An ever closer union? Weichenstellung im Jahr 2019

Das Jahr 2019 stellt für die Europäische Union einen Neuanfang dar – so viel steht fest. In einem Rutsch werden die Präsidenten der Kommission, des Rates, des Parlaments und der Europäischen Zentralbank ausgetauscht. Als erste richtungsweisende Weichenstellung steht in diesem Kontext die Wahl zum Europäischen Parlament an. Gelingt es den Nationalisten und Brexit-Hasardeuren, jeden Reformeifer zu bremsen, oder wird der europafreundliche französische Präsident zum Königsmacher und schafft es, seine bislang reichlich inkohärenten Visionen auf konkrete Projekte herunterzubrechen? (Hier alle Beiträge unserer “Europa macht stark”-Serie lesen.)

Wie so häufig in der europäischen Geschichte sind unterschiedliche Pfade möglich, auf die sich die Nationalstaaten miteinander oder gegeneinander begeben. Eine realistische Zukunftsvision stellt dabei die eingeübte Kooperation über den Rhein dar: Mit dem deutsch-französischen Aachener Vertrag wurde zumindest der Versuch unternommen, die generelle Anschlussfähigkeit der so couragiert vorgetragenen Ideen aus Frankreich an die altbewährte Achse zu untermauern. Der Erfolg der Bestrebungen wird sich letztlich daran messen lassen, inwiefern es gelingt, das nach Einführung des Binnenmarktes, nach Süd- und Osterweiterung und nach Schaffung der Währungsunion abgenutzte Mantra „towards an ever closer union“ – aus dem Jahr 1983 – zu hinterfragen.

Nachdem sich die Umwelt- und Rahmenbedingungen gewandelt haben (Fall der Mauer, Aufstieg Chinas, Zerfall des transatlantischen Westens) und die Zusammensetzung der Mitgliedstaaten einigen Änderungen unterzogen wurde (inklusive Ausstiegsbestrebungen), muss nun Zeit sein für grundsätzliche Fragen der Integrationsbestrebungen – mit mittelfristigem Mehrwert.

Bemerkenswert sind die fundamentalen Unterschiede in der Erwartungshaltung zwischen den Mitgliedstaaten (Südeuropa, Visegrad-Staaten, Nordeuropa), die das Verständnis von Europa als gemeinsamem Gestaltungsspielraum erschweren. Dabei ist die jeweilige Interpretation der „europäischen Idee“ durchaus aus einem nationalen historischen Verständnis heraus zu verstehen und zu respektieren: So ist für die Bürger der EU-Gründungsländer die europäische Friedensgeschichte prägend, während in den ehemaligen Ostblockländern oder im Vereinigten Königreich eher aus wirtschaftlicher Perspektive nach Brüssel geschaut wird. Die unterschiedliche Krisenerfahrung der vergangenen Jahre gibt den Südeuropäern wiederum einen eigenen Blickwinkel, der seine gesamteuropäische Bedeutung durch die seit nun zehn Jahren zum Erliegen gekommene Konvergenz untermauert.

Die historische Erfahrung der Nationalstaaten zeigt: Es kann nicht das Ziel sein, die EU zu einem homogenen Verbund seiner Mitglieder zu machen. Vielmehr müssen unter Anerkennung der begründbaren Unterschiede gemeinsame Handlungsbereiche abgesteckt werden. Verschiedene realistisch umsetzbare Integrationsterrains lassen sich zweifelsohne identifizieren:

  • Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist ökonomisch sinnvoll und politisch unabdingbar. Zudem erfährt eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik unter den EU-Bürgern eine breite Zustimmung.
  • Eine Strategie für den Binnenmarkt 2.0 kann europaweite externe Effekte aktivieren und den Bürgern so in Mobilität, Energie, Digitalwirtschaft, Forschung und Bildung spürbare Mehrwerte bieten.
  • Multilaterale Regelwerke wie etwa innerhalb der WTO sind zu reformieren und an die Globalisierungsrealität anzupassen, sodass betroffene Bürger den Auswirkungen von wirtschaftlichen Schocks nicht unmittelbar ausgesetzt werden („l’Europe qui protège“).
  • Europäische Debatten müssen endlich in einem europäischen Diskursraum geführt werden, der letztlich identitätsprägend wirkt. Verständnis für die Befindlichkeiten der anderen ist nur dann zu erwarten, wenn man regelmäßig mit den entsprechenden Meinungen und Weltbildern konfrontiert wird.
  • Ein stärkerer Fokus sollte auf die Bildung handlungsfähiger Institutionen auf lokaler und regionaler Ebene sowie die Ausbildung einheitlicher und kohärenter Regeln der Migrationspolitik gerichtet werden. Gerade in der Migrationspolitik muss der Drahtseilakt gelingen, unter Berücksichtigung der regionalen Strukturen und Identitäten alle Staaten in die Verantwortung zu nehmen, ohne diese zu überfordern.

In jedem Falle sollte vermieden werden, die EU in Richtung einer Sozialutopie zu entwickeln. Beispielsweise gibt es weder Ratio noch Zustimmung für ein europaweites bedingungsloses Grundeinkommen, eine europäische Arbeitslosenversicherung oder gar ein neu konstituiertes Eurozonenbudget. Es ist auch nicht die Aufgabe der Europäischen Union, konsumtive nationalstaatliche Aufgaben bereitzustellen. Vielmehr braucht es eine klare Verantwortungszuweisung auf die unterschiedlichen Ebenen sowie ein Bekenntnis zur institutionellen Differenzierung der Sozialsysteme. Die EU darf nicht als Konkurrenz zu den nationalstaatlichen Systemen aufgebaut werden, sondern muss sich um die großen Themen mit europäischem Mehrwert kümmern.

Eine Mittelumschichtung liegt dabei besonders auf der Hand: Auch in der kommenden Haushaltsperiode soll noch immer rund ein Drittel der EU-Mittel in Agrarsubventionen fließen. Diese Gelder ließen sich hervorragend für grenzüberschreitende Investitionen verwenden, aber auch für infrastrukturelle Anbindung der südeuropäischen Länder an die west- und nordeuropäischen Wertschöpfungsketten nutzen. Schafft es die EU, im Jahr des Neuanfangs an konkreten Stellschrauben zu drehen, kann sie in den kommenden Jahrzehnten verstärkt den supranationalen Rahmen für die globale Positionierung im Konzert der G3 liefern. Dafür lohnt es sich zu streiten.

Und die Chancen stehen gar nicht so schlecht: Denn bei allen Differenzen ist die grundsätzliche Stimmung bezüglich der Staatengemeinschaft besser als vielerorts vermutet. Nach Eurobarometer-Umfrage befindet sich die Zustimmung zur EU im Zeitraum nach Ausbruch der Eurokrise heute auf einem Höchststand. In Deutschland herrscht in der Folge des Brexit-Referendums sogar eine Rekordstimmung: Mehr als die Hälfte der Deutschen sehen in der EU-Mitgliedschaft Vorteile, nur 12 Prozent Nachteile.

Hier alle Beiträge unserer “Europa macht stark”-Serie lesen.

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Autor:

Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft.

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