Wie die Vielfalt an Herausforderungen bewältigen?
Die Ampelkoalition will sich endlich am Riemen reißen und Deutschlands Probleme anpacken. Endlich! Denn derer gibt es genug. Ein kritischer Blick auf die drängendsten Aufgaben.
In diesem Blogbeitrag soll eine Analyse der wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten vorgenommen werden. Dabei weiß man im Grunde gar nicht, wo man anfangen soll. Zu vieles liegt im Argen, zu lange haben wir geglaubt, alles liefe gut. Selbst dem letzten Vizekanzler unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel wird jetzt klar, dass 16 Jahre Attentismus Probleme aufwerfen.
Das war der Ampelkoalition sicherlich schon vorher klar, so viel muss man fairerweise anerkennen. Aber die inhaltlichen Differenzen gerade zwischen den Grünen und den Freien Demokraten über die Art des Klimaschutzes haben in Verbindung mit der Herausforderung durch die russischen Angriffe auf die Zivilisation dafür gesorgt, dass die Übereinstimmung zuletzt geringer wurde. Das scheint sich jüngst geändert zu haben. Erfreulicherweise hat die Ampelkoalition vor wenigen Wochen ihren seit Langem schwelenden internen Konflikt beigelegt und tatsächlich Schritte in die richtige Richtung unternommen.
So wurde eine Beschleunigung von Verwaltungsprozessen beschlossen, um den benötigten Umbau der Energieversorgung und der Mobilität nicht länger grundlos zu blockieren. Passend dazu hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius die Spitze des Beschaffungsamtes der Bundeswehr ausgetauscht. Denn auch dort bremsten lange Prozeduren bis zuletzt die Wiederherstellung der Verteidigungsbereitschaft.
„Insgesamt herrscht in der gegenwärtigen Regierung immer noch eine streng moralisierende und zu wenig nüchterne Sicht auf die Welt vor.“
Damit ist die erste Aufgabe beschrieben: Die Verwaltung muss modernisiert werden. Das schließt eine stärkere Digitalisierung genauso ein wie die Überprüfung langer Prüf- und Genehmigungsverfahren sowie etlicher Vorschriften auf ihre Sinnhaftigkeit hin. Auch der Datenschutz sollte noch einmal daraufhin überprüft werden, ob die europäischen Vorgaben zielführend umgesetzt werden. Die Aufgabe der Verwaltung soll im Ermöglichen und nicht im Behindern bestehen!
Ebenfalls zu befürworten ist die geplante Neuordnung der Klimapolitik, weg von der Sektorspezifität hin zu mehr Marktwirtschaft und Technologieoffenheit. Die Sektorziele sollen nun in ein allgemeines Reduktionsziel für CO2 überführt werden, und der Emissionshandel soll wohl gestärkt werden. Auch ist die Einlagerung von CO2 nun offiziell vorgesehen.
Leider konnten die Partner die Grünen allerdings nicht von ihren kontraproduktiven Vorstellungen zur sogenannten Wärmewende (mit dem Verbot von Gasheizungen in absehbarer Zeit) abbringen. Insofern ist die Klimapolitik immer noch nicht vollständig rational. Immer noch glauben die Grünen offenbar, es reiche, Ziele auszurufen und Verbote zu installieren, um das Klima zu schützen. Das wirkt gesinnungsethisch und desinteressiert am Klima. Vermutlich wird der Klimaschutz durch derart undurchdachte Politik geschwächt und extreme Kräfte, die immer schon gegen den Klimaschutz waren, werden gestärkt.
Die zweite Aufgabe ist somit eine rationale Klimapolitik. Die Kosten für CO2-Emissionen sollten durch eine im Zeitablauf steigende, bereits heute angekündigte, stetige und spürbare Erhöhung der CO2-Steuer beziehungsweise Reduktion von Emissionszertifikaten gesteigert werden, was quasi automatisch für entsprechende Veränderungen beim Heizen, Fahren oder in der Stromerzeugung sorgen wird. Mit den Einnahmen aus der Steuer oder dem Zertifikatehandel lassen sich die besonders Betroffenen dann kompensieren – möglichst zielgenau nach sozialen Kriterien. Für die anderen Bürger verteuert sich dann die Energie, bis sie eine Alternative gefunden haben. Man kann davon ausgehen, dass ein solches Verfahren fairer und billiger ist; und natürlich ist der Klimaschutz auch effektiver. Hier sollte die Koalition dringend nachbessern.
Die dritte Aufgabe besteht darin, die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes zu erhöhen. Diese Herausforderung umfasst die Beschäftigung (dieses Mal als ein Problem der Überbeschäftigung), die Arbeitskosten, die Regulierungskosten, die Steuerpolitik, die Infrastruktur inklusive Digitalisierung und das Bildungswesen. In allen Feldern steht die Bundesrepublik vermutlich schlechter da, als wir es gedacht haben. Es ist an dieser Stelle nicht zu leisten, die Details der nötigen Reformen auszuloten. Fest steht, dass es einer angebotspolitischen Revolution bedarf, die weit über einige kosmetische Änderungen hinausgeht. Stichworte sind die folgenden:
- ein echtes Einwanderungsgesetz – die ersten Schritte dafür scheint die Regierung beschlossen zu haben;
- eine Bildungsoffensive zur Weiterbildung sowie die höhere Wertschätzung von nicht-akademischen Berufen, die im Rahmen der Pisa- und Bologna-Diskussionen ein wenig gelitten haben;
- eine Flexibilisierung der Alterssicherung, um älteren Menschen die Möglichkeit zu geben, schleichend in den Ruhestand einzutreten, indem sie mit der Zeit immer weniger arbeiten, ohne dabei eine 100-prozentige Grenzbelastung ihrer Rentenzahlungen zu erfahren;
- die Sicherstellung nachhaltiger Rentenzahlungen durch entsprechende langfristig ausgerichtete Reformen des Alterssicherungssystems, was sicherlich nicht ohne Erhöhung der Lebensarbeitszeit für die meisten Berufe möglich ist;
- die Überarbeitung der letzten Gesetze zur Compliance, also des Lieferkettengesetzes (siehe dazu die vierte Aufgabe), des Arbeitszeiterfassungsgesetzes etc. Diese Regelungen sind angesichts des Fachkräftemangels und des sich anbahnenden Systemwettbewerbs nicht mehr zeitgemäß. Außerdem tragen sie nicht dazu bei, Menschen in Entwicklungsländern zu schützen (siehe Aufgabe 5);
- weitere Re-Regulierungen überall dort, wo die Gesetze nicht mehr problemadäquat sind. Hier empfiehlt es sich, mit automatisch auslaufenden Gesetzen (sogenannter Sunset Legislation) zu arbeiten, um regelmäßig zu überprüfen, welche Regeln nicht mehr zeitgemäß sind;
- eine echte Steuerreform, die die Steuerzahler vor allem vom bürokratischen Aufwand entlastet – immer noch leitend ist der Gedanke, die Sätze zu verringern, die Ausnahmen von der Steuerpflicht zu reduzieren und damit die Steuerbemessungsgrundlage zu erweitern;
- Prioritäten der Investitionspolitik: Brauchen wir wirklich einen 800 Millionen Euro (mindestens) teuren Anbau des Kanzleramts? Oder ist das Geld besser in Verkehrs-, Wasserstoff- oder Stromnetze investiert?
Die Regierung sieht sich einer vierten Aufgabe gegenüber, die sie so noch gar nicht wahrgenommen zu haben scheint. Eine exportorientierte Wirtschaft wie die deutsche braucht offene internationale Märkte. Der zunehmende Systemwettbewerb mit Ländern wie China, Indien oder auch den Ländern der arabischen Halbinsel erfordert diplomatisches Geschick, um diese Märkte in Zukunft zu bedienen und – vermutlich noch wichtiger – als Beschaffungsmärkte für die deutsche Industrie aufrechtzuerhalten.
Wenn auch Letzteres in erster Linie eine Aufgabe der Unternehmen ist, so kann die Regierung doch dazu beitragen, indem sie die diplomatischen Beziehungen zu den Ländern, die sich irgendwo zwischen den beiden Polen des Systemwettbewerbs, also der OECD auf der einen Seite und China und Partner auf der anderen Seite, befinden, stärkt. Es ist keine Frage, dass die Verteidigung und Einhaltung der Menschenrechte von überragender Bedeutung ist; es kommt jedoch darauf an, wie man diese Aufgabe interpretiert.
Zurzeit tritt die Bundesregierung eher auf wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. In arroganter Weise werden die Werte des Westens hochgehalten und andere Länder belehrt und dabei gleichzeitig nach Markterfolgen geschielt – wie im vergangenen Winter in Katar zu beobachten. Die Reaktionen aus den Regierungen dieser Länder sind entsprechend verschnupft. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung – im Verbund mit der EU, den USA und anderen OECD-Partnern – die Politik neu kalibriert und von paternalistischen Belehrungen und doppelten Standards Abstand nimmt.
Dies führt zur Entwicklungszusammenarbeit als fünfter Aufgabe. Auch in diesem Feld hat die Bundesregierung sich nur zögerlich mit den neuen Realitäten angefreundet. So wichtig eine feministische Ausrichtung auch sein mag, wichtiger ist es, dass Arbeitsplätze und Einkommen (besonders für Frauen) entstehen. Dazu trägt der deutsche Paternalismus nicht entscheidend bei. Vielmehr bedarf es deutscher Investitionen in vielen Entwicklungsländern, mit denen auch zugleich die Menschenrechtslage direkt und indirekt verbessert werden kann. Es hilft auch dem Klimaschutz und dient den deutschen Interessen – man nennt es neudeutsch eine Win-win-Situation. Durch eine kluge Kombination von Klima-, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik (zum Beispiel im Rahmen des von den G7 grundsätzlich vereinbarten Klimaklubs) kann man sicherlich viele erfolgreiche Kooperationen vereinbaren und damit auch die vierte Aufgabe besser erfüllen.
Insgesamt herrscht in der gegenwärtigen Regierung immer noch eine streng moralisierende und zu wenig nüchterne Sicht auf die Welt vor. Die sechste Aufgabe ist es daher, die Realitäten anzuerkennen; wahrscheinlich ist dies sogar die erste Aufgabe. Das betrifft sowohl das Verhalten ausländischer Akteure als auch die eigenen Möglichkeiten, positiv zur Entwicklung der Welt beizutragen. Hier ist weniger Moralisieren und Borniertheit, dafür aber stärkeres wirtschaftliches und sicherheitspolitisches Engagement die eindeutig überlegene Politik.
All dies ist an dieser Stelle (und anderswo) schon oft angemahnt worden. Auf manchen Feldern hat die Politik tatsächlich die richtigen Schritte unternommen. Dem politischen Ökonomen ist auch klar, dass die politischen Akteure regelmäßig vielen Einflüssen und Restriktionen ausgesetzt sind. Dessen ungeachtet bleibt es die Aufgabe von Wissenschaftlern, die besten Optionen und die Kosten weniger guter Politiken aufzuzeigen. Auch ich werde nicht müde werden, dies weiterhin zu tun.
Dieser Blogpost erschien zuerst als Kolumne in der WirtschaftsWoche „Wie bewältigen wir die Vielfalt an Herausforderungen?“.
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Autor:
Prof. Dr. Andreas Freytag ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist zudem als Honoraprofessor an der Universität Stellenbosch und am Institute for international Trade der Universität Adelaide tätig. Neben den Fragen zur deutschen und europäischen Wirtschaftspolitik interessieren ihn außenwirtschaftliche und entwicklungspolitische Themen.