Steigende Beitragssätze – sinkende real verfügbare Lohneinkommen?
Bei der Debatte um die Finanzierung des Sozialstaats und insbesondere der Sozialversicherungen wird von mehreren Seiten auf kommende Produktivitätssteigerungen verwiesen, die je nach Couleur dazu genutzt werden sollen, z.B. die Renten zu erhöhen oder die Beitragssätze zu stabilisieren, wobei die grundsätzliche Idee ist, dass die steigende Produktivität einen größeren Kuchen backt, der dann zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern verteilt werden kann.
Grundsätzlich ist der Nexus zwischen Arbeitsproduktivität und den Beitragseinnahmen der Sozialversicherungen durchaus plausibel. Bei konstantem Beitragssatz bedeuten steigende Reallöhne, dass auch die realen Ausgabespielräume der Sozialversicherungen zulegen. Alternativ könnte bei konstanten realen Ausgaben der Beitragssatz gesenkt werden. Die Arbeitsproduktivität wiederum ist ein wesentlicher – langfristig sogar der mit Abstand wichtigste – Treiber der Reallöhne.
Die aktuelle Produktivitätsdynamik gibt allerdings wenig Anlass zur Hoffnung, dass in den kommenden Jahren hier ohne weiteres Zutun große Verteilungsspielräume entstehen. Der derzeitige Anstiegspfad der Beitragssätze in den Sozialversicherungen könnte dazu führen, dass sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in den kommenden Jahren trotz moderater Produktivitätsgewinne keine steigenden real verfügbaren Einkommen erleben werden.

1989=100. 2025: Prognose.
Quelle: Statistisches Bundesamt Fachserie 18 Reihe 1.2 (Daten ab 1991) und 1.5 (Daten bis 1991); eigene Berechnungen.
„Arbeitsproduktivität ist der wesentliche Treiber der Reallöhne“
Langfristig entwickelt sich der Reallohn (in der Abbildung die realen Arbeitnehmerentgelte pro Stunde relativ zum Deflator des privaten Konsums) mit der Arbeitsproduktivität (Abbildung 1), wobei es durchaus Phasen gab, in denen die Löhne einige Zeit hinterherhinkten. Dies war z.B. Ende der 90er Jahre und in den frühen 2000er Jahren der Fall (sog. Lohnmoderation). Bedingt durch die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Schwankungen im Zuge der Wiedervereinigung war es zu einer hohen Arbeitslosigkeit gekommen, die verschiedene Arbeitsmarktreformen und eine stärkere Lohnzurückhaltung induzierte. In den Folgejahren setzte dann allerdings ein Aufholprozess mit stärker als die Produktivität steigenden Reallöhnen ein, der bis in das Jahr 2019 anhielt. Die „goldenen Jahre“ mit stetig steigender Beschäftigung und zugleich steigenden Reallöhnen führten auch dazu, dass die Sozialversicherungen trotz zügig steigender Ausgaben nicht in finanzielle Bedrängnis gerieten, wobei bei der Rentenversicherung nicht zu vernachlässigen ist, dass es mit der Einführung des Riesterfaktors und der sukzessiven Anhebung des Regelaltersgrenze für den Renteneintritt auch eine Reformpolitik gab, die das relative Rentenniveau zwar reduzierte, aber dazu beitrug, die Beitragslasten auf einem historisch moderaten Niveau zu halten.

Vorjahresvergleich in %. 2025: Prognose.
Quelle: Statistisches Bundesamt Fachserie 18 Reihe 1.2 (Daten ab 1991) und 1.5 (Daten bis 1991); eigene Berechnungen.
Mit dem Inflationsschub in den Post-Corona-Jahren rund um die Energiekrise gerieten die Reallöhne massiv unter Druck. Allerdings wurden die Verluste relativ zur Produktivitätsentwicklung in den jüngsten Quartalen weitgehend wieder aufgeholt, so dass sich an dem Bild, dass die Arbeitsproduktivität maßgeblich die Reallöhne treibt, auch durch die vorangegangenen Krisen wenig geändert hat.
„Das Wachstum der Arbeitsproduktivität lässt seit Jahrzehnten nach“
Der Zuwachs der Arbeitsproduktivität lässt allerdings seit vielen Jahren in den Tendenz nach. Von den hohen Raten aus den früheren Jahrzehnten sind wir aktuell weit entfernt (Abbildung 2). In den Jahren 2023 und 2024 war die Arbeitsproduktivität pro Stunde sogar rückläufig und dürfte im laufenden Jahr kaum mehr als stagnieren. Diese Zuspitzung dürfte mit der akuten Schwäche der Industrie zusammenhängen. Während in den vergangenen Jahren die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe deutlich gesunken ist, stieg sie vordringlich im Wirtschaftsbereich öffentliche Dienstleister, Gesundheit und Erziehung. Letztere sind nicht unbedingt Staatsbedienstete, es zählen hier auch und insbesondere Beschäftigte in privaten Einrichtungen in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Erziehung dazu. Gesundheit und Pflege sind die Boom-Branchen der vergangenen Jahre mit dem Problem, dass hier die Wertschöpfung je Arbeitsstunde relativ zum verarbeitenden Gewerbe deutlich geringer ist und die Produktivitätszuwächse dieser Branchen überschaubar sind (Abbildung 3). So stieg die Bruttowertschöpfung je Stunde von 2019 bis 2024 im verarbeitenden Gewerbe um 4,1 % und bei den öffentlichen Dienstleistern nur um 1,3 %.

Saison- und kalenderbereinigte Quartalsdaten.
Quelle: Statisches Bundesamt Fachserie 18, Reihe 1.3.
Dass gesamtgesellschaftlich mehr für Gesundheit und Pflege ausgegeben wird, ist angesichts des immer noch hohen Wohlstandsniveaus im Zusammenspiel mit einer alternden Gesellschaft durchaus plausibel. Und dass Produktivitätsgewinne in bestimmten Sektoren dazu genutzt werden, Ausgaben in Sektoren ohne vergleichbare Produktivitätsgewinne zu lenken, ist zudem ein seit langem unter dem Stichwort „Baumolsche Kostenkrankheit“ beschriebenes Phänomen. Es kommt allerdings verschärfend hinzu, dass die Ausgaben für Gesundheit und Pflege zu einem Großteil durch die Verteuerung des Faktors Arbeit finanziert werden, was wiederum die Wettbewerbsfähigkeit der Sektoren mit den bisher hohen Produktivitätsgewinnen schmälert.
Aktuelle Projektionen sehen in der Regel voraus, dass die akute Produktivitätsrezession überwunden werden kann. Anzeichen für eine Umkehr des langjährigen Trends gibt es allerdings nicht. So rechnet die jüngste Gemeinschaftsdiagnose damit, dass die Stundenproduktivität ausgehend vom Jahr 2024 bis zum Jahr 2030 um 4,7 % steigt (0,8% pro Jahr). Es ist nicht ausgeschlossen, dass im gleichen Zeitraum der kumulierte Beitragssatz ausgehend von rund 41 % im Jahr 2024 auf über 45 % zulegt. Der Anstieg in Prozentpunkten entspricht damit nahezu dem erwarteten Produktivitätsfortschritt. Der Anstieg der Reallöhne ginge damit fast vollständig an die Sozialversicherungen. Angesichts der Unsicherheiten, die mit einer Projektion einhergehen, ist nicht auszuschließen, dass durch den Anstieg der Sozialbeiträge die real verfügbaren Nettolöhne in den kommenden Jahren sogar rückläufig sein werden. Bereits im laufenden Jahr wurde ein Großteil des angelegten Reallohnplus von dem Beitragssatzanstieg in der Kranken- und Pflegeversicherung nivelliert.
Ein schwacher Trost für die Lohnempfänger dürfte sein, dass sie die Realeinkommenszuwächse, die ihnen durch steigende Beiträge entgehen, hätten versteuern müssen – es wäre somit nicht das gesamte Plus bei Ihnen verblieben. Der Arbeitnehmeranteil der Sozialbeiträge kann von der Einkommensteuer abgesetzt werden, während der Arbeitgeberanteil als Betriebsausgabe den zu versteuernden Unternehmensgewinn mindert. Dies bedeutet aber auch, dass den Gebietskörperschaften durch steigende Beitragssätze Steuereinnahmen entgehen. Grob geschätzt dürfte ein Prozentpunkt mehr Sozialbeitragssatz rund 5 Mrd. Euro weniger Steuereinnahmen bedeuten.
Was ist zu tun?
Auch wenn die aktuelle Rezession überwunden wird, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die real verfügbaren Einkommen von Lohnempfängern in den kommenden Jahren kaum mehr als stagnieren. Der derzeit absehbare Anstieg der Beitragssätze der Sozialversicherungen sorgen für merklichen Gegenwind.
Die schwindende Produktivitätsdynamik wird aktuell durch die Krise des verarbeitenden Gewerbes, dass jüngst deutlich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat, zusätzlich gedämpft. Die Auswirkungen des demografischen Wandels erzeugen einen deutlichen Druck auf die Sozialversicherungen, so dass die Beitragssätze weiter zulegen werden, was ihrerseits die Wettbewerbsfähigkeit weiter verringert.
Die Politik sollte hier mit einem Maßnahmenbündel auf diese Herausforderung antworten. Zum einen sollten Reformen des Leistungskatalogs erfolgen, die den weiteren Anstieg der Beitragssätze dämpfen. Insbesondere die derzeitige Rentenpolitik der aktuellen Bundesregierung steht hierzu im Widerspruch.
Zum anderen sollten Maßnahmen ergriffen werden, die die Produktivität antreiben können. Derzeit wird in diesem Zusammenhang viel über Bürokratieabbau gesprochen. Sollte sich dieser allerdings nur in der Reduktion von einigen Berichtspflichten, deren Last durch Digitalisierung und den Einsatz künstlicher Intelligenz wahrscheinlich bald eh gemindert werden könnte, bestehen, dürfte dies zu kurz gesprungen sein. Vielmehr sollten Regulierungen in den Bereichen Daten-, Umwelt- oder Kündigungsschutz auf ihre Wirksamkeit überprüft werden und daraufhin, welchen Stellenwert das zu schützende Gut in Zeiten möglicherweise sinkender Realeinkommen noch hat.
Angesichts sich eintrübender wirtschaftlicher Aussichten scheint es plausibel, mehr ins Risiko zu gehen und vermeintliche Sicherheiten, die ihrerseits Produktivitäts- und damit Reallohnzuwächse behindern, in Frage zu stellen.
Last but not least sollte der Staat nicht nur als (De-)Regulierer für mehr Produktivität sorgen, sondern auch bei seinen eigenen Tätigkeiten („staatsnahe Dienstleistungen“) auf eine effiziente Mittelverwendung drängen. Der teilweise Verlust von Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe wird schon wegen des demografischen Wandels und der neu hinzugetretenen Konkurrenz aus China in den kommenden Jahren kaum vollständig aufgeholt werden können. Die durch den demografischen Wandel veränderte Nachfragestruktur dürfte ebenfalls Bestand haben. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Produktivitätsgewinne auch in Wirtschaftsbereichen gehoben werden, die nicht zum verarbeitenden Gewerbe zählen – und hier insbesondere die staatsnahen Dienstleister in den Bereichen Verwaltung, Gesundheit und Pflege.
Autor:

Prof. Dr. Jens Boysen-Hogrefe ist stellv. Leiter des Prognosezentrums am ifw Kiel und Mitglied im „Arbeitskreis Steuerschätzungen“ des Bundesministeriums der Finanzen. Am 14.10. diskutiert er mit Dr. Yannick Bury MdB und Dr. Florian Schuster-Johnson vom Thinktank „Dezernat Zukunft“ die Entwicklung öffentlicher Haushalte mit Blick auf aktuelle Konjunkturprognosen.