent des deutschen bzw. immerhin noch 38 Prozent des amerikanischen BIP hält sich das Sparen in Grenzen. Und mit einer Sozialleistungsquote von knapp 30 Prozent ist der deutsche Sozialstaat nicht von Schwindsucht befallen; in Amerika hat ihn die Regierung Obama seit der Finanz- und Wirtschaftskrise sogar gerade ausgebaut. Im Übrigen geht es bei liberalen Reformen, wenn sie klug und frei von ökonomischem Tunnelblick konzipiert sind, nicht um das Sparen per se, sondern darum, Menschen als Personen ernst zu nehmen, sie aus erniedrigenden Abhängigkeiten zu befreien und zu aktivieren.

Richtig allerdings ist, dass institutionelle Verkrustungen es vielen Menschen immer noch schwer machen, sich an den Wandel in der Globalisierung anzupassen, ihr Glück in einer anderen Branche oder sogar Region zu suchen. Wenn der Arbeitsmarkt inflexibel ist, wenn die Wirtschaft vor Kartellen strotzt oder am Staatssäckel hängt, wenn die Verfahren der sozialen Sicherung derart bürokratisch sind, dass sie die Energien der Bedürftigen auffressen, dann muss die Politik diese Bremsklötze eilends aus dem Weg räumen. Es wäre fatal, wenn die Einsicht in diese Notwendigkeiten am leider böse belegten Stichwort „Neoliberalismus“ zerschellte, denn dann würde alles noch verfahrener.

Aussage 5: Es ist kein Wunder, dass die Abgehängten rebellieren und rechte Protestparteien wählen.

Auch diese Aussage ist unzutreffend, wenn darin eine Zwangsläufigkeit zum Ausdruck kommen soll. Traditionell haben wirtschaftlich schwache Gruppen stets links gewählt. Dass es heute eine konträre Bewegung dazu gibt, hat nicht nur damit zu tun, dass die Sozialdemokratie fast überall als verkappt „neoliberal“ gilt und damit ausfällt; in Deutschland ist dies just seit Gerhard Schröders im Ergebnis höchst erfolgreichen Arbeitsmarktreformen der Fall. Viel bedeutsamer ist längst die entsprechende politische Bewirtschaftung und Rhetorik. Überall fachen die Rechtspopulisten die Unzufriedenheit an und inszenieren sich als „Macher“, die allein in der Lage seien, dem angeblich mit Füßen getretenen Willen des „wahren“ Volkes Respekt zu verschaffen. Materielle Nöte reichen indes als Köder nicht. Erst die Verquickung mit anderen Ressentiments (gegen fremde Nationen, Ethnien, Rassen, Kulturen, Religionen) erlaubt es den Trumps dieser Welt, eine breite Basis der Zustimmung zu generieren.

Fazit

Die Ursachen für das Aufkommen von „The Donald“ und Konsorten sind wie immer vielfältig. „Den Neoliberalismus“ hier in Haftung zu nehmen, ist blanke Demagogie. Fehler haben alle gemacht, nicht zu knapp – das wäre ein Thema für einen weiteren Beitrag. Dass manche Liberale ihren Blick auf ökonomische Themen verengt und die „Interdependenz der Ordnungen“ (Walter Eucken) vergessen haben, ist hingegen ebenso wenig zu leugnen wie die politischen Irrtümer als Folge davon. Aber ohne die liberale Agenda wäre alles gewiss viel schlimmer gekommen. Und ohne sie begriffe heute wohl kaum jemand die Dringlichkeit, sich der drohenden Zerstörung des Rechtsstaats entgegenzustellen.

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Autor:

Prof. Dr. Karen Horn Karen Horn lebt als freie Wissenschaftlerin und Publizistin in Zürich. Sie lehrt ökonomische Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und an der Universität Erfurt.

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