Heimliche Steuererhöhung vermeiden!
Mit steigendem Einkommen nimmt die zu entrichtende Einkommensteuer überproportional zu. Um diese „heimliche Steuererhöhung“ zu vermeiden, sollten die Freibeträge und der Tarifverlauf regelmäßig angepasst werden. So sieht das Dr. Alfred Boss, Steuerexperte des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Eine Korrektur der Einkommensteuer sei in diesem Sinne keine echte „Entlastung“, sondern in Wahrheit nur eine Kompensation der Steuerzahler, die ansonsten durch die Hintertür stärker belastet würden.
Seit Jahrzehnten ist das deutsche Einkommensteuerrecht so gestaltet, dass bei einem Anstieg des Einkommens die darauf zu entrichtende Einkommensteuerschuld weit überproportional zunimmt. Bei unverändertem Steuerrecht kommt es zu progressionsbedingten Mehreinnahmen des Staates. Manche nennen dieses Phänomen „heimliche Steuererhöhung“, andere „kalte Progression“. Nicht nur abhängig Beschäftigte sind davon betroffen, auch Unternehmer oder Personenunternehmer, die einkommensteuerpflichtig sind, also nicht Körperschaftsteuer zahlen müssen.
Für die heimliche Steuererhöhung gibt es zwei Gründe. Erstens: Bestimmte Beträge, die bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens abgesetzt werden dürfen (z. B. die Werbungskostenpauschale von aktuell 920 Euro je Jahr), sind in absoluten Beträgen festgelegt; dies hat zur Folge, dass der Betrag, der zu versteuern ist, rascher steigt als das Einkommen. Zweitens: Der Einkommensteuertarif ist so konstruiert, dass der durchschnittliche Steuersatz mit steigendem zu versteuerndem Einkommen zunimmt; der Grundfreibetrag ist absolut (aktuell 8 004 Euro je Jahr) festgelegt, der Grenzsteuersatz steigt mit zunehmendem zu versteuerndem Einkommen von 14 auf 45 Prozent.
In unregelmäßiger Folge wurde das Einkommensteuerrecht in den vergangenen 60 Jahren geändert, zumeist in wenig systematischer Weise. Die jüngste Anhebung des Grundfreibetrags verbunden mit einer geringen Korrektur der Grenzsteuersätze ist jene, die Anfang 2010 in Kraft trat.
Zu Beginn des Jahres 2011 wurden die Regeln nicht verändert. Bleibt es auch im Jahr 2012 bei den Regelungen des Jahres 2010, so fließen dann fast 10 Mrd. Euro mehr in die Kassen des Bundes, der Länder und der Gemeinden, als es bei einer Zunahme des Einkommensteueraufkommens im Gleichklang mit der Einkommensentwicklung der Fall wäre. Berücksichtigt ist dabei, dass auch der Solidaritätszuschlag überproportional mehr Geld in die öffentlichen Kassen spült, ist er doch – von geringfügigen Ausnahmen abgesehen – ein fester Prozentsatz der Steuerschuld (5,5 %).
Wenn für das Jahr 2012 eine „Entlastung“ um 10 Mrd. Euro in Aussicht gestellt wird, dann handelt es sich nicht wirklich um eine Entlastung, sondern nur um den Verzicht auf eine Steuererhöhung, die bei Nichtstun entsteht. Würde der Steuertarif mit Blick auf die Bundestagswahl erst zum Jahresbeginn 2013 mit einem Effekt von 10 Mrd. Euro korrigiert, so würde die Belastung im Jahr 2013 über der des Jahres 2010 liegen. Der Staat würde 5 Mrd. Euro mehr an Einkommensteueraufkommen kassieren; dies sind die für das Jahr 2013 zu erwartenden progressionsbedingten Mehreinnahmen.
Ändert man den Steuertarif nicht regelmäßig, so werden die Leistungs- und die Investitionsanreize geschwächt. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Einkommen nur inflationsbedingt oder auch real steigen.
Man kann argumentieren, eine progressionsbedingte Mehrbelastung, also eine Steuererhöhung, sei hinzunehmen, führe sie doch zu geringeren Budgetdefiziten bei Bund, Ländern und Gemeinden. Dies entlaste künftige Generationen dadurch, dass die öffentlichen Schulden und die darauf zu zahlenden Zinsen kleiner als sonst seien. Eine solche Entlastung sei umso notwendiger, als das Sparpaket des Bundes arg „gerupft“ worden sei und nicht das angestrebte Maß an Konsolidierung bringe. Zudem sei das Sparpaket in seiner ursprünglichen Form unzureichend gewesen; es seien daher weitere Konsolidierungsschritte nötig, um den Vorgaben der Schuldenbremse gerecht zu werden.
Diese Argumentation wäre überzeugend, wenn bei einem Verzicht auf Korrekturen des Tarifs die Defizite tatsächlich kleiner ausfielen. Viel wahrscheinlicher erscheint es aber, dass dies nicht der Fall wäre, weil bei konstantem Einkommensteuerrecht Mehrausgaben beschlossen würden. Mehrausgaben wären wohl vor allem bei den Finanzhilfen des Staates zu erwarten (Subventionierung der Entwicklung des Elektroautos, Förderung der Energieeffizienz bei privaten Gebäuden). Ein Verzicht auf eine „Steuerentlastung“ führte wohl kaum zu einer Verringerung der strukturellen Budgetdefizite des Bundes, der Länder und der Gemeinden, die größer wäre als sonst. Ein positiver Defiziteffekt entstünde wohl nur bei jenen Ländern, die „mit dem Rücken zur Wand“ stehen und denen bei einem Einsatz der progressionsbedingten Mehreinnahmen für zusätzliche Ausgaben ein Verlust der Konsolidierungshilfen drohte, weil sie bei der Reduktion ihrer strukturellen Neuverschuldung nicht plangerecht vorankommen.
In der aktuellen Debatte geht es vor allem darum, die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu „entlasten“. Von den heimlichen Einkommensteuererhöhungen sind aber alle Steuerpflichtigen betroffen. Es liegt daher nahe, alle Steuerzahler in relativ gleichem Maße zu „entlasten“, besser: nicht verstärkt zu belasten. Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags zum Jahresbeginn 2012 hätte dies zur Folge. Sie bietet sich auch deshalb an, weil sie im Bundesrat nicht auf Widerstand stoßen würde. Die Förderung der neuen Länder wäre bei Abschaffung des Solidaritätszuschlags nicht gefährdet; dessen Aufkommen ist – anders als immer wieder behauptet – nicht zweckgebunden.
Im Übrigen sollte das gesamte Einkommensteuerrecht entsprechend der Nominaleinkommensentwicklung indexiert werden. Die Debatte um progressionsbedingte Mehreinnahmen wäre dann für alle Zeiten beendet. Andere Länder sind in dieser Hinsicht Deutschland weit voraus.
Weitere Informationen
*Marc Beise, Steuern senken? Jetzt erst recht! – Videoblog 29. Juni 2011
*Prof. Dr. Rolf Peffekoven, Gibt es Chancen für eine Steuersenkung – Ökonomenblog vom 28. Juni 2011
*Michael Hüther: Mit der Steuersenkung weiter konsolidieren – Handelsblatt vom 24./25.06.2011
*Ralph Brügelmann, Die Progression schlägt kalt zu! – Ökonomenblog vom 22. Juni 2011