Weniger ist mehr: Wie sich die Schule ändern muss

Die Schule vermittelt zu viel Wissen. Vor allem zu viel irrelevantes Wissen. Was es braucht: eine Entschlackung der Bildungspläne und die Vermittlung, wie man Lernen lernt. 

Gegenwärtig läuft in Baden-Württemberg die Initiative „G9 – jetzt!“. Diese Initiative strebt die flächendeckende Wiedereinführung einer neun- statt achtjährigen Schuldauer an Gymnasien an. Würde diese Initiative Erfolg haben, würde Baden-Württemberg allen übrigen westdeutschen Flächenländern folgen, die allesamt wieder zum neunjährigen Gymnasium zurückgekehrt sind.

Die Initiative wird damit begründet, dass die Debatte um die Dauer des Bildungsgangs am Gymnasium seit Einführung des achtjährigen Gymnasiums nie abgeklungen sei und sich zentrale Kritikpunkte am G8 bestätigt hätten, unter anderem:

  • Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler aufgrund stark reduzierter Freiräume für außerschulische Aktivitäten wegen hoher Wochenstundenzahl,
  • fehlende Zeit im Unterricht für Übung und Vertiefung der Lerninhalte aufgrund nicht im gleichen Maße reduzierter Bildungspläne.

Als Vater zweier das Gymnasium besuchender Kinder kann ich aus eigener Erfahrung das Zutreffen beider Kritikpunkte bestätigen. Erstens: Die wöchentliche Schulzeit beträgt in der 7. Klasse bei dreimaligem Nachmittagsunterricht 35 Wochenstunden und lässt an den Tagen mit Nachmittagsunterricht wenig Raum für außerschulische Aktivitäten. In der 6. Klasse ist es mit 33 Schulstunden pro Woche wenig anders. Zweitens: Die Bildungspläne sind in der Tat viel zu umfangreich. Sie sollten drastisch gekürzt werden.

Zu viel Unwichtiges

Der Hauptgrund für diese Forderung ist, dass in der Schule jede Menge Überflüssiges vermittelt wird, das die Kinder für die Klassenarbeiten auswendig lernen müssen, wenn sie eine gute Note erzielen möchten, aber getrost am selben Tag wieder vergessen können. Es gibt Myriaden von Beispielen für diese Behauptung, einige wenige sollen zur Illustration genügen.

„Eine zweite Fremdsprache sollte nicht mehr verpflichtend sein, wenn Englisch als erste Fremdsprache gewählt wurde!“

Beispiel Biologie: Die Kinder mussten die Zahnformeln von Hund, Katze und sonstigem Getier auswendig lernen. Keine Sorge: Niemand, der nicht weiß, was eine Zahnformel ist, muss sich auch nur im Mindesten als ungebildet fühlen. Dafür gibt es heutzutage das Internet! Siehe zum Beispiel da: www.fachtierarzt-zahnheilkunde.de. Demnach besagt die Zahnformel für die Katze, dass ein typisches Exemplar dieser Gattung drei Schneidezähne, einen Eckzahn und x Backenzähne in einem Viertel des Gebisses aufweist. Wären derartige Informationen unterhaltsam, würde man sie neudeutsch als „fun facts“ bezeichnen. Viel schlimmer aber: Die Zahnformeln beinhalten kaum Erkenntnisgewinn!

Der aus den Zahnformeln resultierende Erkenntnisgewinn lautet: Gebisse sind typischerweise symmetrisch und es gibt unterschiedliche Typen von Zähnen für verschiedene Zwecke. Derlei Erkenntnisse könnte man aber wohl besser am eigenen menschlichen Gebiss illustrieren. Wozu müssen dann die Gebisse von allen möglichen Tieren auswendig gelernt werden, um postwendend wieder vergessen werden zu können?

Beispiel Geschichte: Immerhin hat das Pauken von Jahreszahlen, wie es zu meiner Schulzeit üblich war, weitgehend aufgehört. („333 bei Issos Keilerei“ ist nicht die einzige Eselsbrücke zu einer Jahreszahl, die sich mir völlig überflüssigerweise fest ins Gehirn eingebrannt hat.) Heutzutage müssen aber noch immer Begriffe gepaukt werden, von denen die Mehrheit der Bevölkerung wohl kaum jemals etwas gehört hat, beispielsweise Hufen oder Salland im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Grundherrschaft. Diese beiden Begriffe gehören im Gegensatz zu Begriffen wie Frondienst, Zehnt oder Hörige sicher nicht zur Allgemeinbildung.

MINT oder zweite Fremdsprache?

Um nicht einen falschen Eindruck zu hinterlassen, weil hier nur Beispiele aus Nebenfächern genannt werden: Auch die Lerninhalte und Stundenumfänge von Hauptfächern wie Deutsch und Mathematik müssen hinterfragt werden, zugunsten des Wochenumfangs der heute unverzichtbaren Sprache Englisch. Andere Sprachen hingegen sind nicht unverzichtbar, beispielsweise Französisch — Spanisch oder Chinesisch wären heute vielleicht wichtiger. Bedauerlicherweise haben die Kinder jedoch meist keine Wahl, welche zweite Fremdsprache sie erlernen müssen.

Darüber hinaus ist die Frage zu stellen, ob überhaupt eine zweite moderne Fremdsprache neben Englisch erlernt werden sollte. Angesichts des chronischen Mangels an Absolventen in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik sollte es die Wahlmöglichkeit zwischen einer zweiten modernen Fremdsprache und einem oder mehreren MINT-Fächern geben. Anders ausgedrückt: Eine zweite Fremdsprache sollte nicht mehr verpflichtend sein, wenn Englisch als erste Fremdsprache gewählt wurde!

Das darf nun aber nicht als Plädoyer für eine Programmier- anstatt einer Fremdsprache missverstanden werden, denn auch Programmiersprachen können an Bedeutung verlieren. Vielmehr geht es um die Möglichkeit der Wahl eines Faches, in dem das Konzept, die Struktur und die Kernelemente von Programmiersprachen unterrichtet werden.

Mehr zu eigenständigem Denken inspirieren

Um zu den obigen Beispielen zurückzukehren: Wesentlich wichtiger als die Verbesserung der Allgemeinbildung wäre die Vermittlung von Zusammenhängen, beispielsweise dass Missernten infolge von schlechtem Wetter im von der Agrarwirtschaft geprägten Mittelalter die Sterblichkeit drastisch erhöhten, weil die Menschen verhungerten. Sowohl Hunger als auch Sterblichkeitsrisiko haben sich seit dem Mittelalter dank des technischen Fortschritts und der damit möglichen Arbeitsteilung und Diversifizierung unserer Wirtschaftsweise dramatisch verringert.

Solche positiven Botschaften gilt es zu verkünden: Trotz aller Umweltprobleme geht es uns heute aufgrund des technologischen Fortschritts um Welten besser als den Menschen im Mittelalter, Kaiser und Könige eingeschlossen! Um dieses Faktum zu betonen, muss nicht zurückgegriffen werden auf das äußerst lesenswerte Buch von Hans Rosling mit dem Titel „Factfulness — Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“. Das Buch zeigt, dass viele Menschen ein völlig verzerrtes, meist allzu düsteres Bild von der Welt haben. Es sollte die Aufgabe, wenn nicht gar die Pflicht der Schule sein, ein möglichst unverzerrtes Bild der Welt zu vermitteln.

Kein verzerrtes Bild der Welt vermitteln

Doch weit gefehlt: Als Eltern gewinnt man eher den Eindruck, dass in der Schule keine Gelegenheit ausgelassen wird, um darzustellen, wie schlecht es um die Welt steht, angefangen von der Umwelt und vor allem dem Klima. Auch die steigende Weltbevölkerung wird oftmals als enorme Bedrohung dargestellt, weil immer mehr Menschen immer mehr Schadstoffe ausstoßen, Emissionen produzieren und Rohstoffe verbrauchen. Irgendwann, so die Befürchtung, könnten auch nicht mehr genügend Nahrungsmittel produziert werden.

Die Geschichte lehrt, dass ein derartiger Pessimismus fehl am Platz ist. Ein historisches Beispiel ist die Prognose des Pfarrers und späteren Professors für politische Ökonomie Thomas Robert Malthus (1798) in seinem Buch „Essay über die Grundlagen der Bevölkerung“: Weil die Weltbevölkerung exponentiell wachsen würde (z. B. 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128), die Nahrungsmittelproduktion seiner Annahme nach jedoch nur linear (z. B. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8), ist früher oder später nicht mehr genügend Nahrung für alle Menschen da. Bekanntermaßen ist Malthus‛ Prognose bis heute nicht eingetroffen, weil er den technologischen Fortschritt unterschätzt hat und die Nahrungsmittelproduktion im Einklang mit der Bevölkerung angewachsen ist, unter anderem wegen der Erfindung des Kunstdüngers durch Justus Liebig.

Aus demselben Grund — der Unterschätzung des technologischen Fortschritts wegen der Nichtberücksichtigung der Kreativität der Menschen — könnte sich Malthus‛ Prognose, dass die Menschheit eines Tages nicht mehr ernährt werden kann, auch in Zukunft nicht erfüllen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass sich düstere Prognosen sehr oft nicht erfüllt haben. Die Fehlprognose des Club of Rome aus den 1970er-Jahren, dass bis zum Jahr 2000 zahlreiche wichtige Rohstoffe, allen voran Rohöl, nicht mehr verfügbar sein würden, ist wohl das prominenteste Beispiel.

Schule muss sich ändern

Wir sollten uns klarmachen, wie wichtig das Thema ist: Es geht um unser aller Zukunft, denn von unseren Kindern hängt es maßgeblich ab, ob wir künftig in Wohlstand und einer intakten Umwelt leben werden. Es ist daher imperativ, dass die Schule sich grundlegend und schnell wandelt.

Sicher: Seit Beginn meiner Schulzeit vor einem halben Jahrhundert hat sich vieles zum Positiven verändert! Es gibt in der Schule beispielsweise keine Prügelstrafe mehr und die Kinder halten schon früh Referate und Vorträge vor der ganzen Klasse. Doch diese Fortschritte sollten verglichen werden mit den fundamentalen Änderungen der Welt seit einem halben Jahrhundert, um das Ausmaß des Änderungsbedarfs unseres Schulwesens richtig ermessen zu können.

Weniger kann mehr sein

Am Anfang aller zwingend nötigen Änderungen könnte eine massive Entschlackung der Bildungspläne stehen, entsprechend der Empfehlung eines der bekanntesten Bildungsforscher Deutschlands, dem OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, besser bekannt als „Mr. Pisa“. Schleicher sagte in einem sehr hörenswerten Podcast des Deutschlandfunks: Kinder sollten „weniger Dinge in größerer Tiefe lernen“. Und dies anwendungsbezogener als bisher, das gelte für Naturwissenschaften ebenso wie für geisteswissenschaftliche Fächer (Andreas Schleicher im Gespräch mit Ute Welty im Deutschlandfunk Kultur vom 22.04.2021). Im Zeitalter des Internets dürfe es weniger um Inhalte gehen. Vielmehr müsse es um das „Lernen lernen“ gehen und um Konzepte, etwa wie eine Sprache aufgebaut ist. Altertümliche Sprachen wie Latein könnten dafür ein Mittel zum Zweck sein. Denselben Zweck erfüllen aber auch moderne Sprachen!

Allerdings ist es kaum vorstellbar, dass eine massive Entschlackung der Bildungspläne ohne äußeren Druck geschieht. Dies ließe sich wohl nur durch eine Vorgabe der Bildungsministerien der Länder zur Kürzung der Stundenzahl von Fächern realisieren. Der Umfang der Nebenfächer könnte, so der Vorschlag eines fachfremden, aber erheblich in Mitleidenschaft gezogenen Vaters, beispielsweise von zwei auf eine Schulstunde pro Woche halbiert werden — in der jetzigen Form der Unterrichtsgestaltung und -inhalte wäre dies in meinen Augen ohne nennenswerte Einbußen möglich. Dies würde meinem Siebtklässler acht Schulstunden und jeglichen Nachmittagsunterricht ersparen.

Wie auch immer man zu diesem Vorschlag steht: Es ist allerhöchste Zeit, dass das heutige Schulsystem fundamentalen Änderungen unterworfen wird! Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich das Schulwesen nicht aus sich heraus erneuern kann. Es bedarf dazu politischer Vorgaben, die unter Einbeziehung exzellenter Bildungsforscher, die es in Deutschland in großer Zahl gibt, erarbeitet werden sollten. Dass Bildungspolitik in unserem föderalistischen Staat Ländersache ist, kann sich hier positiv auswirken, wenn diesbezüglich ein Wettbewerb unter den Bundesländern entfacht wird. Ich hoffe in eigener Sache sehr, dass Baden-Württemberg den Wettbewerb bereits mit dem kommenden Schuljahr eröffnet.

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Autor:

Prof. Dr. Manuel Frondel ist außerplanmäßiger Professor für Energieökonomik und angewandte Ökonometrie an der Ruhr-Universität Bochum und Leiter des Kompetenzbereichs „Umwelt und Ressourcen“ am RWI.

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