Fürchtet euch nicht: Warum wichtiger als Grenzen deren Überwindung ist
„Grenzen“ ist ein zentraler Begriff unserer Zeit: Grenzen des Wachstums, Grenzen der Aufnahmefähigkeit, Belastungsgrenzen, Staatsgrenzen, Lohnuntergrenzen, Diskursgrenzen, Grenzwerte. Was aber macht diese Fixierung mit uns? Und: Sind nicht Zivilisation und Wohlfahrt Ergebnis ihres Gegenteils – der Entgrenzung?
Die Globalisierung ist auf ökonomischem, auf technischem wie auf gesellschaftlich-kulturellem Gebiet seit dem Fall des Eisernen Vorhangs explodiert. Handels- und Finanzströme umspannen die ganze Welt, und das Bruttoweltprodukt ist von 20,1 Billionen Dollar im Jahr 1989 inzwischen bei 80,7 Billionen angekommen. 1991 ging das Internet an den Start, heute haben über 4 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt Zugang. Frauen sind reihenweise Regierungschefs und Homosexuelle können in den meisten Ländern Westeuropas und Lateinamerikas heiraten.
Diese schnellen Bewegungen produzieren Verlierer und rufen Ängste hervor. Eine der logischen Konsequenzen daraus ist, dass die Nachfrage nach Grenzen steigt. Nach Grenzen, die anders als während der Zeit des Kalten Krieges nicht mehr als Einschränkung oder Bedrohung empfunden werden, sondern als Schutz. Politische Akteure, die sich vehement für Grenzen einsetzen, dominieren vielerorts den Diskurs, und zwar unabhängig davon, ob es um Einwanderung, Löhne, Kultur, Mieten oder Abgase geht.
Im Grunde ist es das Versprechen, die Welt wieder überschaubar zu machen. Sie wieder in den Griff zu bekommen. „Take back control!“, lautete der Schlachtruf der Brexit-Befürworter. Grenzen erscheinen als der Ausweg aus dem Kontrollverlust und der Unübersichtlichkeit. Putin, Erdogan, Orban, Duterte, Trump, Bolsonaro wurden gewählt, weil sie glaubhaft signalisiert haben, dass sie bestehende Grenzen schützen und womöglich neue errichten werden.
Es gab schon einmal eine solche Zeit der rasanten Umbrüche. Viele der Muster, die wir heute wieder antreffen, sind auch dort schon zu finden. Aufklärung und Industrialisierung führten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zu massiven Umwälzungen der Gesellschaften. Mit dem steigenden Wohlstand, der zunehmenden Bildung und erhöhten Mobilität stand immer mehr Menschen eine immer größere Menge an Lebensoptionen und Chancen zur Verfügung.
Und auch in dieser Epoche kam es zu einer Phase der verstärkten Grenzziehungen: Die einflussreichen politischen Ideen des Nationalismus und des Sozialismus entstanden in dieser Zeit. Staaten festigten ihre Macht als Militär- und Wohlfahrtsstaaten. Das Ergebnis war verheerend für die Welt. Rückzug, Einigeln und – wie der Philosoph Karl Popper schrieb – die Rückkehr „zur angeblichen Unschuld und Schönheit der geschlossenen Gesellschaft“ brachten den Prozess des Fortschritts und der Verbesserung ab 1914 nicht nur zum Stillstand, sondern kehrten ihn um.
Der steigende Wohlstand und die zunehmenden bürgerlichen Freiheiten in den Jahrzehnten davor kamen freilich nicht aus dem luftleeren Raum. So unverzichtbar technische Entdeckungen für jegliche Form der Entwicklung sind: Es bedarf auch immer der Mitwirkung von Menschen, die diesen Prozess mit Ideen und Erzählungen begleiten, erklären und befördern. Diese Unterstützung kann nirgends so eindrucksvoll wahrgenommen werden wie in Großbritannien. Es waren dies die sogenannten Whigs, die Partei der Optimisten und Menschenfreunde.
Der Startpunkt der Whig-Bewegung war die Glorious Revolution von 1688, als in England endgültig die Vormachtstellung des Parlaments vor dem König etabliert wurde. Die Whigs standen nicht nur für das Prinzip der konstitutionellen Monarchie, sondern setzten sich auch für religiöse Toleranz ein – keineswegs eine Selbstverständlichkeit in diesem Jahrhundert der Religionskonflikte.
Als im ausgehenden 18. Jahrhundert der Fortschrittszug richtig Fahrt aufnahm, waren die Whigs als Heizer ganz wesentlich beteiligt. Auch wenn sie nicht selber das Fahrzeug lenkten, sorgten sie doch dafür, dass immer genug Kohlen nachgelegt wurden, um die beständige Vorwärtsbewegung in rascher Geschwindigkeit aufrechtzuerhalten. Zu ihren politischen Anliegen gehörten Freihandel, die Gleichberechtigung der Katholiken, die Abschaffung der Sklaverei und Wahlrechtsreformen. Was sie auch anpackten: Am Ende standen sie als Sieger da und nicht ihre politischen Gegner, die Tories.
Einen fulminanten Abschluss fand diese Phase mit dem vierfachen britischen Premierminister William E. Gladstone. Er hielt den Staat schmal, um dem Bürger die Gelegenheit zu geben, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Damit ihnen das besser gelänge, mühte er sich darum, den Zugang zu Bildung zu erleichtern. Er verlor sehenden Auges seine eigene Machtstellung im Kampf für mehr Autonomie für Irland. Und er arbeitete an einem Europa des friedfertigen Miteinanders (ein Konzept, das von Bismarcks Machtspielchen zerstört wurde). Seine Ziele waren Wohlfahrt und Frieden – und er war überzeugt, dass dies nur erreicht werden konnte, wenn man der Dynamik des menschlichen Willens zur Verbesserung möglichst freien Lauf lässt.
Am Ende dieser 200 Jahre von Whig-Geist in Großbritannien sah sich der Liberalismus einer überwältigenden Front aus Feinden gegenüber: Nationalisten und Sozialisten, Konservative und Sozialdemokraten – alle hieben aus unterschiedlichen Richtungen auf den Liberalismus ein, wobei die Kritik in den Grundzügen kaum anders klang als heute: Laissez-faire sei ein Instrument der Reichen; ihre Libertinage ließe die Kultur zugrunde gehen; diese ganze Sache mit der Freiheit sei ein Elitenprojekt; wahre Freiheit sei nur in der Nation zu haben oder in der Revolution …
Was aber hatte diesen Frauen und Männern die Kraft gegeben, über rund zwei Jahrhunderte hinweg ein Land wie Großbritannien zu prägen – und damit letztlich die ganze Welt? Es waren zwei grundlegende Überzeugungen. Die Welt kann besser werden. Die Welt wird besser, indem sich Menschen dafür einsetzen. Das war die Seele der Bewegung, die wesentlich dazu beigetragen hat, unseren Wohlstand und unser freiheitliches System zu begründen. Es ist das waghalsige Vertrauen darauf, dass Veränderungen in vielen Fällen Verbesserungen sind – gerade da, wo sie spontan entstehen.
Eingeklemmt zwischen den Wachstumskritikern auf der einen und den Abendlandschützern auf der anderen Seite bläst auch heute der Globalisierung der eiskalte Wind der Grenzzieher wieder ins Gesicht. Die ökonomischen und politischen Gewinne der letzten 30 Jahre werden beiseite gewischt, und Fortschritt und Offenheit werden sogar aus den Sonntagsreden entfernt. Diese „schöne neue Welt“ der Grenzen sollte nicht die Oberhand gewinnen, sonst geraten viele unserer Errungenschaften in ernsthafte Gefahr. Und anders als die Grenzfreunde es uns glauben machen möchten: Am Ende ginge es den heutigen Verlierern noch schlimmer und die derzeitigen subjektiven Ängste würden objektive Realitäten. Um das zu erkennen, genügt der Blick auf die größten Freunde innerer wie äußerer Grenzen: Nordkorea etwa, Venezuela und derzeit immer mehr die Türkei.
Das Credo der Whigs, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte zunehmenden Erfolgs ist, ist keine Schönfärberei. Die These wird wieder und wieder bestätigt. Oder zu welcher Zeit waren die Menschen je freier? Zu welcher Zeit ging es ihnen finanziell oder gesundheitlich besser? Wer würde ernsthaft mit seiner Ururgroßmutter im 19. Jahrhundert oder einem Fürsten des 16. Jahrhunderts tauschen wollen?
All das verdanken wir freilich weder einem Weltgeist noch einer unsichtbaren Macht. Es ist das Ergebnis menschlicher Vernunft. Nicht eines Gehirns, sondern der intellektuellen Bemühungen von unzähligen Menschen, die im beständigen Austausch nach Lösungen und Verbesserungen suchen. Dieses Streben des Menschen ist der Grund dafür, dass Getreide gezüchtet, das Rad erfunden, Gesetze aufgeschrieben, Schiffe gebaut, Herrscher beschränkt, Schulen eingerichtet, Penizillin entdeckt, Frauen gleichgestellt, Katalysatoren entwickelt und das Internet konzipiert wurde.
Dass wir Zivilisation haben, liegt daran, dass Menschen sich nie zufriedengegeben haben, sondern immer weiterkommen wollten. Wie es Friedrich August von Hayek formulierte: „Nicht in den Früchten zurückliegenden Erfolgs, sondern im Leben in der Zukunft und für die Zukunft erweist sich die menschliche Intelligenz.“ Es ist der Drang zur Grenzüberschreitung und zur Entgrenzung, der unser Leben lebenswert macht. Gerade heute braucht die Welt Menschen, die diese Haltung teilen. Menschen, die wie die Whigs vor zweihundert Jahren beherzte Optimisten sind und so die Welt zu einem besseren Ort machen.
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Autor:
Clemens Schneider ist Mitbegründer des freiheitlichen Think Tanks "Prometheus - Das Freiheitsinstitut" und arbeitet in Katholischer Theologie an einer Dissertation über den englischen Historiker Lord John Acton.