Chancengerechtigkeit durch Aufstiegsmobilität

In Deutschland liegt der Anteil der Personen, die als armutsgefährdet gelten, seit 2005 konstant bei 14 Prozent. Aber  was heißt das eigentlich? Heißt das, dass es eine bestimmte, immer gleich bleibende Gruppe Menschen gibt, die dauerhaft vom Wohlstand ausgeschlossen bleibt?

Keineswegs: Die gängige Analyse der Armutsgefährdung in Deutschland untersucht und vergleicht lediglich, wie viele Personen im Jahresdurchschnitt per Definition als armutsgefährdet gelten, nicht aber wer die Personen sind. Der sogenannte Querschnittsvergleich unterschlägt, dass – auch wenn die Armutsquote jahrelang unverändert hoch blieb – es nicht zwingend immer dieselben Personen sind, die arm waren.

Entscheidend ist die Entwicklung der sozialen Lage auf individueller Ebene. Eine dynamische Betrachtungsweise ist für die empfundene soziale Gerechtigkeit von größter Bedeutung. Soziale Unterschiede sind eher hinnehmbar, wenn jeder die Chance hat, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen. Als ungerecht wird vor allem die Gesellschaft empfunden, in der verfestigte soziale Unterschiede existieren, weil es keine Mobilität zwischen den Schichten gibt.

Wie ist es nun um die soziale Mobilität in Deutschland bestellt? Um diese Frage zu beantworten, hat das Institut der deutschen Wirtschaft Köln im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) für den Zeitraum 2005 bis 2011 ausgewertet. Das SOEP ist eine jährlich durchgeführte Befragung von ca. 20.000 Personen. Das Besondere daran ist, dass nach Möglichkeit immer dieselben Personen befragt werden. Somit wird es möglich, die Entwicklung sozialer Indikatoren für einzelne Personen im Längsschnitt zu betrachten. Zwei Indikatoren standen dabei im Fokus: Die Beteiligung am Erwerbsleben und die relative Einkommensposition. Die Auswertung ergibt folgende Kernergebnisse:

  • Jahrelange, dauerhafte Arbeitslosigkeit ist ein existierendes Phänomen, betrifft aber relativ wenige Personen. Nur 5 Prozent der Arbeitslosen waren über alle Befragungszeitpunkte in den untersuchten 6 Jahren hinweg als arbeitslos gemeldet.
  • Wer eine Beschäftigung neu aufnimmt, behält sie größtenteils auch. Es trifft nicht zu, dass ein großer Teil der neu eingegangenen Beschäftigungsverhältnisse lediglich vorübergehender Natur ist. Drei Viertel der Personen, die aus Inaktivität heraus eine Vollzeitbeschäftigung fanden, übten eine solche auch noch im Folgejahr aus. Diejenigen, die nach dem ersten Jahr eine Arbeit fanden, waren auch nach zwei Jahren weit häufiger erwerbstätig als diejenigen, die nach dem ersten Jahr beschäftigungslos blieben.
  • Durchschnittlich einem Viertel aller Personen aus der untersten von 5 gleich großen Einkommensschichten gelang binnen eines Jahres der Aufstieg in höhere Einkommensschichten.
  • Entscheidend für den Aufstieg war vor allem die Aufnahme einer Beschäftigung. Von den Personen, die eine Arbeit aufnahmen, konnten 43 Prozent gleichzeitig in der Einkommenshierarchie aufsteigen. Von denen, die arbeitslos oder nichterwerbstätig blieben, waren es nur 15 Prozent.
  • Nur wenige Personen verharrten dauerhaft in der untersten Einkommensschicht. Lediglich 17 Prozent waren über alle Beobachtungszeitpunkte in 6 Jahren hinweg in der untersten Schicht, bei den armutsgefährdeten waren es sogar nur 12 Prozent.
  • Der soziale Aufstieg war für die meisten keine vorübergehende Angelegenheit, sondern wirkt langfristig. Über einen Zeitraum von 6 Jahren gelang einem Fünftel der Aufsteiger sogar der Sprung in die beiden höchsten Einkommensschichten.

Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung gibt es in Deutschland durchaus ein nennenswertes Ausmaß an sozialer Mobilität – sowohl hinsichtlich der Beteiligung am Erwerbsleben als auch hinsichtlich des Einkommens. Es gibt allerdings einen – wenn auch kleinen – Anteil von Personen, der über lange Zeiträume vom Erwerbsleben ausgeschlossen bleibt und/oder über lange Zeiträume am unteren Ende der sozialen Skala steht. Die Differenzierung der Mobilitätsprozesse nach persönlichen Merkmalen zeigt, dass ein Aufbrechen solcher Segmente vor allem eine Frage der Erwerbstätigkeit ist. Eine wirtschaftspolitische Schlussfolgerung der Analyse lautet daher, dass Maßnahmen, die zu einer verbesserten Arbeitsmarktintegration beitragen, prioritär umgesetzt werden sollten – insbesondere wenn sie im Zielkonflikt mit Maßnahmen stehen, die eine stärkere Einkommensumverteilung anstreben.

Autor:

Holger Schäfer ist Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim Institut der deutschen Wirtschaft.

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