Die Wanderung der Mittelschicht: Hohe Abgaben- und Steuerlast verschiebt die ökonomische Mitte

Wie haben sich die Einkommen und Vermögen der Mittelschicht in den letzten Jahren entwickelt, und welche politischen Maßnahmen können ergriffen werden, um die Mittelschicht zu sichern? Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat diese Fragen in ihrem Mittelstandsbericht untersucht – und Antworten gefunden.

Vor einigen Tagen haben wir eine neue Studie zur Situation der Mittelschicht vorgelegt und damit an frühere Studien angeknüpft: zur Einkommensentwicklung der Mittelschicht (2012) und zur Vermögenssituation der Mittelschicht (2015). Eine wesentliche Erkenntnis damals wie heute lautet: Die Mitte ist robust, es bleibt dabei, dass mehr als drei Viertel der Menschen in Deutschland ökonomisch zur Mitte zu zählen sind (aktuell 77 Prozent). Dennoch überraschte uns der Befund, dass die Mittelschicht weniger als erwartet vom Aufschwung der letzten Jahre profitiert hat. Während die Wirtschaft zwischen 2005 und 2015 um 16 Prozent gewachsen ist, konnte das mittlere Einkommen der Mittelschicht nur um sieben Prozent zulegen. Das hat unserer Meinung nach zwei wesentliche Ursachen. Erstens strukturelle Verschiebungen innerhalb der Mitte und zweitens die hohe Abgaben- und Steuerlast.

Verschiebungen innerhalb der Mitte

Die ökonomische Mitte ist zwischen 60 und 200 Prozent des Medianeinkommens definiert. Dies lag 2015 (aktueller Datenstand Sozio-Oekonomisches Panel) bei 1.626 Euro. Innerhalb dieser Mittelschicht kann es aber durchaus zu Verschiebungen gekommen sein. Wir messen mit 77 Prozent lediglich, welcher Anteil der Bevölkerung sich insgesamt in dieser Einkommensgruppe befindet. Innerhalb dieser Bandbreite können sich aber durchaus Veränderungen zeigen. Diese werden in der folgenden Grafik deutlich.

Die schraffierte Bandbreite entspricht den Einkommensgrenzen (60 bis 200 Prozent des Medians von 2015) der Mittelschicht. Die Dichte in der Mitte der Verteilung hat abgenommen, und die Verteilung ist weniger konzentriert. Nicht nur innerhalb des schraffierten Bereiches haben insbesondere die höheren Einkommen zugenommen. Einzelne haben also ihr Haushaltseinkommen durchaus erhöht. Das geht vor allem auf die gestiegene Erwerbstätigkeit zurück. Die Grafik zeigt aber auch, dass bei einer schmaleren Definition der Mittelschicht durchaus andere Ergebnisse entstehen können. Aber auch andere ökonomische und gesellschaftliche Faktoren beeinflussen die Zusammensetzung der Mitte.

  • Haushaltsgröße: Wir erleben in den letzten Jahren einen stetigen Trend zu mehr Einpersonenhaushalten und kleineren Familiengrößen. Der durchschnittliche Haushalt im SOEP bestand 1994 aus 2.2 Personen, 2015 waren es nur 2.0. Der Anteil der Ein-Personen-Haushalte ist allein zwischen 2005 und 2015 von 37,5 auf 41,4 Prozent gestiegen. Damit profitieren weniger Haushalte von Skalenerträgen im Konsum (Mehrpersonenhaushalte wirtschaften günstiger als Singlehaushalte). Diese „Versingelung“ senkt damit die gemessenen Einkommen statistisch (Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen).
  • Zuwanderung: Die Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich während der letzten Jahre verändert. Nach Deutschland kommen jedes Jahr viele Migranten als Erwerbspersonen hinzu. Da diese vielfach über ein niedrigeres Bildungsniveau und schlechtere Einkommensperspektiven verfügen, steigen sie statistisch eher in einem unteren Teil statistisch der Einkommensverteilung ein. Auch dies erhöht die Ungleichheit.
  • Studierendenzahl: Immer mehr junge Menschen studieren in Deutschland. Studierende verdienen aber in den ersten Jahren nach ihrem schulischen Abschluss deutlich weniger, als wenn sie eine Ausbildung absolvieren und danach im entsprechenden Beruf arbeiten würden. Sie gelten durch den eigenen Haushalt rein statistisch regelmäßig als armutsgefährdet, selbst wenn sie es selbst nicht so einschätzen würden. Auch eine positive Entwicklung wie steigende Studierendenzahlen können also die gemessene Ungleichheit erhöhen.

Belastungen

Wie beschrieben, spielen Struktureffekte, etwa in Bezug auf die Haushaltsgrößen, eine zentrale Rolle. Die Mittelschicht 2015 beschreibt eine andere Personengruppe als die Mittelschicht 2005. Vergleiche von Median- oder Durchschnittseinkommen sind daher mit Zurückhaltung zu interpretieren. Dennoch ist die Frage zulässig, ob der Aufschwung in hinreichendem Umfang bei der Mittelschicht ankommt. Die OECD attestiert Deutschland eine der höchsten Steuer- und Abgabenlasten und mahnt regelmäßig Reformen an. Im deutschen Steuersystem gab es lange keine grundlegenden Reformen.[1] Während die Grundfreibeträge regelmäßig an preisliche Veränderungen angepasst wurden, hat sich in der Besteuerung der niedrigen und mittleren Progressionsstufen über den Ausgleich der Kalten Progression hinaus strukturell wenig getan. In der Folge wurde die Progression für immer mehr Einkommensbezieher relevanter und die Belastung des zusätzlich verdienten Euro (Grenzsteuersatz) stärker.

Wenn die Mittelschicht gestärkt werden soll, dann muss der Aufstieg erleichtert und anreizkompatibel sein. Gerade im mittleren Einkommensbereich führt zusätzliche Arbeit, auch durch die Belastungen der Sozialversicherungsbeiträge, nur zu geringen Einkommenszuwächsen.

Das Medianeinkommen in der Mittelschicht ist real und netto seit 2005 etwa um 120 Euro gestiegen. Das entspricht einer Steigerung von etwa sieben Prozent. Im gleichen Zeitraum ist jedoch die Wirtschaft um 16 Prozent gewachsen. Von der exzellenten Arbeitsmarktentwicklung profitiert nicht nur der Einzelne, sondern vor allem auch der Fiskus. Die Steuerquote stieg im Vergleichszeitraum von 20,8 auf 23,1 Prozent, allein die Lohnsteuereinnahmen stiegen real um ein Viertel. All das führte im gleichen Zeitraum zu 23 Prozent höheren Staatseinnahmen (preisbereinigt). Nicht vergessen werden sollte dabei allerdings, dass wir 2005 ein hohes Staatsdefizit und 2015 einen ausgeglichenen Staatshaushalt hatten. Die Defizite von gestern sind die Steuern von heute. Der Vorrang einer Sanierung der Staatsfinanzen ist nachvollziehbar. Aber jetzt muss über eine spürbare Entlastung der Mittelschicht gesprochen werden.

Ausblick

Vor etwas mehr als einer Dekade lag das politische Augenmerk in Deutschland auf der Bekämpfung struktureller Probleme: Massenarbeitslosigkeit, demografischer Wandel, Konsolidierung der Haushalte und Sozialkassen. Die Reformen, die zu Beginn der 2000er Jahre angepackt wurden, haben Erfolg gezeitigt. Die wirtschaftliche Situation in Deutschland ist sehr gut: Rekordbeschäftigung, steigende Löhne, geringe Arbeitslosigkeit, solide Staatsfinanzen, Überschüsse in den Sozialsystemen. Unser Land befindet sich nach dem schweren Wirtschaftseinbruch infolge der globalen Finanzmarktkrise 2009 in einer nahezu ein Jahrzehnt anhaltenden Aufschwungphase. Gerade im Vergleich mit anderen Ländern innerhalb der Europäischen Union, aber auch weltweit, durchläuft Deutschland eine Periode bemerkenswerter wirtschaftlicher Prosperität. Die Reformerfolge haben jedoch in der Folge eher politische Gegenbewegungen ausgelöst. Ein aktuelles Beispiel ist die aktuelle Rentendebatte, die zu Leistungsausweitungen zu Lasten kommender Generationen und des Bundeshaushalts führt.

Wir brauchen eine zielgerichtete Sozialpolitik, die den tatsächlich Bedürftigen zu Gute kommt und eine breit angelegte Mittelschichtspolitik.

Im politischen Berlin wird allzu häufig über eine breite Sozialpolitik und – wenn überhaupt – eine punktuelle Mittelschichtspolitik diskutiert. Es ist an der Zeit, das umzukehren: Wir brauchen eine zielgerichtete Sozialpolitik, die den tatsächlich Bedürftigen zugutekommt, und eine breit angelegte Mittelschichtspolitik. Denn die Mittelschicht ist die bürgerliche Mitte unserer Gesellschaft. Sie ist die staatstragende Bevölkerungsgruppe. Eine Mittelschichtspolitik wäre deshalb ganz im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft.

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[1] Mit Ausnahme des Quasi-Automatismus zum Ausgleich der Kalten Progression wurden die wichtigsten Privatpersonen betreffenden steuerlichen Entlastungsschritte der letzten zehn bis fünfzehn Jahre nicht politisch initiiert, sondern sind auf Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zurückzuführen: etwa die Wiedereinführung der Pendlerpauschale im Jahr 2008. Auch die verbesserte Absetzbarkeit von Vorsorgeaufwendungen für die Altersvorsorge oder von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung gehen auf das Konto des höchsten deutschen Gerichts.

Autor:

Thomas Köster ist Koordinator Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bei der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V..

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