Ein verfrühter Abgesang auf die Soziale Marktwirtschaft
In seinem neuen Buch „Verteilungskampf: Warum Deutschland immer ungleicher wird“ beklagt Marcel Fratzscher die wachsende Ungleichheit in Deutschland. Die Soziale Marktwirtschaft existiere nicht mehr und Wachstumschancen gingen verloren. Hat er recht? ÖkonomenBlog Autorin Karen Horn hat das Buch gelesen.
Dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, dass die Schere zwischen den Einkommen oder Vermögen immer weiter klafft, gehört seit jeher zu den Standardbehauptungen der Kapitalismuskritik. Viel Rechnerkapazität ist aufgewandt worden und noch mehr Tinte geflossen, um nachzuweisen, in welchem Ausmaß dies der Fall ist oder ob der Befund einer stetig zunehmenden materiellen Ungleichheit nicht doch auf einer statistischen Täuschung beruht. Für Marcel Fratzscher indes, den Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), ist die Sache klar.
„Deutschland ist heute eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt“, schreibt Fratzscher in seinem neuen Buch mit dem reißerischen Titel „Verteilungskampf“. Damit aber nicht genug: „Das Erhardsche Ziel ,Wohlstand für alle‘ ist heute nur mehr eine Illusion“. Die von Erhard ins Leben gerufene Soziale Marktwirtschaft, „in der die soziale Sicherung aller Bevölkerungsgruppen gewährleistet war“ – sie existiere nicht mehr, und das nicht etwa deshalb, weil die Marktwirtschaft nach zahllosen Eingriffen ihren Namen kaum mehr verdient. Untergegangen sei das Soziale.
Als Beleg seiner These präsentiert Fratzscher mit populärwissenschaftlich leichter Feder eine schier erschlagende Fülle von empirischer Evidenz, illustriert mit Tabellen und Graphiken. Sein Kernbefund lässt sich in drei Beobachtungen zusammenfassen: In Deutschland sei erstens das Vermögen nicht nur sehr ungleich verteilt, was unter anderem an dem starken Besatz mit Familienunternehmen liege. Es falle trotz der legendär hohen Sparquote insgesamt auch im internationalen Vergleich gering aus, unter anderem deshalb, weil die Deutschen außerordentlich untalentierte Anleger seien.
Zweitens habe auch die Ungleichheit von Löhnen, am Markt erwirtschafteten Einkommen und nach Steuern und Transfers verfügbaren Einkommen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen, wozu auch die „Agenda 2010“ von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) beigetragen habe. Dass gerade die sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen und deshalb ein sonst verschüttetes Potential heben, streitet er ab.
Drittens lasse die sogenannte soziale Mobilität zu wünschen übrig, wobei zu den größten Verlierern die Mittelschicht gehöre. „Nirgendwo bleibt Arm so oft Arm und Reich so oft Reich“, schreibt Fratzscher anklagend; es gebe in Deutschland immer weniger Aufstiegsgeschichten. Die staatliche Umverteilung sei außerstande, einen Ausgleich zu schaffen, denn sie sei zwar umfassend, aber reichlich ineffizient. Allzu oft fließe das Geld nur von den einen Bessergestellten zu den anderen Bessergestellten. Sowohl die Fiskal- als auch die Geldpolitik trügen immer wieder zur Steigerung der Ungleichheit bei, ebenso wie die externen Einflüsse Globalisierung und Digitalisierung. Insgesamt bedinge dies einen dramatischen Mangel an Chancengleichheit; die Leidtragenden seien alle.
Als sich betont sachorientiert gebender Ökonom widmet Fratzscher der politischen, philosophischen oder ethischen Auseinandersetzung mit materieller Ungleichheit wenig Raum. Er beschäftigt sich nicht einmal kurz mit den Unterschieden zwischen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit und deren Bedeutung für die Legitimität politischer Eingriffe. In einem peinlich dürftigen Exkurs zum Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit lässt er dann gerade einmal ein paar wenige Namen wie John Rawls, Amartya Sen, Robert Nozick und Isaiah Berlin fallen. Berlins klassisches Begriffspaar von positiver und negativer Freiheit interpretiert er dabei komplett um. Für ihn bedeutet schon eine materielle Minderversorgung, die zur Abhängigkeit von staatlichen Leistungen und Transfers führt, eine Einschränkung der negativen individuellen Freiheit; willkürlichen Zwangs bedarf es nicht.
Mehr bei seinem Leisten ist Fratzscher, wenn er sich auf jene rein utilitaristische Schiene verlegt, die dem Fach seinerzeit freilich den bis heute gewahrten Ruf als „Dismal science“ eingebracht hat: Alles wird nur daran gemessen, ob es wirtschaftliches Wachstum bringt. Dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nur ein höchst mediokres Maß für die Zunahme des verfügbaren Einkommens der Menschen und für den Fortschritt ihrer Lebensbedingungen ist, blendet Fratzscher locker aus. Und bei einer solchen Wachstumsfixierung ist es dann auch nicht mehr weit zu dem bekannten technokratischen Machbarkeitsglauben, man bräuchte nur an diversen Stellschrauben zu drehen, schon spucke die gesamtwirtschaftliche Wundermaschine mehr Wohlstand für alle aus.
Ausgiebig präsentiert der DIW-Präsident wissenschaftliche Studien und erklärt theoretische Zusammenhänge, die seine These stützen, dass materielle Ungleichheit, wenn ihr Ausmaß einen kritischen Punkt überschreitet, die gesamtwirtschaftliche Leistung schwächt. Sie tut dies nach seiner Auffassung, indem sie die schon vorhandenen Ungleichgewichte in Verschuldung und Ersparnis vertieft, das Humankapital mindert, Finanzkrisen mitverursacht, den Verteilungskampf verschärft, die Gesundheit beeinträchtigt und Teilhabe erschwert. Fratzscher zitiert unter anderem Zahlen der OECD, nach denen Deutschland von 1990 bis 2010 mit einer geringeren Ungleichheit ein um sechs Prozentpunkte höheres Wachstum des Bruttoinlandsprodukts je Kopf hätte erzielen können. Auf die sich aufdrängende Frage, was derlei kontrafaktische Evidenz taugt, ob die Gleichheit tatsächlich das Wachstum treibt oder womöglich umgekehrt das Wachstum die Gleichheit, und ob hier hinreichend sauber zwischen Korrelationen und Kausalitäten unterschieden ist, geht Fratzscher nicht ein.
Das Thema Ungleichheit bezieht seine öffentliche Reizwirkung nicht nur aus seiner inhaltlichen Nähe zum emotional besetzten Wert der Gerechtigkeit, sondern wesentlich auch aus der selbst in diesem Buch zutage tretenden Schwierigkeit, überhaupt zu einem objektiven und nachvollziehbaren Befund zu kommen. Empirisch unumstritten ist nur, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland seit 1995 zugenommen hat; ansonsten findet sich zu fast jedem angeblichen Befund irgendwo das Gegenteil. Das liegt daran, dass man endlos darüber streiten kann, was genau es wie zu messen gilt, was die relevanten Bezugsgrößen sind, in welche Richtung Kausalitäten plausibel sind, welche Vergleiche angemessen erscheinen oder wo sich nur ein Basiseffekt zeigt. Eigentlich eignen sich Verteilungsanalysen nicht gut für eine populärwissenschaftliche Darstellung, weil man als kritischer Leser bei jeder Aussage nachprüfen müsste, ob die Zahlen plausibel zustande gekommen sind.
Dem Laien ist es zudem schwer möglich, unterschwellige und vielleicht sogar nur unterbewusst vorgenommene Manipulationen zu erkennen. Schier erstickt im undurchdringlichen Zahlendickicht, ist die Versuchung dann leicht, sich in der Debatte auf empiriefreie ideologische Grundsatzpositionen zurückzuziehen, mit welcher Stoßrichtung auch immer. In Fratzschers Buch finden sich etliche Unschärfen, hinter denen womöglich eine solche politische Positionierung steckt, zum Beispiel wenn er das Argument zurückweist, die Deutschen hätten vor allem deshalb relativ wenig Vermögen angesammelt, weil ihre Altersvorsorge vor allem über die Sozialsysteme laufe. Rentenanwartschaften seien kein Vermögen; weder stünden sie in ihrer Höhe fest noch könne man sie verkaufen oder beleihen. Das ist natürlich korrekt – aber das macht das Argument trotzdem nicht völlig falsch.
Fratzschers Abgesang auf die Soziale Marktwirtschaft ist gewiss verfrüht. In seinen politischen Forderungen zur Stärkung besserer Chancen für alle gibt es trotzdem – oder gerade deshalb – so manches, worin man ihm gerne folgt. So betont er zu Recht, wie notwendig die Pflege der zu lange vernachlässigten Infrastruktur in Deutschland ist, wie wichtig mehr Investitionen in frühkindliche Bildung sind oder wie nützlich ein allgemeines Schulfach Wirtschaft wäre. Er mahnt an, die staatliche Umverteilung schlanker, fokussierter und effizienter zu gestalten, und er ruft dazu auf, die nach Deutschland zuwandernden Flüchtlinge rasch in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Aber Fratzscher ruft auch nach einer stärkeren Besteuerung des Kapitals, setzt demgegenüber ein wenig zu optimistisch auf die Multiplikatorwirkung staatlicher Ausgaben und liebäugelt mit einer Vermögenspolitik in Form einer „gezielten Förderung von Immobilienerwerb“ durch den Staat, obwohl er kurz zuvor selber darstellt, wie just eine solche wohlmeinende Politik in den Vereinigten Staaten seinerzeit die große Immobilienblase produziert hat, in deren Folge die ganze Welt in eine tiefe Krise rutschte – die „verheerendste seit dem Zweiten Weltkrieg“. Eine Erörterung, an welchen Stellen der Staat die Chancen gerade für Menschen am unteren Ende der Einkommensverteilung befördern würde, indem er hemmende Regulierungen lockerte und sich ein wenig zurückzöge, fehlt.
Ein grundsätzliches Ärgernis an diesem Buch ist die durchgängige Vorspiegelung von Wertfreiheit. Nichts an Fratzschers wachstumsorientierten Aussagen ist wertfrei, und das muss es auch nicht sein. Nur wäre es wünschenswert, wenn Ökonomen wie er, die in die öffentliche Debatte hineinwirken und dort von vielen Menschen ernst genommen werden, ihren Horizont ein wenig weiteten und ihre unvermeidlichen Wertungen dann kundiger untermauern könnten. Der altbekannte Makel der philosophischen Satisfaktionsunfähigkeit droht sonst wieder auf die ganze Disziplin zurückzufallen.
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Autor:
Prof. Dr. Karen Horn Karen Horn lebt als freie Wissenschaftlerin und Publizistin in Zürich. Sie lehrt ökonomische Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und an der Universität Erfurt.