Inflation: Angst ist kein guter Ratgeber
Die Jahresinflationsrate in Deutschland ist im Oktober auf 1,2 Prozent gefallen. Und doch sitzt die Angst vor der Inflation bei den Deutschen tief. Dahinter stehen vor allem Reflexe auf längst überholte Wirtschaftsmechanismen.
Auf den ersten Blick spricht alles dafür, dass die Geldentwertung bald kommen wird: gewaltige Staatsschulden, niedrige Zinssätze und die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Bei den Vermögenswerten ist die Inflation sogar schon zu beobachten: Aktien, Immobilien und Rohstoffe jagen von Rekord zu Rekord, beflügelt vom billigen Geld und Inflationserwartungen.
Und dennoch: Nicht die Inflation ist die Gefahr in Deutschland und Europa. Die Jahresinflation liegt im Euro-Raum bei 0,7 Prozent. In Deutschland ist sie von 1,4 Prozent im September auf 1,2 Prozent im Oktober gefallen. Dies ist weit weg von der angestrebten Zwei-Prozent-Marke. Vielmehr muss Südeuropa die Deflation fürchten. So ist auch die jüngste Zinsentscheidung der EZB zu deuten, auch wenn für einige Ökonomen diese Entscheidung ohne Notwendigkeit getroffen wurde. Wie aber wird die Preisentwickung langfristig aussehen?
Nach dem Lehrbuch steigen mit der stark gestiegenen Geldmenge die Inflationserwartungen und damit – mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung – auch die tatsächlich gemessene Inflation. Soweit die Theorie. In der Realität hat die Europäische Zentralbank jedoch durchaus Möglichkeiten, Inflationserwartungen die Grundlage zu entziehen: Sie kann weniger Kredite an die Banken vergeben oder ihnen einen so attraktiven Zins für Terminanlagen anbieten, dass das EZB-Geld schnell wieder zurückfließt. Die Geldbasis und damit das Inflationsrisiko bliebe in beiden Fällen stabil.
Im Übrigen kann frisch gedrucktes Geld allein keine Inflation auslösen. Der Geldschöpfungsmechanismus der Kreditwirtschaft ist dazu erforderlich . Auch hier gibt es Entwarnung: Die für die Inflation maßgebliche Geldmenge ist im August 2013 gegenüber dem Vorjahr um nur 2,3 Prozent gewachsen und damit deutlich geringer als die kritischen 4,5 Prozent.
Schließlich leben wir heute nicht mehr in der nationalen Abgeschlossenheit der 1920er-Jahre. Geldmenge und Kreditwachstum hängen in einer global stark verflochtenen Weltwirtschaft heute weit weniger von der Geldpolitik ab als früher. Der virtuelle Zahlungsverkehr, weltumspannende Finanz- und Kapitalmärkte und die Eigendynamik des Hochfrequenzhandels haben Real- und Finanzwirtschaft entkoppelt – und damit die monetaristische Theorie infrage gestellt.
Vor diesem Hintergrund wird klar: Die Angst vor der Inflation beruht auf einem Mythos, der aus den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit im vergangenen Jahrhundert gespeist wird. Ein guter Ratgeber für die heutige Gelpolitik ist er offensichtlich nicht mehr.
Dieser Beitrag ist in einer längeren Fassung auf WELT.de erschienen.
Autor:
Prof. Dr. Thomas Straubhaar früherer Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.