Was passiert, wenn eine Zentralbank ihre Unabhängigkeit verliert
Die Türkei ist ein wichtiger Handelspartner für die deutsche Volkswirtschaft. Auch deswegen wird die Politik der türkischen Zentralbank immer wieder heiß debattiert. Denn obwohl ihre Unabhängigkeit durch geltendes Recht garantiert ist, ist es Präsident Recep Tayyip Erdogan, der seit Jahren seinen größer werdenden Einfluss auf die Geldpolitik spielen lässt. Diese zunehmende Abhängigkeit wird für die andauernden Währungs- und Schuldenkrisen in der Türkei verantwortlich gemacht. Nun stehen am 14. Mai die Präsidentschaftswahlen an. Werden die Folgen von Erdogans Geldpolitik die Wahl mitentscheiden?
Die türkische Bevölkerung verfolgt Geldpolitik mit Argusaugen – und das von jung bis alt: Immer wieder gehen Videos von Kindern viral, die sich über die wirtschaftliche Lage und die Geldpolitik der Zentralbank beschweren.
Aber nicht nur Kinder, auch Ökonomen sind sich einig, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank von der Politik ein Grundpfeiler guter Wirtschaftspolitik sein sollte. Regelmäßig zeigen sie, dass Unabhängigkeit vor Inflation und Rezessionen schützt [1].
Zu so einer Rezession, der größten Finanzkrise der türkischen Geschichte, kam es 2001, kurz vor dem Aufstieg Erdogans. Innerhalb kürzester Zeit stürzte sie Hunderttausende Menschen in die Arbeitslosigkeit und Tausende von Unternehmen in die Insolvenz [2].
Auf die Krise reagierte die Regierung mit Reformen: Eigenständigkeit geldpolitischer Entscheidungen und ein Verbot der Finanzierung öffentlicher Institutionen standen im Mittelpunkt. So sollte der grassierenden Korruption der öffentlichen Hand Einhalt geboten werden. Eine Politik, für die die Türkei im Gegenzug Kredite des IWF und der Weltbank erhielt [3].
„Das Wahlprogramm von Erdogans Partei versprach das hohe Gut der Zentralbankunabhängigkeit.“
Die Krise und die gespaltene Opposition machten sich Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) während der Parlamentswahlen 2002 zunutze und profilierten sich als ernst zu nehmende, EU-freundliche Partei. Das Wahlprogramm der Partei versprach das hohe Gut der Zentralbankunabhängigkeit.
Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2003 unterstützte Erdogan den Kurs seiner Vorgänger – auch um die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union zu vereinfachen. Zentralbankunabhängigkeit, Reformen unterstützt durch das IWF und die guten außenpolitischen Beziehungen zur EU trugen maßgeblich zum hohen Wirtschaftswachstum zwischen 2002 und 2006 bei [4]. In Deutschland sprach man sogar vom „Wirtschaftswunder alla turca“ [5].
2007: Kehrtwende in der Zentralbankpolitik
Ab dem Jahr 2007 begann aber die wirtschaftspolitische Kehrtwende. Erdogans Regierung wandte sich Schritt für Schritt von den von IWF und der Weltbank initiierten Reformen ab und immer mehr vormals unabhängige Behörden mussten sich Regierungsdirektiven beugen.
Zu Beginn konnte sich die Zentralbank noch behaupten. Sie sah sich höchstens rhetorischen Angriffen Erdogans ausgesetzt, denen sich der Zentralbank-Chef 2015 noch mit Kritik widersetzte. So warf Erdogan der Zentralbank und ihren Vorsitzenden ab 2014 immer wieder vor, für die sogenannte „Zinslobby“ zu arbeiten: Ausländer oder Unternehmen, die durch hohe Wechselkurse hohe Gewinne erwirtschaften wollen.
Während einer Rede warf Erdogan denjenigen, die „Hochzinspolitik“ betreiben, vor, „Vaterlandsverräter“ zu sein. Hinter diesen Vorwürfen steht die unorthodoxe Geldpolitik des türkischen Präsidenten: Erdogan beharrt darauf, dass Zinssenkungen die Inflation senken. Außerdem rezipiert er islamische Lehren, die Wucher als Sünde betrachten [6].
Aus scharfer Kritik und Drohungen wurde Ernst: So zählte die Zentralbank in den letzten sieben Jahren fünf verschiedene Vorsitzende. Das 2018 in Kraft getretene Präsidialsystem macht diese Entlassungen möglich, da Erdogan nun nicht nur mehr Staatsoberhaupt, sondern auch Partei- und Regierungschef ist.
Als Vorsitzender der AKP hat er die Legislative fest in seiner Hand und kann als Präsident durch Dekrete, ohne Zustimmung des Parlaments, Gesetze erlassen, Minister ernennen und wichtige Beamte – wie Zentralbanker – entlassen [7].
„Ein Sieg der Opposition verspricht einen Neustart für die Geldpolitik der Türkei und eine Rückkehr zur stabilen und unabhängigen Zentralpolitik.“
Die zahlreichen Entlassungen von Zentralbankvorsitzenden bewerten Juristen auch heute als verfassungswidrig. Zwar ist die türkische Zentralbank de jure immer noch eine unabhängige Institution. De facto ist die Unabhängigkeit jedoch eine Illusion, weil durch das „Präsidialsystem à la Erdogan“ die gesetzliche Unabhängigkeit der Zentralbank umgangen wird.
Gegenwart und Zukunft der türkischen Zentralbank
Die abnehmende Unabhängigkeit der Zentralbank bringt vor allem seit 2021 fatale Folgen mit sich. Seit September 2021 senkte die Zentralbank den Leitzins um 9,5 Prozent. Während dies durchaus für mehr Wachstum sorgte, sprang die Inflation jedoch auf das Level Argentiniens: Im Januar 2023 betrug sie 57,68 Prozent.
Trotz dieser fatalen Entwicklung bleibt die Politik rund um Erdogan bei ihrer Strategie und beschwört ein „Jahrhundert der Türkei“. In Anbetracht der anstehenden Präsidentschaftswahlen ist nicht anzunehmen, dass Erdogans Regierung von ihrer geldpolitischen Strategie abweichen wird. Mehr Hoffnung macht da das oppositionelle Bündnis: Es tritt an mit dem Ziel, demokratische Institutionen zu stärken und die Unabhängigkeit der Zentralbank zu fördern. In aktuellen Umfragen liegt das Bündnis an erster Stelle. Ein Sieg der Opposition verspricht einen Neustart für die Geldpolitik der Türkei und eine Rückkehr zur stabilen und unabhängigen Zentralpolitik.
Fußnoten
[1] www.jstor.org
[2] www.bbc.com
[6] www.welt.de
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Autor:
Güral Gülec studiert Wirtschaftswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung.