Pflegeversicherung: höherer Beitrag, mehr Bürokratie, niedrigere Steuereinnahmen
Zum 1. Juli steigt der Pflegebeitrag für kinderlose Arbeitnehmer und Familien mit einem Kind, auch wenn die Steuerlast damit etwas sinkt. Beitragszahler mit zwei oder mehr Kindern zahlen dagegen weniger. Die Arbeitgeber müssen insgesamt nicht nur höhere Beitragsanteile schultern, sondern auch mit einem ausufernden Verwaltungsaufwand umgehen.
Zum 1. Juli steigt der Beitragssatz zur Pflegeversicherung, nachdem der Bundesrat dem Gesetzentwurf Mitte Juni abschließend zugestimmt hat. Berechnungen anhand des IW-Mikrosimulationsmodells STATS (Beznoska, 2016) zeigen, dass in den kommenden sechs Monaten insgesamt rund 3 Milliarden Euro zusätzlich für die Pflegeversicherung aufgebracht werden. Auf das kommende Jahr gerechnet bedeutet die Beitragssatzerhöhung ein Einnahmenplus von ungefähr 6 Milliarden Euro.
Beitragssatzstaffelung nach Kinderzahl
Der Beitragsanstieg verteilt sich nicht proportional auf alle Beitragszahler. Vielmehr gewinnt die Kinderkomponente an Bedeutung. Bisher wurde lediglich unterschieden, ob ein Beitragszahler Kinder hat oder nicht. Zum 1. Juli steigt zunächst der reguläre Beitragssatz um 0,35 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent. Dieser Satz gilt für alle Beitragszahler mit einem Kind. Der Zuschlag für kinderlose Beitragszahler steigt noch mal um 0,25 Prozentpunkten auf 0,6 Prozent, sodass der maximale Beitragssatz künftig 0,6 Prozentpunkte höher bei 4,0 Prozent liegt.
Beitragszahler mit mehreren Kindern erhalten dagegen ab dem zweiten Kind eine Beitragssatzreduktion von 0,25 Prozentpunkte, solange der Nachwuchs unter 25 Jahre alt ist. Wer zwei Kinder unter 25 Jahren hat, zahlt demnach 3,15 Prozent seines beitragspflichtigen Einkommens in die Pflegeversicherung; sobald das zweite Kind 25 Jahre alt wird, wieder 3,4 Prozent. Bei drei Kindern beträgt der Rabatt 0,5 Prozentpunkte. Dies führt dazu, dass ab drei Kindern unter 25 Jahren der Beitragssatz gegenüber dem Status quo sinkt (von zuvor 3,05 Prozent auf 2,9) Prozent). Das Minimum wird bei mindestens fünf Kindern mit 2,4 Prozent erreicht.
„Zusätzliche Leistungsversprechen verschärfen das Problem noch, statt es zu lösen.“
Die Kinderkomponente wirkt sich jedoch ausschließlich auf den Arbeitnehmeranteil aus, weshalb der Arbeitnehmeranteil des Beitragssatzes bereits ab dem zweiten Kind sinkt. Für die Arbeitgeber erhöht sich der Beitragsanteil unabhängig von der Kinderzahl auf 1,7 Prozent. Darüber hinaus müssen die Personalabteilungen ab dem 1. Juli auch für jeden Mitarbeitenden die Anzahl und das Alter der Kinder ermitteln, um den Pflegeversicherungsbeitrag korrekt berechnen und abführen zu können. Das verursacht nicht nur einmalig einen hohen Verwaltungsaufwand, denn bei jedem neugeborenen Kind wird künftig eine neue Beitragsberechnung notwendig, ebenso wie bei Überschreiten der Altersgrenze ab dem zweiten Kind.
Beitragsbelastungen anhand von Beispielfällen
Für kinderlose Beitragszahler bedeutet diese Regelung eine Erhöhung des monatlichen Beitrags zur gesetzlichen Pflegeversicherung um bis zu 127 Euro im zweiten Halbjahr 2023. Im Jahr 2024 beläuft sich die Beitragserhöhung aufs Jahr gerechnet auf bis zu 272 Euro. Ein alleinstehender Durchschnittsverdiener (48.000 Euro Bruttoeinkommen im Jahr 2023) muss von Juli bis Dezember 2023 insgesamt rund 100 Euro und im nächsten Jahr rund 200 Euro mehr zahlen. Dagegen zahlt ein Ehepaar mit zwei Kindern und 60.000 Euro Bruttojahreseinkommen im zweiten Halbjahr dieses Jahres unter dem Strich auf sechs Monate gerechnet 23 Euro weniger in die Pflegekasse ein als noch im ersten Halbjahr 2023. Mit jedem weiteren Kind erhöht sich die Ersparnis. Bei einem Kind unter 25 Jahren steigt dagegen der Pflegebeitrag für Familien. Für Alleinerziehende sind die Auswirkungen analog, sodass der Beitrag bei einem Kind steigt und ab zwei Kindern sinkt.
Insgesamt werden 9,2 Millionen Personen (mehr als zwei Kinder unter 25 Jahren) über einen geringeren Arbeitnehmerbeitrag entlastet. Betrachtet man Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag zusammen, so sind dagegen knapp 2,5 Millionen Beitragszahler mit drei oder mehr Kindern unter 25 Jahren von einem insgesamt niedrigeren Beitragssatz betroffen.
Beitrag steigt, Steuereinnahmen sinken
Der reine Blick auf die Beitragshöhe verkennt jedoch die Verflechtung von Sozialversicherung und Steuersystem. Da die Pflichtbeiträge komplett steuerlich abzugsfähig sind, reduziert sich in der Folge das zu versteuernde Einkommen und damit die zu zahlende Einkommensteuer. Die Gegenbuchung erfolgt in Höhe des jeweiligen Grenzsteuersatzes eines Steuer- und Beitragszahlers. Im Fall des alleinstehenden Durchschnittsverdieners führt dies dazu, dass der im zweiten Halbjahr 2023 um 102 Euro gestiegene Pflegeversicherungsbeitrag zu knapp einem Drittel durch die Einkommensteuer kompensiert wird. Das Nettoeinkommen fällt im zweiten Halbjahr folglich insgesamt um 69 Euro statt um 102 Euro geringer aus. Bei Familien ab zwei Kindern steigt dagegen die Einkommensteuerzahlung aufgrund des geringeren Pflegebeitrags.
Die Entlastung beim Beitragszahler führt umgekehrt zu verringerten Steuereinnahmen des Staates, da für Arbeitnehmer die gestiegenen Beiträge bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens abzugsfähig sind. Gleichzeitig schmälert der höhere Arbeitgeberanteil den Gewinn der Unternehmen. Damit entgehen dem Staat bei Kapitalgesellschaften aufgrund der Veränderung des Arbeitgeberanteils Steuern in Höhe von rund 30 Prozent, bei Personengesellschaften kann der Wert bis zu 45 Prozent betragen. Insgesamt fließt knapp ein Drittel der höheren Sozialbeiträge, also rund 2 Milliarden Euro, in Form geringerer Steuern an die Beitragszahler und ihre Arbeitgeber zurück. Per Saldo generiert der Staat damit durch die Anhebung des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung lediglich rund 4 Milliarden Euro.
Nicht berücksichtigt sind dabei mögliche Verhaltensanpassungen bei Arbeitsangebot und -nachfrage. Der wachsende Steuerkeil, also der Anteil von Steuern und Sozialabgaben an den Arbeitskosten, reduziert die Arbeitsanreize. Gleichzeitig erhöhen sich die Arbeitskosten und der Verwaltungsaufwand für die Unternehmen. Insgesamt verschlechtert die Reform die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland sowohl mit Blick auf private Investitionen als auch beim Anwerben ausländischer Fachkräfte.
Die Beitragserhöhung zur Stabilisierung der Finanzen der Pflegeversicherung verschärft zudem den Verteilungskampf in den Haushalten der Gebietskörperschaften Bund, Länder und Kommunen. Denn während Bund und Länder bei der Einkommensteuer jeweils 42,5 Prozent des Steuerausfalls tragen müssen, entfallen 15 Prozent der Mindereinnahmen auf die Kommunen. Bei der Körperschaftsteuer teilen sich Bund und Länder die Mindereinnahmen. Daran ist systematisch nichts einzuwenden, allerdings sollten diese Effekte mit bedacht werden, da sie die Finanzierungsstruktur des Staates verändern. Von daher ist es verwunderlich, dass das Bundesfinanzministerium in seiner Evaluierung des Gesetzesvorhabens darauf nicht eingeht (Deutscher Bundestag, 2023).
Fragwürdiges Reformziel
Mit den Mehreinnahmen in der Pflegeversicherung – so könnte man hoffen – ließen sich aktuelle Finanzlöcher in der Pflegekasse stopften. Tatsächlich sollen aber gleichzeitig die häusliche Pflege gestärkt und pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen sowie andere Pflegepersonen entlastet werden. Leistungsausweitungen sind jedoch fehl am Platze. Denn nicht nur der Pflegefachkräftemangel sorgt für steigende Arbeitskosten, gleichzeitig führt die Bevölkerungsalterung zu steigenden Pflegefallzahlen (Statistisches Bundesamt, 2023). Das allein wird die Finanzierungserfordernisse weiter in die Höhe treiben. Zusätzliche Leistungsversprechen verschärfen das Problem noch, statt es zu lösen.
Dr. Jochen Pimpertz hat diesen Text zusammen mit seinen Kollegen Dr. Tobias Hentze und Dr. Martin Beznoska geschrieben.
Dieser Blogpost erschien zuerst auf der Website des Instituts der deutschen Wirtschaft:
Literatur
Deutscher Bundestag. 2023. Entwurf eines Gesetzes zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege (Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz – PUEG), Gesetzentwurf der Bundesregierung. Drucksache 20/6869
Statistisches Bundesamt, 2023, Pflegevorausberechnung – Deutschland und Bundesländer, Statistischer Bericht – Pflegevorausberechnung – Deutschland und Bundesländer – Statistisches Bundesamt
Autor:
R. Fischer und Prof. G. Schnabl Prof. Schnabl ist Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig. Raphael Fischer ist Diplom-Volkswirt und Forschungsassistent am Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig.