Das deutsche Arbeitsmarktwunder – alles nur statistische Trickserei?
Die offizielle Arbeitslosenstatistik steht, mal wieder, in der Kritik. Was sie wirklich aussagt, was man auf den ersten Blick nicht sieht – und warum der deutsche Arbeitsmarkt heute tatsächlich viel besser da steht als vor den Agenda-Reformen. Ein Überblick
Wer die Agenda 2010 dieser Tage mit dem Hinweis darauf verteidigt, dass Deutschland heute 2,2 Millionen Arbeitslose weniger habe als in 2005 – jenem Jahr, in dem mit dem Hartz-IV-Gesetz eines der Kernelemente der Agenda in Kraft trat –, der erntet oft den Vorwurf: Das ganze Arbeitsmarktwunder sei ja bloß ein Buchungstrick. Bestimmte Gruppen von Arbeitslosen würden heute nicht mehr erfasst, was die Arbeitslosenzahl künstlich herunterspiele.
Was ist an dieser Behauptung dran?
Neu ist die Diskussion über die sogenannte verdeckte Arbeitslosigkeit nicht. Schon der Sachverständigenrat hat früher in seinen Jahresgutachten ausgewiesen, wie viele und welche Menschen neben den registrierten Arbeitslosen ebenfalls keinen Job haben: Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen des Arbeitsamts, Beschäftigte auf subventionierten Arbeitsplätzen und jene, die wegen Arbeitslosigkeit in den vorgezogenen Ruhestand geschickt werden. Es war also auch in den neunziger Jahren schon so, dass die offizielle Arbeitslosenzahl nicht die ganze Wahrheit sagte, sondern nur einen Teil der Unterbeschäftigung abbildete.
Die Arbeitsagentur behält also im Blick, wie viele reguläre Arbeitsplätze insgesamt fehlen. Zuletzt sah es so aus:
- 2,69 Millionen Menschen waren im Jahr 2016 durchschnittlich arbeitslos gemeldet, sind nicht mit einer Maßnahme versorgt und stehen jederzeit für ein Jobangebot zur Verfügung.
- 3,06 Millionen Menschen waren tatsächlich arbeitslos – inklusive der Teilnehmer an Aktivierungs- und Eingliederungsmaßnahmen sowie der über 58-jährigen Arbeitslosengeld-II Empfänger, die schon länger als ein Jahr lang Arbeit suchen.
- 3,55 Millionen Menschen in Deutschland waren im engeren Sinne unterbeschäftigt. Mit eingerechnet sind hier all jene, die geförderte Weiterbildungen absolvieren oder staatlich bezuschusste Jobs innehaben und einen regulären Arbeitsplatz deswegen nicht sofort annehmen könnten.
- 3,58 Millionen Bundesbürger gelten als unterbeschäftigt im weiteren Sinn, wenn man die geförderten Gründungen mitzählt, also Menschen, die Gründungszuschüsse in Anspruch nehmen und sich selbstständig machen, weil sie keine sozialversicherungspflichtige Stelle finden.
Dass mehr Menschen eine reguläre Arbeit brauchen als die Monat für Monat verkündeten gemeldeten Arbeitslosen, ist also klar. Aber ist deswegen auch die positive Arbeitsmarktentwicklung lediglich das Ergebnis statistischer Trickserei? Nachvollziehen lässt sich das anhand mehrerer Methodenberichte, in denen die Bundesagentur für Arbeit eingehend darlegt, was genau sie an der Zählung der Arbeitslosen geändert hat. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit gravierende Verschiebungen in der Statistik. Dies hat mehrere Gründe. Zu unterscheiden ist zwischen gesetzlichen Änderungen an der Definition von Arbeitslosigkeit und einer umgestellten Erfassung der Arbeitslosen. Beides hängt unmittelbar mit den Arbeitsmarktreformen im Rahmen der Agenda 2010 zusammen. Wer statistisch gesehen als arbeitslos zählt, legt Paragraph 16 im dritten Sozialgesetzbuch fest. Es gelten die gleichen Kriterien wie für den Bezug von Arbeitslosengeld:
„Arbeitslose stehen vorübergehend in keinem Beschäftigungsverhältnis oder arbeiten weniger als 15 Stunden pro Woche, suchen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, haben sich bei der Arbeitsagentur arbeitslos gemeldet und lassen sich von dieser vermitteln.“
Anfang 2004 erhielt die Definition noch einen Zusatz: „An Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik Teilnehmende gelten nicht als arbeitslos.“ Bei bestimmten Qualifizierungsmaßnahmen hatte man dies auch vorher schon so gehandhabt. Von 2004 an wurden allerdings auch Teilnehmer an – wie es damals hieß – „Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen“ (heute: „Aktivierung und berufliche Eingliederung“), die zum Teil in Betrieben stattfinden und längstens zwölf Wochen dauern dürfen, nicht mehr als arbeitslos gewertet, sondern der erweiterten Arbeitslosigkeit zugeschlagen. Im Jahr der Umstellung, also 2004, traf dies auf rund 97.000 Menschen zu.
Die Umstellung der Arbeitslosenstatistik nach Hartz IV war eine Herkulesaufgabe
Das Splitten in gemeldete und erweiterte Arbeitslose war nicht die einzige Änderung, die die Hartz-Reformen mit sich gebracht haben: Einschneidender wirkte sich die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II aus. Sie führte zunächst dazu, dass arbeitsfähige, bisher von den Kommunen betreute Sozialhilfeempfänger von heute auf morgen als arbeitslos registriert wurden. Um weiterhin ihre Grundsicherungsleistungen beziehen zu können, mussten sie sich mit Unterstützung eines Jobcenters nachweislich um Arbeit bemühen. Auch das trug – neben den üblichen saisonbedingten Einflüssen – dazu bei, dass die Zahl der Arbeitslosen von knapp 4,5 Millionen im Dezember 2004 auf über fünf Millionen im Januar 2005 hochschnellte.
Alle Arbeitslosen, gleich von welchem Träger betreut, vergleichbar zu erfassen und in eine gemeinsame Statistik einzuspeisen, das gelang jedoch erst nach und nach:
Seit Oktober 2010 existiert eine „Statistik der gemeldeten erwerbsfähigen Personen“, die zwischen arbeitslosen Arbeitsuchenden, nichtarbeitslosen Arbeitsuchenden und Nichtarbeitssuchenden unterscheidet. So kann beispielsweise auseinanderklamüsert werden, wie viele Arbeitslosengeld-Empfänger vorruhestandsähnliche Regelungen in Anspruch nehmen, wie viele als kurzfristig arbeitsunfähig ausfallen und wie viele in externen Maßnahmen stecken, zum Beispiel in Integrationskursen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. All diese Menschen fallen nicht in die Kategorie gemeldete Arbeitslose, sondern unter Arbeitslose im weiteren Sinn oder Unterbeschäftigte.
2013 wurden schließlich auch die Daten jener Jobcenter in die Arbeitslosenstatistik integriert, die sich ausschließlich in kommunaler Trägerschaft befinden und nicht in Arbeitsgemeinschaft mit den Arbeitsagenturen betrieben werden.
Um eine vollständige Aussage über Entwicklung und Lage des deutschen Arbeitsmarkts treffen zu können, sollte man also die gesamte Unterbeschäftigung betrachten. Ein Vergleich mit der Zeit vor den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 ist wegen der Revision der Statistik jedoch nur eingeschränkt möglich beziehungsweise sinnvoll. Mehr oder weniger konsistent zurückgerechnet wurden Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung nur bis 2008 – was leider auch bedeutet, dass die positive Entwicklung des Arbeitsmarkts in den Anfangsjahren der Agenda 2010 separat betrachtet werden muss.
Und wie hat sich die Unterbeschäftigung nun entwickelt?
Von 2005 bis 2007 hat sich sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Unterbeschäftigung um gut eine Million verringert – das war ein Rückgang um jeweils rund ein Fünftel. In den folgenden Jahren gab es jedoch durchaus Unterschiede zwischen den Kategorien:
Die Zahl der Unterbeschäftigten ist von 2008 bis heute um knapp 1,3 Millionen und damit um gut 26 Prozent zurückgegangen.
Sie hat sich also noch wesentlich stärker verringert als die Zahl der registrierten Arbeitslosen, die um 570.000 beziehungsweise gut 17 Prozent schrumpfte. Auch der Abbau der Unterbeschäftigten im engeren Sinn kann sich mit einem Minus von einer Million (-22 Prozent) sehen lassen. Aus der Reihe tanzt dagegen die erweiterte Arbeitslosigkeit: Diese hat sich in den vergangenen acht Jahren nur noch um 280.000 Menschen verringert, was einem Rückgang um acht Prozent entsprach. Das bedeutet zugleich: Heute stecken mehr Menschen als 2008 in Qualifizierungsmaßnahmen und sind aus Altersgründen nicht mehr als arbeitslos registriert.
Zu erklären ist dies zum einen mit einer genaueren Erfassung der Schulungen, die von Dritten durchgeführt werden – was dazu führt, dass die extern Betreuten wie alle von der Bundesagentur selbst Qualifizierten nicht mehr zur registrierten Arbeitslosigkeit zählen.
Einen noch größeren Effekt hatten zum Anderen aber Gesetzesänderungen, die zu Verschiebungen zwischen den erweiterten Arbeitslosen und den Unterbeschäftigten im engeren Sinn geführt haben. Dies betrifft vor allem die über 58-Jährigen. Bis Ende 2007 durften sich arbeitslose 59-Jährige und Ältere aus der Arbeitsvermittlung abmelden, erhielten aber trotzdem Arbeitslosengeld I oder II und wurden als unterbeschäftigt verbucht. Von 2008 an durfte dieses vorruhestandsähnliche Verfahren, auch bekannt als „58er-Regelung“, nur noch angewendet werden, wenn der Anspruch darauf vor 2008 entstanden war.
Dafür trat Anfang 2008 ein anderes Gesetz in Kraft, das einen ähnlichen Personenkreis betrifft: Nun wertet die Bundesagentur für Arbeit alle über 58-jährigen Hartz-IV-Empfänger, die seit mehr als einem Jahr kein Arbeitsangebot hatten, nicht mehr als offiziell arbeitslos, sie gelten aber trotzdem noch als verfügbar für den Arbeitsmarkt und fallen deshalb unter „arbeitslos im weiteren Sinn.“
Die einzige Gruppe von Erwerbslosen, zu denen die Bundesagentur für Arbeit nichts sagen kann, ist die sogenannte stille Reserve. Das sind zum einen jene Menschen, die zwar nach Arbeit suchen, dies aber auf eigene Faust tun und sich dazu nicht bei der Arbeitsagentur gemeldet haben, zum Beispiel weil sie keine Unterstützungsleistung brauchen oder keinen Anspruch haben. Andere haben die Jobsuche zumindest vorübergehend aufgegeben oder sind altersbedingt vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, weil sie auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen für sich gesehen haben. Und manch einer würde zwar gerne arbeiten, findet aber momentan keine Stelle und hängt deshalb noch eine Ausbildung oder ein Studium dran. Je knapper das Erwerbspersonenpotenzial und je besser die Konjunktur, desto wahrscheinlicher drängen Menschen aus der stillen Reserve auf den Arbeitsmarkt. Dass das in den vergangenen Jahren der Fall gewesen sein dürfte, belegen die Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die stille Reserve weiter zu aktivieren, sollte im Zeichen des demografischen Wandels durchaus ein Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein.
Fazit: Eine einfache Wahrheit zum Thema Arbeitslosenstatistik gibt es nicht. Davon, dass die Entwicklung der Arbeitslosigkeit beschönigt wird, indem Arbeitslose in Maßnahmen versteckt werden, kann nicht die Rede sein: Die Maßnahmen wurden sogar stärker zurückgefahren, als die Zahl der registrierten Arbeitslosen gesunken ist. Schönfärberische Kosmetik an eben dieser Zahl kann man dem Gesetzgeber aber durchaus vorwerfen – insbesondere das Herausrechnen der über 58-Jährigen erscheint wenig plausibel. Gerade in der Medienberichterstattung wäre es daher sinnvoll, nicht nur auf die gemeldeten Arbeitslosen zu fokussieren, sondern den monatlichen Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit vollständig wiederzugeben.
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Autor:
INSM Redaktion Hier schreibt die Redaktion der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.