Industriepolitik ja, aber bitte ganz anders
Warum die neue Industriestrategie von Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) darauf hinausläuft, Zombie-Unternehmen am Leben zu halten, statt die Technologie- und Produktivitätsschwäche in Deutschland anzugehen.
Die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier durch Vorlage seiner „Nationalen Industriestrategie 2030“ angestoßene Diskussion über Wirtschafts- und Ordnungspolitik in Deutschland ist überfällig. Seit Jahrzehnten, spätestens jedoch seit der Finanzkrise ist eine wirtschafts- oder ordnungspolitische Linie kaum mehr zu erkennen. Stattdessen hat die Bundesregierung ihre Kompetenz in Wirtschaftsfragen praktisch vollständig an die Europäische Zentralbank (EZB) abgetreten, die zur europäischen Wirtschaftsregierung mutiert ist.
Die EZB ermöglicht nun mit ihrer Niedrigzinspolitik allen Eurostaaten – auch Deutschland –, sich wirtschaftlich durchzuwursteln. Eine dringende Notwendigkeit zur Formulierung strategischer Ziele besteht daher nicht. Daher ist es zunächst einmal positiv, dass sich der Wirtschaftsminister überhaupt traut, eine Strategie zu formulieren, denn seit geraumer Zeit ist das typische Merkmal von Regierungshandeln eher die Abwesenheit strategischer Orientierungen.
Positiv ist auch, dass Altmaier entgegen seiner eigenen Gewohnheit dieses Mal nicht den inzwischen allgemein praktizierten Regierungsstil gewählt hat, gesellschaftlich wichtige Themen an demokratieferne Expertengremien zu übertragen. Inzwischen ist es für die demokratisch gewählten Vertreter im Bundestag und die von ihnen eingesetzte Bundesregierung Usus geworden, gerade die gesellschaftlich wichtigen Fragen von unabhängigen Expertenkommissionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutieren zu lassen. Die Ergebnisse dieser Expertenkommissionen werden dann von den demokratisch gewählten Vertretern in der Regel nur noch abgenickt, sodass weder im Bundestag noch bei den Wählern ein Meinungsbildungsprozess entstehen kann. Gut also, wenn Altmaiers Konzept nun öffentlich kritisiert oder ‚zerpflückt‘ wird und das Wirtschaftsministerium sowie Teile der Bundesregierung dagegenhalten.
In dem von Altmaier vorgelegten Strategiepapier kommt die berechtigte Sorge zum Ausdruck, dass die deutsche Wirtschaft international ins Hintertreffen oder gar unter die Räder geraten könnte. Das „politische Versprechen“ vom „Wohlstand für alle“ würde dann infrage stehen, so Altmaier. Der Wirtschaftsminister zeichnet ein stimmiges, wenngleich äußerst fragwürdiges Bild einer einseitig von außen heraufziehenden Bedrohung. Deutschlands Wohlstand sei durch die „zunehmende Globalisierung, enorm beschleunigte Innovationsprozesse und expansiv beziehungsweise protektionistisch betriebene Wirtschaftspolitik anderer Länder“ bedroht, so Altmaier im Vorwort zu seinem Strategiepapier. Deutschland sieht Altmaier dadurch herausgefordert, im Kern jedoch gesund. Erstens sei das Erhard’sche Wohlstandsversprechen politisch völlig abgesichert, denn es werde von „Wirtschaft, Sozialpartnern und Staat gemeinsam gewährleistet“ und sei zur „Staatsräson“ geworden. Auch wirtschaftlich scheint alles in Butter, denn: „In über sieben Jahrzehnten ist es gelungen, dieses Versprechen in einem Maße einzulösen, das sich seinerzeit niemand vorstellen konnte.“[1]
Altmaiers industriepolitisches Konzept leidet eklatant an dieser Perspektive, die suggeriert, dass es wirtschaftliche Probleme in Deutschland eigentlich nicht gibt. Sofern dennoch Probleme auftauchen, gilt es, die üblichen Strohmänner zu identifizieren. In Altmaiers Konzept sind das die Globalisierung, die industriepolitisch intelligent aufgestellten Chinesen und stellvertretend die protektionistischen US-Amerikaner.
Seit der Finanzkrise 2008 hat sich die deutsche Öffentlichkeit daran gewöhnt, mit einer derartigen rosaroten Brille auf die hiesige Wirtschaftsentwicklung zu blicken. Die Wirtschaft wächst kontinuierlich, die Beschäftigung erreicht ständig neue Höchststände, die Arbeitslosigkeit geht immer weiter zurück, die Sozialversicherungen und die Staatsfinanzen sind sehr solide und es gibt viel Geld für soziale Wohltaten. Vor allem im Vergleich zu anderen Euroländern steht Deutschland blendend da!
Ein wirtschaftspolitisches Strategiepapier sollte jedoch von dieser blendenden Kulisse nicht eingenommen sein, sondern auf einer nüchternen Bestandsaufnahme der Wohlstandsentwicklung aufbauen, sofern es tatsächlich die zentrale Aufgabe der neuen Industriepolitik sein soll, „unser hohes Maß an privatem und öffentlichem Wohlstand dauerhaft erhalten und ausbauen“ zu wollen.
Altmaier suggeriert, dass die allgemeine Wohlstandsentwicklung ungebrochen ist, obwohl sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten enorme wirtschaftliche und soziale Ungleichgewichte aufgebaut haben. Ein offensichtliches Problem dieser Art ist die enorme Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Vermögenspreise und der Erwerbseinkommen. Während die Vermögenspreise (Immobilien, Aktien usw.) – angeheizt durch die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken – geradezu explodieren, bleibt die Reallohnentwicklung in Deutschland schon seit Mitte der 1990er-Jahre extrem schwach. Aufgrund der Lohnentwicklung sind die von Altmaier hochgelobten Jahrzehnte unvorstellbaren Wohlstandswachstums für die breite Masse längst vorbei.
Nachdem die Mieten in den Sog steigender Immobilienpreise geraten sind, hat sich ein schlecht funktionierender staatlicher Reparaturbetrieb etabliert, der mit Mietpreisbremsen und der inzwischen zur Debatte stehenden Verstaatlichung von Wohnraum die Konsequenzen dieser wirtschaftspolitischen Weichenstellungen zu mindern versucht. Da die Reallöhne kaum steigen und die sozial Schwachen von weiterem sozialen Abstieg bedroht sind, hat sich der staatliche Reparaturbetrieb zum Ausgleich dieser Ungleichgewichte auch auf die staatliche Lohnfestsetzung von Mindest- und Tariflöhnen ausgeweitet.
Der Grund für die fast stagnierenden Reallöhne ist, dass es den Unternehmen in Deutschland nicht mehr gelingt, die für Wohlstandssteigerungen notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Seit der Finanzkrise erreicht die Wirtschaft nur noch ein quantitatives Wachstum, das heißt, die Wirtschaft wächst und schafft sogar neue Jobs, ohne jedoch signifikante Produktivitätssteigerungen zu erzielen. Das Job-Wachstum der letzten Jahre ergibt sich gerade aus dieser Produktivitätsschwäche. Da die Arbeitsproduktivität nicht mehr steigt, nimmt die Zahl der Erwerbstätigen seit Jahren mit dem etwa gleichen Prozentsatz zu wie das Wirtschaftswachstum.
Diese Stagnation der Arbeitsproduktivität, auf die Wirtschaftswissenschaftler seit geraumer Zeit warnend hinweisen, ist ein Resultat relativ schwacher Investitionen der Unternehmen, denen es so kaum gelingt, mittels neuer Technologien die Arbeitsproduktivität zu heben. Da die Produktivitätssteigerung fast zum Stillstand gekommen ist, fehlt einem steigenden Reallohnniveau inzwischen die materielle Grundlage.
Das große Dilemma der auf niedrige Zinsen reduzierten Wirtschaftspolitik zeigt sich darin, dass das billige Geld nicht dazu beigetragen hat, die auch in Deutschland sehr schwachen Unternehmensinvestitionen wiederzubeleben, und die Anwendung neuer Technologien daher nur langsam vorankommt. Das billige Geld fließt stattdesessen in die Kapitalmärkte und bläst die Vermögenspreise auf. Deutschland ist weltweit der größte Kapitalexporteur und pumpt jedes Jahr etwa 250 Milliarden Euro in die internationalen Kapitalmärkte, weil sich hierzulande keine profitablen Investitionsmöglichkeiten in neue Produkte und Prozesse ergeben.
Da die Unternehmen wenig investieren und die EZB zusätzlich viel billiges Geld zur Verfügung stellt, kann sich auch in Deutschland eine zunehmende Anzahl maroder Unternehmen, die bei höheren Zinsen längst hätten aufgeben müssen, gut über Wasser halten.
Der Bodensatz solcher Unternehmen steigt kontinuierlich an, denn die dominierende wirtschaftspolitische Ausrichtung besteht darin, die wirtschaftliche Stabilität zu erhalten, indem die zerstörerische Wirkung konjunktureller Krisen möglichst vermieden oder zumindest minimiert wird. Dies bremst jedoch den technologischen Wandel, da so wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es den schwachen Unternehmen ermöglichen zu überleben. Die disruptive Wirkung wirtschaftlicher Krisen, die diese Unternehmen und deren Kapitalwerte vernichten würde, wird auf diese Weise ausgehebelt. Überholte Strukturen werden so künstlich am Leben gehalten.
Prinzipien fehlen
Altmaiers Strategiepapier nimmt diesen dominierenden Trend technologischer Stagnation jedoch überhaupt nicht zur Kenntnis. Gleichwohl thematisiert er, dass Deutschland auf vielen wichtigen Technologiefeldern den Anschluss verloren hat. Nun bestehe sogar die Gefahr, dass Bereiche traditioneller Stärke bedroht seien, da auch dort Innovation und Digitalisierung umwälzende Folgen mit sich brächten. Dadurch werde „der bisher ausbleibende Erfolg in den erwähnten Zukunftstechnologien zum unmittelbaren Risiko für künftige langfristige Erfolge in den Bereichen traditioneller Stärke“. Altmaier fordert, dass Deutschland „auch bei den disruptiven Technologien eine Führungsposition“ bekommen müsse. Auch über Basisinnovationen wie die Digitalisierung mitsamt Anwendungen der Künstlichen Intelligenz müsse Deutschland verfügen sowie auch an der „Plattformökonomie angemessen teilhaben“.
Seine daraus resultierenden „Orientierungspunkte einer nationalen Industriepolitik“ sowie die abgeleiteten „ordnungspolitischen Prinzipien“ lassen jedoch in keiner Weise erkennen, wie er den Unternehmen zu innovativer Stärke verhelfen will. Sie laufen geradezu auf eine Zementierung der Strukturen hinaus, welche die deutsche Wirtschaft in die von ihm beklagte Lage gebracht haben. Unternehmen soll als „nationalen Champions“ ewiges Überleben von Staats wegen gesichert werden, denn: „Der langfristige Erfolg und das Überleben solcher Unternehmen liegt im nationalen politischen und wirtschaftlichen Interesse, da sie erheblich zu Wertschöpfung beitragen und in vielen Fällen auch für das hervorragende Image deutscher Wirtschaft und Industrie weltweit mitverantwortlich sind.“
Ganz im Gegensatz zu den zuvor geforderten disruptiven Innovationen geht es plötzlich um den Kampf um „jeden industriellen Arbeitsplatz“ und „industrielle Kapazität“ sowie Fusionen, die mit „Blick auf den Weltmarkt sinnvoll und notwendig“ seien. Zum Schutz von Unternehmen, bei denen „Technologie- und Innovationsführerschaft“ betroffen sei, müssten nach einem „neuen volkswirtschaftlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip“ die staatliche Übernahme von Anteilen oder die Gewährung von Beihilfen möglich sein. Um die Rahmenbedingungen für die industrielle Produktion im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, müssten „wettbewerbsschädliche Wirkungen ausgeglichen“ werden. Dieser Ausgleich dürfe von der EU-Kommission nicht wie bisher fälschlicherweise als Subvention interpretiert werden.
Altmaiers Konzept läuft darauf hinaus, nicht wettbewerbsfähige Unternehmen durchzuschleppen und disruptiven Wandel zu vereiteln, anstatt den Technologiewandel zu beschleunigen. Ihm scheint es in erster Linie darum zu gehen, die durch wirtschaftspolitische Weichenstellungen in der Industrie angerichteten Langzeitschäden zu bemänteln und in Anbetracht einer wohl anstehenden Rezession strauchelnde Unternehmen vor dem Untergang retten zu können. Jedenfalls gilt der von Altmaier gewünschte Biotopschutz für die Deutsche Bank, die neben hausgemachten Problemen auch mit der Niedrigzinspolitik der EZB zu kämpfen hat. Die Niedrigzinspolitik unterminiert in zunehmendem Maß Profitabilität und Geschäftsmodelle der europäischen Banken und bedroht so auch die Existenz der Deutschen Bank.
Gleiches gilt unter anderem für die energieintensiven Industrien, die seit vielen Jahren in Deutschland desinvestieren. Diesen verspricht Altmaier explizit, die „wettbewerbsschädlichen Wirkungen“ auszugleichen. Hinzu kommt der Biotopschutz für die Automobilindustrie, die inzwischen aufgrund ihrer herausragenden wirtschaftlichen Bedeutung ein Klumpenrisiko darstellt. Durch die politisch immer weiter beschleunigte Reduzierung der CO2-Ziele sowie weitere Abgasreduktionsziele sind die Unternehmen zu einer dramatischen Forcierung der Elektromobilität gezwungen, die zu massiver Kapitalvernichtung führen wird. Viele Unternehmen werden dies nicht überleben. Altmaiers Konzept ist nichts anderes als eine schlecht kaschierte Anleitung zur Schadensbegrenzung für die von der Politik in den letzten Legislaturperioden angerichteten wirtschaftlichen Langzeitschäden.
Es bleibt zu hoffen, dass dem Wirtschaftsminister dieses Strategiepapier anständig um die Ohren fliegt. Dies jedoch nicht etwa, weil wirtschaftspolitische oder ordnungspolitische Eingriffe des Staates grundsätzlich abzulehnen wären. Gerade heute wäre der Staat enorm gefordert, eine sozial abgesicherte wirtschaftliche Restrukturierung durchzusetzen, die unproduktive und defekte Unternehmen aus dem Markt drängt und das Entstehen neuer Technologieunternehmen fördert, etwa indem mit massiv ausgeweiteten staatlichen Mitteln die Grundlagenforschung vorangetrieben wird, für die profitorientierte Unternehmen nicht den dazu notwendigen langen Atem haben. Altmaiers industriepolitische Vorstellungen laufen aber geradezu auf eine Blockade des dringend erforderlichen technologischen Wandels hinaus, weil er den Schutz bestehender Unternehmen und Geschäftsmodelle als wohlstandsstiftend begreift.
[1] „Nationale Industriestrategie 2030 – Strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik“, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), Februar 2019, S.1.
Dieser Text erscheint auch bei Novo – Argumente für den Fortschritt
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Autor:
Alexander Horn lebt und arbeitet als selbständiger Unternehmensberater in Frankfurt. Er ist Geschäftsführer des Novo Argumente Verlags und Novo-Redakteur mit dem Fokus auf wirtschaftspolitischen Fragen.