Das Rentenniveau erhöhen? So viel muss Familie Mustermann dafür zahlen
Der Auftrag kommt eigentlich ganz unscheinbar daher: Rechnen Sie bitte aus, wie viel Geld Familie Mustermann im Jahr 2030 verliert, wenn sich jene Stimmen durchsetzen, die ein höheres oder zumindest gleich bleibendes Rentenniveau fordern. Zwar ist eine solche Berechnung nur auf der Grundlage von Annahmen möglich und sollte deshalb nicht als Prognose missverstanden werden – die Ergebnisse haben es gleichwohl in sich.
Jüngst hat der ver.di-Vorsitzende Bsirske vorgerechnet, wie es nach seiner Ansicht gehen kann: Das Rentenniveau soll dauerhaft bei mindestens 50 Prozent liegen, dazu sei langfristig ein Beitragssatz von bis zu 26 Prozent vonnöten. Ein Jahr vor der Bundestagswahl liebäugeln auch einige politische Kreise damit, das Rentenniveau, also die Relation der gesetzlichen Standardrente zum Durchschnittslohn, in den kommenden anderthalb Jahrzehnten weniger stark sinken zu lassen als vorgesehen. Die Akzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung sei – sagt zum Beispiel Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles – bei einem dauerhaft fallenden Rentenniveau gefährdet. Wer aber fragt nach der Akzeptanz des Systems bei den Beitragszahlern?
Des einen Freud geht nicht ohne des anderen Leid
Ein konstantes Sicherungsniveau auf dem heute gültigen Level würde bedeuten, dass die Renten demnächst wieder im Gleichtakt mit den Löhnen steigen – oder stärker, will man das Rentenniveau anheben. Derzeit gibt es zwar eine jährliche Erhöhung der Renten, aber diese fällt etwas schwächer aus als der Lohnanstieg, weshalb das Rentenniveau sinkt – und zwar aus gutem Grund: Wegen des demografischen Wandels müssen die Erwerbsfähigen in Zukunft immer mehr Ruheständler finanzieren. So kommen heute auf einen über 65-Jährigen immerhin noch drei Frauen und Männer im Alter von 20 bis 64, im Jahr 2035 werden es nach der aktuellen Bevölkerungsprognose des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) nur noch zwei sein. Unter diesen Bedingungen ist die Rente nur über höhere Beitragssätze zu finanzieren. Damit die zusätzlichen Lasten fair zwischen Alt und Jung verteilt werden, hat der Gesetzgeber den Anstieg des Beitragssatzes von aktuell 18,7 Prozent auf maximal 22 Prozent bis zum Jahr 2030 begrenzt. Im Gegenzug müssen die Rentner ein sinkendes Rentenniveau hinnehmen. Bleibt das gesetzliche Sicherungsniveau aber auf dem derzeitigen Niveau, wird die finanzielle Last für die Beitragszahler zwangsläufig noch größer.
Was heißt das nun für die Musterfamilie in Euro und Cent?
Das Steuer-, Abgaben- und Transfer-Mikrosimulationsmodell des IW ermöglicht die Berechnung des Nettoeffekts. Das ist alles andere als trivial, denn höhere Rentenbeiträge verringern nicht nur das Nettoeinkommen, sondern auch die Einkommenssteuerlast, weil sie bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens berücksichtigt werden. Gerechnet wurde für unterschiedliche Haushaltskonstellationen:
Familientypen: Untersucht werden sollen die Folgen höherer Renten sowohl für Singles als auch für Paare, jeweils kinderlos sowie mit einem oder zwei Kindern. Zu berücksichtigen sind dabei auch unterschiedliche Erwerbssituationen. Unser Muster-Single ist per definitionem sozialversicherungspflichtig beschäftigt, auch wenn er oder sie alleinerziehend ist. Bei Paaren sollen folgende Erwerbsmodelle betrachtet werden:
- nur ein Haushaltsmitglied ist in der Gesetzlichen Rentenversicherung versichert, der Partner nicht erwerbstätig
- beide Partner arbeiten, aber nur einer ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt
- beide sind erwerbstätig und zahlen in die Rentenkasse ein
Unterschiedlichen Einkommenshöhen: Um für möglichst viele Einkommensstufen eine Orientierung zu bieten und um abzubilden, dass Besserverdienende durch höhere Altersvorsorgeaufwendungen aufgrund des progressiven Einkommenssteuertarifs steuerlich stärker entlastet werden, betrachten wir nicht nur das Durchschnittseinkommen jedes Haushaltstyps, sondern auch das jeweilige Durchschnittseinkommen der oberen und der unteren Hälfte der Einkommensverteilung. Die Durchschnittseinkommen ergeben sich aus der Fortschreibung der Einkommensdaten aus dem aktuellen sozio-oekonomischen Panel. Zwei Beispiele:
- Ein Doppelverdiener-Paar mit zwei Kindern hat 2016 im Schnitt ein sozialversicherungspflichtiges Bruttoeinkommen von 79.400 Euro, in der besser verdienenden Hälfte dieser Familien liegt der Durschnitt bei rund 106.300 Euro, in der schlechter verdienenden bei 52.400 Euro.
- Ein Alleinerziehender oder eine Alleinerziehende mit einem Kind verdient 2016 durchschnittlich 30.600 Euro brutto. Gehört er oder sie zur oberen Hälfte der Einkommensverteilung in dieser Lebenssituation, sind es im Mittel immerhin 45.100 Euro, in der unteren Hälfte nur 16.600 Euro.
Szenarien für die Entwicklung des Rentenniveaus und damit der Beitragssätze: Laut dem aktuellen Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung soll das Rentenniveau von 47,5 Prozent im Jahr 2015 bis zum Jahr 2029 auf 44,6 Prozent sinken, der Beitragssatz erhöht sich in dieser Zeit gemäß dem Regierungsszenario auf 21,5 Prozent, wo er – das sei der Einfachheit halber angenommen – auch 2030 noch liegen wird. So weit der Status quo – politisch diskutiert werden derzeit zwei Varianten:
- Das Rentenniveau wird auf 47,5 Prozent eingefroren. Um das zu finanzieren, müsste der Beitragssatz über mehrere Zwischenstufen bis 2030 auf rund 23,5 Prozent steigen.
- Das Rentenniveau wird auf 50 Prozent angehoben. In diesem Fall würde der Beitragssatz um das Jahr 2030 die 25-Prozent-Marke knacken.
Wenn man diese Beitragssätze für die heutigen Einkommen der einzelnen Haushaltstypen simuliert, kommt Folgendes heraus:
Ein durchschnittlich verdienender kinderloser Single muss im Jahr 2030 heruntergebrochen auf sein heutiges Einkommen und nach den Annahmen der Bundesregierung (Beitragssatzanstieg auf 21,5 Prozent, Sicherungsniveau vor Steuern von 44,6 Prozent) mit 387 Euro weniger auskommen. Darüber hinaus droht ein zusätzliches Minus von 484 Euro netto, wenn das Rentenniveau auf 50 Prozent angehoben wird. Zählt er zu den schlechter Verdienenden, liegt die zusätzliche Einbuße bei 300 Euro. Und selbst wenn das Rentenniveau bei 47,5 Prozent konstant gehalten wird, muss der Durchschnitts-Single pro Jahr mit weiteren 277 Euro an Extra-Belastung rechnen.
Die sozialversicherungspflichtige Doppelverdiener-Familie mit zwei Kindern und Durchschnittseinkommen müsste bei einem Rentenniveau von 50 Prozent 2030 in heutigen Maßstäben gemessen 980 Euro opfern, bei einem Rentenniveau von 47,5 Prozent wären es 560 Euro. Nicht vergessen darf man dabei: Diese Familie würde im Jahr 2030 schon nach dem derzeitigen Szenario der Bundesregierung 783 Euro mehr an die Rentenkasse zahlen.
Auch Alleinerziehende mit einem Kind kommen nicht ungeschoren davon. Bei unverändertem Durchschnittsverdienst führt schon der Beitragsanstieg auf 21,5 Prozent im Jahr 2030 zu einem Minus von 331 Euro in Haushaltskasse. Würde das Rentenniveau auf 50 Prozent steigen, statt wie bislang kalkuliert unter die 45-Prozent-Marke zu sinken, hätte das im schlimmeren Fall ein weiteres Minus von 415 Euro zur Folge. Selbst wenn sie (oder er) zur Hälfte der Haushalte mit kleinerem Einkommen zählt, läge die Einbuße unterm Strich noch bei 252 beziehungsweise 144 Euro.
Ob das gerecht gegenüber den aktuellen sowie künftigen Erwerbstätigen ist, das müssen vor allem die Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl 2017 entscheiden.
Ein aus ökonomischer Sicht wichtiger Punkt ist dabei noch gar nicht berücksichtigt: nämlich die paritätische Finanzierung der Rentenbeitragssätze. Denn auch die Arbeitgeber bekommen steigende Sozialbeiträge zu spüren, wenn die Arbeitnehmer nicht auf noch mehr Nettolohn verzichten wollen. Die möglichen Folgen sind hinlänglich bekannt: Können die höheren Arbeitskosten nicht auf die Preise überwälzt werden, was bei Unternehmen im globalen Wettbewerb wahrscheinlich ist, kommt es unter Umständen zu einem Abbau von Arbeitsplätzen. Dadurch gäbe es weniger Beitragszahler, der Rentenversicherung würden Einnahmen wegbrechen und die Beitragssätze müssten womöglich noch stärker erhöht werden, als im obigen Modell kalkuliert. Auch wenn die unterstellten Beitragssätze geschätzt sind, so zeigen unsere Berechnungen doch eher die Untergrenze der möglichen Belastungen für die Erwerbstätigen, zumal die demografischen Herausforderungen nach heutigen Kenntnisstand auch über das Jahr 2030 hinaus zunehmen werden.
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Autor:
R. Fischer und Prof. G. Schnabl Prof. Schnabl ist Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig. Raphael Fischer ist Diplom-Volkswirt und Forschungsassistent am Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig.