Gleicher als gedacht

Thomas Piketty hat mit seinem Buch eine Debatte über die gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen losgetreten. Wie stark Wahrnehmung der Ungleichheit und Realität voneinander abweichen, zeigt eine neue Untersuchung.

„Die Reichen sind immer die anderen“, heißt es oft im Volksmund. Tatsächlich ist für die Ausgestaltung des Steuer- und Transfersystems die Wahrnehmung und die Bewertung von Ungleichheit von großer Bedeutung. Interessant ist es daher, wie sich in verschiedenen Ländern die subjektive Wahrnehmung der Ungleichheit von der Realität unterscheidet. Unsere Untersuchung zeigt: Die Einkommensungleichheiten werden in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich wahrgenommen. In den USA sorgen sich die Bürger kaum über die sehr großen Einkommensunterschiede im Land, in Deutschland hingegen werden bereits deutlich geringere Unterschiede sehr kritisch bewertet.

Wenn Wahrnehmung auf die Realität trifft
Demnach sind z.B. 54,2 Prozent der Deutschen der Auffassung, dass ein Großteil der eigenen Bevölkerung am unteren Ende der Statusverteilung lebt. In Frankreich ist die Zustimmung mit 70% noch höher und vergleichbar mit den Einschätzungen in den osteuropäischen Staaten. Doch inwieweit stimmt die „Wahrgenommene Gesellschaftsform“ mit der “Tatsächlichen Einkommensverteilung“ überein? Fasst man alle Antworten zur wahrgenommen Gesellschaftsform zusammen, dann vermuten die befragten Deutschen 25 Prozent ihrer Gesellschaft in der untersten Schicht. Stellt man dieser Wahrnehmung die tatsächliche Einkommensverteilung gegenüber, dann ist der untere Bereich mit 15,6 Prozent (Armutsgefährdungsquote) deutlich schmaler und der Mittelbau verhältnismäßig am größten. Insgesamt wird die Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft – wie in den meisten anderen europäischen Ländern auch – signifikant überschätzt. Norwegen ist das Land mit der geringsten Einkommensungleichheit. Die Armutsgefährdungsquote liegt nur knapp über 10 Prozent, dagegen gehören über 60 Prozent der Mittelschicht im engen Sinn an. In den skandinavischen Ländern liegt die Wahrnehmung deutlich näher an der Realität: Die Mehrheit der Norweger sieht die Gesellschaft auch als typisches Mittelschichtsmodell.

Der Sonderfall USA
Im starken Kontrast hierzu stehen die USA. Beinahe ein Drittel der Bevölkerung verfügt über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens. Gleichzeitig gibt es dort die meisten relativ Einkommensreichen: Knapp 7 Prozent haben ein Nettoeinkommen von über 250 Prozent des Medianeinkommens. Trotz der wesentlich ungleicheren Einkommensverteilung  ähnelt die Einschätzung aber eher der wahrgenommenen Ungleichheit in Deutschland.  Damit sind die USA das einzige hier betrachtete Land, das eine optimistischere Einschätzung der Gesellschaft hat, als es die tatsächliche Verteilung nahelegt.

Auf die positiv verzerrte Wahrnehmung der US-Amerikaner bezüglich der Ungleichheit in ihrer Gesellschaft haben bereits andere Studien hingewiesen – neu ist allerdings die Beobachtung, dass die meisten Europäer die Ungleichheit in ihrer Gesellschaft zu pessimistisch einschätzen – zumindest wenn man die wahrgenommene Gesellschaftsform mit der Einkommensverteilung vergleicht. Die Ergebnisse der Studie können somit einen Erklärungsbeitrag dafür liefern, warum Umverteilungsprogramme in vielen europäischen Staaten einfacher Mehrheiten finden als in den USA.

Alle Ergebnisse der Studie finden Sie hier.

Autor:

Dr. Judith Niehues ist Economist für den Bereich öffentliche Haushalte und Soziale Sicherung im Institut der deutschen Wirtschaft.

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