Digitalsteuer: Wirtschaftspopulismus unter dem Deckmantel fairer Besteuerung?

Die EU-Kommission will große Internetkonzerne mit einer Sondersteuer belegen. Weil die angeblich aktuell zu wenig Steuern zahlen. Aber dafür fehlt die empirische Evidenz. Geht es am Ende um Populismus und Protektionismus?

Die Art und Weise, wie die Europäische Kommission gegenwärtig ihre Pläne zur Besteuerung von digitalen Unternehmen in einer massiven politischen Kampagne kommuniziert, sollte uns zu denken geben. Statt Fakten zu nennen und zu belegen, scheint die Europäische Kommission nur ein Ziel zu verfolgen: bei den Bürgern den Mythos zu manifestieren, dass Unternehmen der Digitalwirtschaft keine Steuern zahlen.

Kommunikation ist immer wichtig. Aber in der Politik ist es erst das stetige Wiederholen von Behauptungen, das über den Erfolg und Misserfolg politischer Ideen entscheidet. Durch das stetige Wiederholen skurriler Zahlen wollen die Steuerabteilung der Europäischen Kommission und allen voran der französische Kommissar für Wirtschaft und Finanzen, Pierre Moscovici, den Eindruck erwecken, dass digitale Unternehmen in der EU keine Steuern zahlen, weshalb eine europäische Sondersteuer auf digitale Geschäftsmodelle eingeführt werden müsse.

In ihrer offiziellen Verlautbarung zur „Fairen und effizienten Besteuerung digitaler Unternehmen“ vom September 2017 behauptet die Europäische Kommission, dass digitale Unternehmen in der EU im Durchschnitt nur zwischen 8,5 und 10,1 Prozent Steuern auf ihre Unternehmensgewinne zahlen würden. Die Zahlen wurden in einer auffälligen Infografik prominent platziert. Fünf farbige Blasen suggerieren dem Leser, dass Unternehmen mit sogenannten „traditionellen“ Geschäftsmodellen Steuersätze in Höhe von 20,9 bzw. 23,2 Prozent aufweisen würden. Seit die Kommission diese Zahlen erstmals veröffentlicht hat, haben ihre Kommunikationsexperten diese fast täglich in sozialen Onlinemedien verbreitet – ergänzt durch Blasendiagramme, Info-Videos und Kommentare von hochrangigen Beamten, die ein besonderes europäisches Steuerregime für digitale Unternehmen fordern.

Ein genauerer Blick auf die von der Europäischen Kommission verbreiteten „Steuersätze“ zeigt, dass die Zahlen zum einen hypothetischer Natur sind und zum anderen von der Kommission ins rechte Licht gerückt wurden. Bei den Zahlen handelt es sich um Schätzungen auf der Grundlage eines „hypothetischen Investitionsprojekts“ und einer Reihe theoretischer Annahmen über die Vorsteuerrendite einer hypothetischen Investition, bestimmte Realzinsen und unterschiedliche Abschreibungssätze für eine begrenzte Anzahl von Anlageklassen. Derartige Informationen bzw. Interpretationshilfen findet man in der Publikation der Kommission jedoch nicht – und auch nicht auf Facebook und Twitter.

Jüngst äußerte sich einer der Autoren der von der Kommission zitierten Studie, Professor Christoph Spengel von der Universität Mannheim, mit Blick auf die Kampagne der Europäischen Kommission mit dem Hinweis, es sei nicht korrekt, zu behaupten, dass die Digitalwirtschaft unterbesteuert sei. Eine Sondersteuer für die Digitalwirtschaft, so der Autor, würde zu Doppelbesteuerung führen.

Am Europäischen Zentrum für Europäische Wirtschaftspolitik (ECIPE) haben wir versucht, den Regulierungsdschungel internationaler Besteuerung zu beleuchten. Es stellt sich zunächst heraus, dass es schwierig ist, Daten darüber zu finden, wie viel Steuern Unternehmen in einzelnen Ländern zahlen. Dies betrifft alle Unternehmen, sowohl traditionelle als auch Unternehmen der Digitalwirtschaft. Die Jahresberichte börsennotierter Unternehmen geben uns jedoch eine gute Vorstellung davon, was digitale und traditionelle Unternehmen wirklich an Steuern auf ihre Vorsteuergewinne zahlen. Es stellt sich heraus, dass der durchschnittliche effektive Steuersatz „traditioneller“ Unternehmen (EuroStoxx 50) 27,7 Prozent beträgt (Fünfjahresdurchschnitt für den Zeitraum 2012 bis 2016) und damit deutlich höher ist als die von der Europäischen Kommission für die EU in den Raum geworfenen Zahlen (dieser Unterschied an sich bedürfte einer eingehenderen Debatte). Vor allem aber betrugen die realen durchschnittlichen Unternehmenssteuersätze großer (und sehr bekannter) digitaler Unternehmen, aber auch weniger bekannter digitaler Unternehmen (MSCI Digital Services) 26,8 Prozent bzw. 29,4 Prozent. Mit anderen Worten, die hypothetischen Zahlen, die von der Europäischen Kommission und einigen ihrer hochrangigen Beamten offensiv kommuniziert werden, unterschätzen die realen effektiven Steuersätze digitaler Unternehmen um etwa 20 Prozentpunkte.

Der Blick in die tatsächlichen Zahlen zeigt zudem, dass es keinen systematischen Unterschied zwischen den effektiven Steuersätzen von digitalen und traditionellen Unternehmen gibt. Die durchschnittlichen Effektiv-Steuersätze sind tatsächlich sehr ähnlich, wobei sich für die Gruppe digitaler Unternehmen sogar etwas höhere Effektiv-Steuersätze zeigen. Die realen Finanzdaten zeigen auch, dass es traditionelle Unternehmen gibt, deren Steuersätze (nur) in der Größenordnung von 20 Prozent liegen. Gleichzeitig gibt es große digitale Unternehmen, die (unter anderem aufgrund von Doppelbesteuerung) etwa 50 Prozent Steuern auf ihre Unternehmensgewinne zahlen.

In der ECIPE-Studie haben wir nicht untersucht, wie einzelne Unternehmen Gewinne über Transferpreissysteme verschieben. Warum? Weil es alle tun – traditionelle und digitale, große und kleine Unternehmen – und weil es schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, solide Steuerdaten auf Länderebene zu gewinnen. Dafür sind in erster Linie die Regierungen verantwortlich. Für eine evidenzgeleitete Politik bedarf es allerdings dieser Daten, also Zahlen darüber, was Unternehmen tatsächlich innerhalb und außerhalb der EU an Steuern auf ihre Unternehmensgewinne zahlen.

In Brüssel scheint das politische Schaffen von Fakten indessen nach wie vor Vorrang zu genießen, zumindest für diejenigen Akteure, die auf eine digitale Sondersteuer drängen. Bruno Le Maire, Frankreichs Finanzminister, sagte vor einigen Tagen, dass „es einfach nicht weitergehen kann, dass Internetgiganten in europäischen Ländern riesige Profite machen und lächerlich niedrige Steuern zahlen, weil das nicht fair ist“. Er argumentierte weiter, es sei „von entscheidender Bedeutung, dass Europa bis Ende 2018 eine effiziente und schnelle Lösung findet und handelt“. Andernfalls, postulierte der Minister, würden die Bürger „es nicht verstehen, wenn wir es nicht tun“. Für die Kampagne der Kommission scheint es sich anders zu verhalten. Einige EU-Politiker scheinen sich ganz klar dessen bewusst zu sein, dass die Bürger nur das verstehen, was ihnen die „Offiziellen“ sagen.

Die Angelegenheit ist insbesondere vor dem Hintergrund bedauerlich, dass Reformen hin zu einer effizienteren Besteuerung durchaus angebracht sind. Ungleiche effektive Steuersätze können den Wettbewerb verfälschen und zu geringeren Steuereinnahmen führen. Diejenigen, die eine Sondersteuer für die Digitalwirtschaft fordern, müssten evidenzgeleitet erklären, warum sie durch Grundsätze gerechter Besteuerung motiviert ist.

Die OECD-Gruppe für Digitalwirtschaft, die sich mehr als zwei Jahre mit dem Thema Steuern und digitale Geschäftsmodelle befasste, kam zu dem Schluss, dass es unmöglich sei, die „Digitalwirtschaft“, die selbst immer mehr zur „eigentlichen Wirtschaft“ wird, steuerlich besonders zu behandeln, ohne explizit diskriminieren zu wollen. Es ist daher schwierig, die Hintergründe dieser Kampagne – und die tatsächlichen Beweggründe der Europäischen Kommission – zu verstehen. In Deutschland wurde im Sondierungspapier für die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, CDU und CSU ausdrücklich das Ziel festgelegt, „Google, Apple, Facebook und Amazon“ besteuern zu wollen. Details wurden nicht genannt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Idee der Sondersteuer für die Digitalwirtschaft der Europäischen Kommission wiederum in einem anderen Licht. Klar ist jedoch: Der Vorstoß beruht nicht auf Grundsätzen der Steuergerechtigkeit. Er könnte auch als europäische Initiative für eine diskriminierende Industriepolitik und als politischer Hebel gegen die Vereinigten Staaten und andere Länder verstanden werden, in denen wettbewerbsfähige digitale Unternehmen beheimatet sind. Offen bleibt, auf wen man sich in Brüssel als Nächstes einschießt. Fest steht (einmal mehr), dass die Brüsseler Politik die Grundsätze evidenzgeleiteter Wirtschaftspolitik mit Füßen tritt.

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Autor:

Matthias Bauer ist Senior Economist beim Europäischen Zentrum für internationale Politische Wirtschaft (ECIPE).

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