Zeitenwende wird Globalisierung verändern
Die Zukunft der Globalisierung wird nach der russischen Invasion der Ukraine eine andere werden. Nicht nur gegenüber Russland wird sich vieles ändern, auch gegenüber China ist eine Neudefinition des Verhältnisses und der Handelsbeziehungen nötig, um übermäßige Abhängigkeiten zu reduzieren. Der G7-Gipfel kann eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Neuorientierung in der Zeitenwende sein. Doch wenn die deutsche und die internationale Politik diese Herausforderung nicht richtig anpacken, kann damit eine Gefährdung des deutschen industriellen Geschäfts- und Exportmodells verbunden sein.
Die Globalisierung hat schon im letzten Jahrzehnt stark an Schwung verloren. Die Handelsintensität der Weltwirtschaft stagnierte weitgehend, weil der Warenhandel nicht mehr schneller als die weltweite Wirtschaftsleistung wuchs. Auch die globalen Wertschöpfungsketten wurden seit der globalen Finanzmarktkrise in der Gesamtschau nicht mehr weiter ausgebaut, in Teilbereichen gab es sogar Rückschritte.
Dahinter stehen verschiedene Ursachen, auch Protektionismus und Globalisierungsskepsis haben dazu beigetragen. Dabei hat die Nutzung der internationalen Arbeitsteilung und globaler Absatzmärkte weltweit und auch in Deutschland neuen Wohlstand entstehen lassen. Vor allem in den USA ist es aber nicht ausreichend gelungen, Globalisierungsverlierer ausreichend aufzufangen. Das hat dem Protektionismus unter Donald Trump starken Vorschub gegeben und trägt dazu bei, dass auch die Biden-Administration neuen Handelsabkommen kritisch gegenübersteht.
„Vor dem Hintergrund der Zeitenwende wird sich eine neue Form der Globalisierung herausbilden.“
Seit der Corona-Krise kommt noch die Erfahrung hinzu, dass Lieferketten, die auf Kosten- und Zeiteffizienz getrimmt sind, sehr anfällig sein können. Zudem ist es erstaunlich, dass die weltweite Logistik nach größeren Schocks erhebliche Probleme hat, den richtigen Takt wiederzufinden. Starke Preisanstiege und teils auch Produktionsstilllegungen waren die Folge. Der Russland-Ukraine-Krieg und auch die Lockdowns und Hafenstaus in China verschärfen die Lieferketten-Verspannungen wieder, die gerade erst dabei waren, sich langsam zu erholen.
Neue Form der Globalisierung
Vor dem Hintergrund der Zeitenwende wird sich eine neue Form der Globalisierung herausbilden. Einige absehbare Veränderungen bedeuten nicht notwendigerweise weniger Globalisierung, sondern implizieren eine andere Struktur der Handelsverflechtungen.
- Denn viele Unternehmen werden ihre Zulieferstrukturen über mehr Länder und Regionen stärker diversifizieren. Das bedeutet eher mehr als weniger Handel.
- Die Abkoppelung auf der Energie- und Rohstoffseite von Russland wird ein weiteres Charakteristikum sein, verbunden mit einer Reorientierung der russischen Energie- und Handelsströme von Europa nach Asien. Russland hat sich bereits seit den Sanktionen infolge der Krim-Annexion im Handel wesentlich stärker China zugewandt (Beer, 2022 Chinesisch-russische Partnerschaft – Institut der deutschen Wirtschaft (IW) (iwkoeln.de)).
- Als weitere neue Problemlage der Zeitenwende kommt hinzu, dass sich China klar an die Seite Russlands gestellt hat und immer offener mit einer Invasion Taiwans droht. Das bringt die große Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft und teils auch der EU von China auf der Export- und Importseite in den Fokus. Deutschland ist handelsseitig sehr viel abhängiger von China als umgekehrt, während die EU ähnlich abhängig ist wie umgekehrt China von der EU (Matthes, 2022 Gegenseitige Abhängigkeit im Handel zwischen China, der EU und Deutschland – Institut der deutschen Wirtschaft (IW) (iwkoeln.de)). Zudem sinkt Chinas Abhängigkeit, während unsere deutsche und europäische immer weiter steigt. Eine Abkoppelung von China ist nicht realistisch und auch ökonomisch nicht zielführend. Aber aus geopolitischen Gründen braucht es starke und konzertierte Anstrengungen von Politik und Unternehmen, um die einseitige Abhängigkeit von China abzubauen. Das geht vor allem durch mehr Diversifizierung auf andere Liefer- und Exportländer. Zudem braucht es im Rahmen der G7 eine Abstimmung über die gemeinsame Strategie gegenüber China in der Handelspolitik.
Doch gibt es auch Tendenzen, die die interregionale Handelsintegration eher verringern werden. Um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, braucht es verlässliche Handelspartner. Die Rede ist von Near-Shoring oder auch Re-Shoring, wobei Produktion ins eigene Land zurückgeholt wird. Vorleistungsnetzwerke dürften sich folglich stärker regional konzentrieren. Auch eine Fokussierung auf Länder des Westens ist im Zuge eines Friend-Shoring absehbar. Auch hier sind die G7 eine wichtige Kooperationsplattform.
Konflikte bilden neue Blöcke
Im Extremfall ist bei einer Zuspitzung geopolitischer Konflikte auch eine Blockbildung nicht mehr ausgeschlossen zwischen Russland, China und anderen Autokratien auf der einen Seite und den westlichen demokratischen Marktwirtschaften, die sich um die G7 gruppieren, auf der anderen Seite. Viele Schwellenländer wie Indien und die ASEAN-Staaten hätten vermutlich große Schwierigkeiten, sich in dieser neuen Welt zu positionieren, weil sie leicht in die Mühle der großen Blöcke geraten könnten.
Das handelsoffene deutsche industrielle Geschäfts- und Exportmodell basiert auf offenen Märkten, die von politischen Interventionen weitgehend unbeeinflusst bleiben. Die Hoffnung, dass dies nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf Dauer so bleiben würde, hat sich mit der Zeitenwende als bittere Illusion erwiesen. Besonders würde die deutsche Wirtschaft unter einer Welt der sich feindlich gegenüberstehenden Blöcke besonders leiden, weil sowohl lukrative Exportmärkte als auch günstige Importlieferanten wegbrechen würden.
Wertschöpfungskette ist anfällig
Die deutsche Wirtschaft ist ohnehin schon gebeutelt durch die zahlreichen Krisen der vergangenen eineinhalb Dekaden. Von den globalen Lieferengpässen ist sie deutlich stärker betroffen als zum Beispiel die französische, die weniger industriebasiert ist. Zudem ist der starke Energiepreisanstieg im Zuge des Russland-Ukraine-Kriegs aktuell eine gravierende Belastung für energieintensive deutsche Branchen wie die Chemie- und Stahlindustrie, die eine wichtige Position am Anfang der Wertschöpfungskette der deutschen Industrie innehaben. Eine Abwanderung dieser Branchen in Länder mit geringeren Energiekosten würde die Statik des deutschen Industriemodells gefährden. Ganz zu schweigen von den Folgen eines Gasembargos, das wohl die Abschaltung vieler stark energieintensiver Industriebetriebe erzwingen würde – mit der Folge kaum kalkulierbarer Produktionsausfälle auf den Folgestufen der Wertschöpfungskette.
In der Zeitenwende hat die deutsche Wirtschaftspolitik daher die wichtige Aufgabe, die Verringerung der Energieabhängigkeit von Russland weiterhin mit Bedacht und Vorsicht zu steuern. Zudem darf sie nicht den zahlreichen Reflexen aus Paris und Brüssel nachgeben, immer stärker industriepolitisch zu agieren, zumal dahinter teils auch protektionistische Motive stecken. Strategische Autonomie darf nicht zum Einfallstor für immer mehr staatliche Interventionen werden. Der Staat hat nur dann eine Berechtigung zum Eingriff, wenn der Markt klar versagt oder geopolitische Zwänge neue Herausforderungen stellen.
Handelsbeziehungen neu ausrichten
Handelspolitisch geht es darum, die Welt weiter für die deutsche Wirtschaft zu öffnen, denn andernfalls wird die auch geostrategisch nötige Diversifizierung der Handelsbeziehung scheitern. In Deutschland gehört CETA endlich ratifiziert. Wenn es mit dem Mercosur nicht gelingt, das ausgehandelte Abkommen mit weiteren Leitplanken ratifizierbar zu machen, wird China sich in Südamerika immer mehr breitmachen. Das Gleiche gilt für den Indopazifik und neben Indien speziell die ASEAN-Staaten wie Indonesien, Malaysia, Thailand und die Philippinen, die durch RCEP jetzt noch enger an China gebunden sind. Die EU muss in dieser Wachstumsregion der Zukunft stärker Fuß fassen. Das ist geostrategisch unabdingbar. Zudem kann eine dringend nötige Verringerung der Abhängigkeit von China ohne diese Staaten nicht gelingen.
Die Verhandlungen der EU über Freihandelsabkommen mit diesen Ländern gehen aber nur extrem langsam voran, stocken seit Jahren oder sind schon länger auf Eis gelegt. Die Attraktivität des EU-Modells und des EU-Binnenmarktes reicht offenbar nicht mehr aus, um diesen größeren und teils eher protektionistisch orientierten asiatischen Staaten mit den Abkommen unsere Vorstellungen von Handel und Werten überzustülpen. In einer Zeit, in der die Gestaltungsmacht und die Soft Power der EU zusehends abnimmt, ist in Brüssel mehr Kompromissfähigkeit gefragt, um hier endlich Abkommen möglich zu machen. Die EU sollte daher ihre Verhandlungsstrategie überdenken und dabei ihre geostrategischen Ziele klar priorisieren. Die Zeitenwende verlangt auch hier eine Neuausrichtung.
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Autor:
Jürgen Matthes ist Senior Economist beim Institut der deutschen Wirtschaft und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den ökonomischen Aspekten der Globalisierung.