Das eigentliche Problem Europas heißt Kinderlosigkeit
Europa – eine Region der Zukunftsangst, der Bindungs- und Verantwortungsscheuen? Zumindest die Statistik gibt eine klare Antwort: Während der Rest der Welt demographisch wächst und jung bleibt, schrumpft und altert die europäische Bevölkerung. Die Kinderlosigkeit – und nicht ökonomische Indikatoren – ist das wirkliche Problem Europas. Denn dahinter steht ein Gemütszustand, den auch eine Vielzahl familienpolitischer Maßnahmen nicht aufhellen konnte.
Durchschnittlich 136 Kinder bringen 100 Frauen in Deutschland heute zur Welt. Das sind gerade noch halb so viele wie in der vorherigen Generation. Neben ökonomischen Faktoren fördern vor allem auch soziale und kulturelle Umstände nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa diese Entwicklung. Mobilität und Flexibilität werden bei immer mehr Berufstätigen vorausgesetzt. In der Folge wächst die Individualisierung. Der Stellenwert langfristiger Bindungen und die Bereitschaft, Verantwortung für Familienangehörige zu übernehmen, sinkt dagegen, das gilt – was oft vergessen wird – für Frauen und Männer gleichermaßen. Kinderlosigkeit ist nicht geschlechtsspezifisch ein Frauen- oder Männer-, sondern ein Elternproblem.
Wie eine neue Studie des Instituts für Bevölkerungsforschung zeigt, können sich viele Männer und Frauen heute keine Elternrolle für sich vorstellen: Gerade einmal 45 Prozent der kinderlosen Deutschen zwischen 18 und 50 Jahren glauben demnach, dass Kinder ihr Leben bereichern und glücklicher machen würden. Die Ungewissheit über die eigene Zukunft spielt bei der zögerlichen Familienplanung eine große Rolle. An vielen Eltern lässt sich zudem beobachten, wie schwer Familie und Beruf zu verbinden sind: Laut der Studie des BiB meinen 88 Prozent der Väter und 78 Prozent der Mütter von Kindern unter 18 Jahren, dass sich beides nicht vereinbaren lässt.
Europa scheint von einer Zukunftsangst beherrscht zu werden, die junge Menschen davor zurückschrecken lässt, Eltern zu werden. Während die Zahl der Geburten in der Europäischen Union auf weniger als 160 pro 100 Frauen gesunken ist, liegt sie in Südostasien bei 176, in Nordamerika bei 206, in Lateinamerika bei 220 und in allen weiteren Weltregionen noch höher.
Nicht der Fachkräftemangel ist bei dieser schrumpfenden Bevölkerung das eigentliche Problem Europas. Durch eine bessere Nutzung vorhandener Potenziale bei Frauen, Älteren und Menschen mit Migrationshintergrund ließe sich dieser auf einfache Weise mindern. Auch nicht die mit der Alterung verbundenen Finanzierungslücken der Rentenkassen, die sich durch eine weitere Anhebung der Lebensarbeitszeit zumindest teilweise auffangen ließe, ist das Kernproblem. Vielmehr kann die Gesellschaft insgesamt ohne Kinder nicht überleben. Kinder bedeuten langfristige Bindung und Verantwortung. Und wenn wir heute schon beobachten, dass die Bereitschaft hierzu stetig abnimmt, bedeutet dieser Trend in seiner Fortsetzung, dass die Gesellschaft sich immer mehr auflösen wird.
Dieser Beitrag ist in einer längeren Fassung ursprünglich auf WELT.de erschienen.
Autor:
Prof. Dr. Thomas Straubhaar früherer Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.