Die gute Zumutung: Warum Merkels "Wir schaffen das" zur Sozialen Marktwirtschaft passt
„Wir schaffen das“ ist die prägende Formulierung des Jahres. Ähnlich wie mit „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ ist der nüchternen Physikerin Angela Merkel einmal wieder ein sprachlicher Coup geglückt. Man kann wahrhaft vieles kritisieren im Umgang der Bundesregierung mit der Flüchtlingskrise. Doch dieser Satz war ein Signal, das genau zur richtigen Zeit kam und genau die richtige Botschaft transportiert hat. Eine Begründung.
Politiker können viel weniger entscheiden, bewegen und verändern als sie es uns gemeinhin glauben machen wollen. Sie sind unterschiedlichen Zwängen unterworfen, die ihren Handlungsspielraum zum Teil massiv einschränken: von der bevorstehenden Wahl über Pfadabhängigkeiten, innerparteiliche und koalitionäre Kompromisse bis hin zu handfesten Sachzwängen wie knappen Kassen oder unberechenbaren internationalen Partnern. Eines können aber selbst die handlungsunfähigsten Politiker meist recht wirkungsvoll tun: Botschaften und Stimmungen vermitteln.
Obama etwa ist es zu Beginn seiner Präsidentschaft so erfolgreich gelungen, sich als friedvolle Alternative zu Bush zu präsentieren, dass ihm sogar der Friedensnobelpreis zugesprochen wurde. Der kürzlich verstorbene Helmut Schmidt konnte in einer Zeit, als die Bundesrepublik unter heftiger Attacke durch die RAF stand, den Bürgern das Bild eines starken Staates vermitteln. Und viele andere Politiker, von Ronald Reagan bis Gerhard Schröder, haben durch geschickte Rhetorik und gut gewählte Bilder mehr bewegt als durch reale Maßnahmen. Die Kanzlerin reiht sich in diese Runde ein mit ihrem „Wir schaffen das“. Was war so gut an der Aussage?
Kein kollektives Wir
Bei der vergangenen Bundestagswahl zog die SPD mit dem Satz in den Wahlkampf „Das Wir gewinnt“. Sprachlich ist das gar nicht so weit weg von Merkels Satz. Und doch steht gerade die gegenteilige Botschaft dahinter: Der SPD-Slogan sollte das Gefühl vermitteln, in der Mehrheit zu sein, auf der richtigen Seite zu stehen und vor allem, dafür belohnt zu werden. Denn das „Wir“ waren doch die einfachen Leute, die nun endlich – mit Hilfe der SPD, versteht sich – gegenüber „denen“ ihre Rechte und Ansprüche geltend machen könnten, wie etwa mit der Einführung des Mindestlohns.
Das Wir aus dem Kanzleramt hatte eine andere Zielrichtung: Es ging nicht darum, sich zusammenzutun, um das Fell des Bären zu verteilen. Es war die Aufforderung, die Herausforderung der Flüchtlingskrise gemeinsam zu meistern. Darin steckt der Hinweis auf die äußerst beeindruckende Leistung von Hunderttausenden von Mitbürgern, die als Freiwillige Geld, Zeit und Energie einsetzen. Und zugleich die Aufforderung an alle, es diesen Menschen gleich zu tun. Es war eben nicht die Verheißung, die man sonst so oft zu hören bekommt, dass die Politik das schon organisieren und in den Griff bekommen werde. Es war das Gegenteil: ein Appell an den Bürgersinn und die Selbstverantwortung. Das war kein Wir des Kollektivs, sondern ein Wir der Kooperation. Man wünscht sich, Politiker würden ihren Bürgern in diesem Sinne viel häufiger etwas zumuten und zutrauen!
Unternehmergeist und Risikofreude
Die rasante Dynamik, die die Wanderungsbewegungen im Sommer entfaltete, hat bei vielen Menschen Sorgen hervorgerufen. Viele von diesen Überlegungen waren und sind berechtigt und die Bewältigung dieser Aufgabe wird noch lange dauern und aller Voraussicht nach auch teuer werden. Andererseits ist bei weitem nicht jeder Einwand seriös. Nicht nur von den Pegida-Demonstranten, sondern auch in den FAZ-Leserbriefen professioneller (und oft auch professoraler) Bedenkenträger wurden mancherlei Popanze aufgebaut und Teufel an die Wand gemalt, ohne dass es dafür eine seriöse Grundlage gegeben hätte.
Der heraufbeschworenen Überforderung, den Grenzen der Belastbarkeit setzte „Wir schaffen das“ den Optimismus entgegen, der ein wesentliches Charakteristikum der Offenen Gesellschaft und der Marktwirtschaft ist. Das Gegenteil zur Besitzstandwahrung der Rechten und zur Planwirtschaft der Linken ist der Unternehmergeist. Freilich, der Unternehmer muss auch klug wirtschaften und seine Ressourcen und Möglichkeiten bedenken. Aber er muss auch immer wieder den Schritt ins Risiko wagen. Der Wille, die mit dem Risiko einhergehenden Chancen zum Besten zu wenden, ist für ihn die treibende Kraft. Sein Optimismus setzt Energien frei, die die Wahrscheinlichkeit nachhaltig erhöhen, dass sein Unternehmen zu einem Erfolg wird. Im Land der Dichter und Bedenker kann ein frischer Unternehmerwind nur guttun.
Mehr Selbstvertrauen, bitte!
Manch einer in unserem Land befürchtet, dass nicht nur unser Wohlstand, sondern auch unsere Werte, unser Kultur, unsere Identität durch die Flüchtlinge bedroht werden könnten. Schlagworte wie Parallelgesellschaft, Zwangsehen, Salafismus, Ehrenmord stehen für diese Sorgen, denen einzelne Vorkommnisse leider immer wieder Nahrung geben. Hinter diesen Befürchtungen steht nicht selten ein Mangel an Selbstvertrauen. Halten wir unsere Werte und unsere Gesellschaftsform für nicht konkurrenzfähig? Wer sich nicht zu der Behauptung versteigen möchte, dass Migranten grundsätzlich nur nach Westeuropa kommen, um am Sozialsystem teilzuhaben, der sollte zugestehen: Unsere Offene Gesellschaft, Rechtssicherheit und Marktwirtschaft wirken offensichtlich stark anziehend.
Das „Wir schaffen das“ kann auch noch über die ökonomischen und organisatorischen Fragen hinausgehen. Es könnte uns unserer Stärke wieder versichern, die wir daraus ziehen sollten, dass wir uns nicht eingraben und abschotten, sondern offen bleiben für Entwicklungen. Denn das war schon immer das Erfolgsrezept des Abendlandes. Wenn wir Offenheit, Toleranz, individuelle Freiheit und die damit verbundene Verantwortung wirklich leben, dann können diese Werte auch andere überzeugen. In der derzeitigen Lage schlägt auch die Stunde der Mutigen. Die Stunde derjenigen, die so überzeugt sind von unseren Werten, dass sie sie nicht durch Abschottung selbst zur Disposition stellen. Wie Benjamin Franklin schon vor 240 Jahren schrieb: „Wer wesentliche Freiheit aufgeben kann um eine geringfügige bloß jeweilige Sicherheit zu bewirken, verdient weder Freiheit, noch Sicherheit.“
„We shall overcome!“
Es gibt vieles zu kritisieren an der Politik der Kanzlerin in den letzten zehn Jahren. Auch im Umgang mit der Flüchtlingskrise wurden ganz offensichtlich viele Fehler gemacht. Man kann auch trefflich darüber streiten, ob wir nun Obergrenzen brauchen, Integrationskurse, eine Bremse beim Familiennachzug oder ähnliche Maßnahmen. Aber eines sollten Vertreter aller politischen Richtungen, die sich zur Offenen Gesellschaft und zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat bekennen, in der Debatte beherzigen: Der Optimismus und das Vertrauen in die Zivilgesellschaft und ihre Werte, die in dem „Wir schaffen das“ mitschwingen, sind die besten Garanten dafür, dass es uns gelingt, die derzeitigen Probleme zu bewältigen. Dieser Satz ist es wert, in das neue Jahr und in viele weitere Jahre hinüber gerettet zu werden. Es gab schon einmal einen solchen Satz, der viele Menschen inspiriert hat und es geschafft hat, die Welt durch den Einsatz vieler einzelner zu einem besseren Ort zu machen. Es war der Ruf der Bürgerrechtsbewegung in den USA der 60er Jahre: „We shall overcome!“
Keinen Ökonomen-Blog-Post mehr verpassen? Folgen Sie uns auf Facebook, Twitter, abonnieren Sie unseren RSS-Feed oder unseren Newsletter.
Autor:
Clemens Schneider ist Mitbegründer des freiheitlichen Think Tanks "Prometheus - Das Freiheitsinstitut" und arbeitet in Katholischer Theologie an einer Dissertation über den englischen Historiker Lord John Acton.