Droht der deutschen Konjunktur die Überhitzung? Und dann?
Die deutsche Wirtschaft wächst und wächst und mit ihr die Beschäftigung und die Einkommen. Was nach einem großen Erfolg klingt, kann aber auch zum Problem werden. Läuft die deutsche Wirtschaft heiß? Welche Folgen hätte das?
Der Konjunkturmotor läuft, und die Beschäftigung steigt auf immer neue Rekordwerte. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Wert seit dem Jahr 1991. Der Aufschwung dauert bereits mehrere Jahre an. Nachdem die große Rezession überwunden war, gab es nur im Hochpunkt der Eurokrise 2012/2013 einen Rücksetzer. Seitdem geht es konjunkturell bergauf – im historischen Vergleich eine ausgesprochen lange Phase.
Was ist nun schlecht an kräftig steigenden Produktions- und Beschäftigungszahlen? Eine hohe wirtschaftliche Dynamik mit mehr Einkommen und sinkender Arbeitslosigkeit ist durchaus zu begrüßen, doch darf nicht außer Acht gelassen werden, ob die Entwicklung nachhaltig ist oder ob wir aktuell Zeuge eine wirtschaftlichen Berg- und Talfahrt werden, bei der die Bergfahrt gerade auf ihren Hochpunkt zusteuert. Die Einschätzung dieser Frage ist von großer Bedeutung für die Finanz- und Wirtschaftspolitik. Zum einen, weil die Wirtschaftspolitik bemüht sein sollte, die Amplituden konjunktureller Schwankungen gering zu halten, also für Stabilität von Einkommen und Beschäftigung zu sorgen. Dann bedeutete der Befund der Überhitzung nämlich, dass die Wirtschaftspolitik sich wieder mit Stabilisierungsmaßnahmen auseinandersetzen sollte – diesmal aber nicht mit Konjunkturprogrammen wie 2008/2009, sondern mit dem genauen Gegenteil. Zum anderen geht es um die Einschätzung der Haushaltslage. Wenn die Konjunktur heiß läuft, steigen Steuer- und Beitragseinnahmen typischerweise schneller als die Ausgaben des Staates. Während der Talfahrt kehrt sich dies jedoch um. Die Überschüsse der konjunkturellen Hochphasen dürften also nicht von langer Dauer sein. Somit ist die Frage nach der Überhitzung auch für die vermeintlichen finanziellen Spielräume, über die in den Sondierungsrunden zur Bildung einer neuen Bundesregierung gesprochen wird, von erheblicher Bedeutung; schließlich könnten die aktuellen Überschüsse nur dann guten Gewissens in dauerhaft angelegte Steuersenkungen oder Mehrausgaben umgemünzt werden, wenn sie über eine entsprechende Periode zur Verfügung stehen, wenn wir also gerade nicht mitten in einer konjunkturellen Berg- und Talfahrt sind, sondern die wirtschaftliche Dynamik nachhaltig das Niveau erhöht hat.
Die Anzeichen verdichten sich, dass der Aufschwung derzeit in eine Überhitzung mündet. So warnte jüngst der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wie zuvor das IfW Kiel vor diesem Szenario, und Umfragen zur Kapazitätsauslastung weisen deutlich in diese Richtung. Häufig wird hier entgegengehalten, dass die Dynamik bei Verbraucherpreisen und Löhnen noch vergleichsweise moderat sei, was eher untypisch für ein Überhitzungsszenario ist.
Dabei sollte allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass die Weltwirtschaft gerade erst wieder Tritt fasst und die weltweite Preisdynamik noch gering ist – insbesondere im übrigen Euroraum –, was auf das Preisniveau in Deutschland ausstrahlen dürfte. Zugleich wurde in jüngerer Zeit ein stärkerer Lohnanstieg wohl durch Arbeitsmigration aus der übrigen EU und steigende Partizipationsraten von Frauen und Älteren gedämpft. Partizipationsraten können aber nicht beliebig steigen, und die wirtschaftliche Situation in vielen anderen EU-Ländern bessert sich zusehends, was das Arbeitsmigrationsziel Deutschland relativ unattraktiver macht. So gibt es inzwischen denn auch in einigen Branchen Hinweise auf einen Fachkräftemangel. Insbesondere im Bau zeigen sich Anspannungen. Hier steigen inzwischen die Preise beschleunigt.
Der aktuelle Aufschwung findet vor dem Hintergrund einer aus Sicht der wirtschaftlichen Lage in Deutschland seit geraumer Zeit sehr expansiven Geldpolitik der EZB statt. Der ungewöhnlich lange Aufschwung und die ungewöhnlich lange und ausgeprägte Niedrigzinsphase stehen im Zusammenhang.
Das geldpolitische Umfeld macht sich gerade in der Bauwirtschaft und in diversen Vermögenspreisen – nicht nur den Immobilienpreisen – bemerkbar. Während in anderen Teilen des Euroraums die Folgen von Überschuldungskrisen die Impulse der expansiven Geldpolitik dämpfen, dürften sie in Deutschland kaum gemindert Wirkung entfalten. Besonders problematisch wird eine solche Entwicklung, wenn sich der Bausektor sehr stark ausdehnt oder wenn steigende Vermögenspreise als Kreditsicherheiten für „bare Münze“ genommen werden und so eine Kreditblase induzieren, deren Platzen die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems in Frage stellen kann. Verglichen mit der Lage in einigen Ländern vor der großen Rezession, wie Spanien, Irland oder den USA, sind die offiziellen Zahlen zur Expansion des Bausektors und insbesondere die Entwicklung des Kreditvolumens noch überschaubar. Doch ziehen auch kleinere Übertreibungen Korrekturen nach sich, und was die Expansion des Bausektors angeht, gibt es Zweifel, dass diese vollständig von der amtlichen Statistik erfasst wird. Viele Bauunternehmen werden projektbezogen gegründet und sind daher zu kurz am Markt, als dass die amtliche Statistik sie überhaupt registrieren kann.
Für die konjunkturelle Lage in Deutschland wäre eine restriktivere Geldpolitik angemessen, um weiteren Übertreibungen vorzubeugen. Die Politik der EZB wird sich jedoch nicht an den Gegebenheiten in Deutschland alleine ausrichten – noch ist der Konjunkturaufschwung in weiten Teilen des Euroraums, insbesondere in Italien und Frankreich, zu jung und zu moderat und die Risiken einer Zinswende für diese Ökonomien zu greifbar, als dass ein frühzeitiges Gegensteuern von Seiten der Geldpolitik zu erwarten ist.
Da die Geldpolitik wohl ausfällt, um gegenzusteuern, sollten die Mittel in den Blick genommen werden, die der Politik zur Verfügung stehen. Zu nennen ist hier die Bankenregulierung, die z.B. durch entsprechende Eigenkapitalvorschriften antizyklisch ausgerichtet werden kann. Ein Feld, auf dem die Deutsche Bundesbank durchaus aktiv ist. Es geht aber auch um die Finanzpolitik. Angesichts laufender Sondierungsgespräche und anstehender Koalitionsverhandlungen, die diversen Ausgabenwünschen gegenüberstehen, erscheint es aber sehr unwahrscheinlich, dass die Finanzpolitik in nächster Zeit restriktiv ausgerichtet sein wird. Mehrausgaben des Bundes und Steuersenkungen, wenn vielleicht auch nicht in Umfängen wie noch in dem einen oder anderen Wahlprogramm versprochen, dürften ein leichterer Kompromiss sein als temporäre Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen.
Noch kann kein Wölkchen den Konjunkturhimmel trüben, und rezessive Tendenzen scheinen fern. Wenn die Finanzpolitik im Zuge eines Koalitionskompromisses, bei dem jede Partei eines ihrer Projekte durchführen kann, Platz greift, dürfte sich die Konjunktur sogar noch weiter beschleunigen. Der Korrekturbedarf wird dann wohl weiter zunehmen. Gut möglich, dass die Wende der Geldpolitik später Auslöser für das Ende des Booms sein wird. So war es letztlich auch vor der großen Rezession 2008/2009, die mit einem weltweiten Zinsanstieg eingeläutet wurde, nachdem die Inflation angeschwollen war. Doch sollten wir, wenn sich denn dieses Muster im Kleinen für Deutschland wiederholt, das dann nicht der Zinswende anlasten, sondern ihrem so langen Ausbleiben und der Blindheit der Finanzpolitik gegenüber ihrer gestiegenen stabilitätspolitischen Verantwortung in einer Währungsunion.
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Autor:
Prof. Dr. Jens Boysen-Hogrefe ist stellv. Leiter des Prognosezentrums am ifw Kiel und Mitglied im „Arbeitskreis Steuerschätzungen“ des Bundesministeriums der Finanzen.