Abbau der kalten Progression: Deutschland hinkt international hinterher

Wie begegnen andere Länder der kalten Progression?Auch nach Monaten der Diskussion bleibt es zunächst bei Versprechungen und Absichtsbekundungen. Zwar besteht über Parteigrenzen hinweg Konsens, dass die kalte Progression nicht mit einer gerechten Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit vereinbar ist. Weniger Einigkeit gibt es jedoch hinsichtlich der politischen Umsetzung. Während die Politik in Deutschland noch zögert, ist der Abbau der kalten Progression in vielen anderen Staaten bereits Realität. Es lohnt sich daher, einen Blick ins Ausland zu werfen.

Die einkommensteuerlichen Vorschriften zur Inflationsbereinigung sind zuletzt Anfang der 1980er Jahre vergleichend untersucht worden. Ein aktueller Überblick über die internationale Situation fehlt somit. Das Steuerzahlerinstitut hat deshalb die derzeitigen Regelungen zum Abbau der kalten Progression in ausgewählten OECD-Staaten analysiert und bewertet. Folgende Ergebnisse erscheinen für die Diskussion in Deutschland besonders aufschlussreich (siehe Tabelle):

  • 13 von 14 untersuchten Staaten indexieren jedes Jahr den Einkommensteuertarif und wichtige Abzugsbeträge. Nur Mexiko weicht davon ab. Dort erfolgt eine Tarifkorrektur erst, wenn eine Inflation von 10 Prozent aufgelaufen ist.
  • In 11 von 14 Staaten richtet sich die Anpassung nach der allgemeinen Preisentwicklung. In Schweden, Dänemark und Norwegen ist dagegen die durchschnittliche Lohnentwicklung maßgeblich.
  • Der Grad der Regelbindung ist unterschiedlich hoch. Eine gesetzliche Indexierung, die gewissermaßen automatisch stattfindet, existiert in acht Staaten (Schweiz, USA, Kanada, Schweden, Großbritannien, Belgien, Niederlande, Dänemark). In der Schweiz hat der Abbau der kalten Progression sogar Verfassungsrang.
  • Eine hohe Regelbindung sorgt dafür, dass die Tarifanpassungen relativ kontinuierlich erfolgen. Staaten ohne gesetzliche Indexierung setzen den Abbau der kalten Progression dagegen häufiger aus.

Der empirische Befund zeigt, dass die regelmäßige Anpassung des Einkommensteuertarifs („Tarif auf Rädern“) international weit verbreitet ist. Um einen dauerhaften Abbau der kalten Progression sicherzustellen, ist eine gesetzliche Regelung besonders geeignet. Zum einen müssten dann bei der Steuerschätzung (die vom geltenden Steuerrecht ausgeht) die fiskalischen Auswirkungen der Inflationsbereinigung berücksichtigt werden. Damit wäre die Voraussetzung geschaffen, dass Bund und Länder die ungerechtfertigten Einnahmen durch die kalte Progression nicht mehr für Mehrausgaben verplanen. Zum anderen müsste die parlamentarischen Mehrheiten nicht mehr für jede Tarifkorrektur aufs Neue beschafft werden. Zugleich wären die parlamentarischen Hürden und die politischen Kosten für eine Aussetzung der Tarifanpassung höher, weil die kalte Progression nur noch auftreten würde, wenn Bundestag und Bundesrat dies offen beschließen. Die Zeit „heimlicher Steuererhöhungen“ wäre damit vorbei.

Der internationale Vergleich verdeutlicht den politischen Handlungsbedarf in Deutschland. Anders als im Ausland existieren derzeit keine verbindlichen Regelungen zur Vermeidung von inflationsbedingten Steuererhöhungen. Weil unregelmäßige Tarifkorrekturen nur temporär Abhilfe schaffen, sollte im Einkommensteuergesetz ein „Tarif auf Rädern“ verankert werden. Dadurch könnten ungerechte Mehrbelastungen durch die kalte Progression ein für alle Mal unterbunden werden.

Der Artikel basiert auf einer Studie des Steuerzahlerinstituts. Zum Thema hat der Verfasser auch zuletzt einen Artikel im Wirtschaftsdienst veröffentlicht.

Autor:

Jens Lemmer ist Referent für Steuerpolitik und Steuerrecht am Deutschen Steuerzahlerinstitut des Bundes der Steuerzahler.

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