Mehr Autonomie für Schulen!
Einen Weg, den die IW-Forscher für bessere Integrationsleistungen und zielgerichtetere Förderung aufzeigen, wäre mehr Autonomie und Budgethoheit für Schulen. Tatsächlich ist dies das Rezept aller erfolgreichen westlichen Staaten bei PISA: Je größer in einem Land die Entscheidungsfreiheit der einzelnen Schulleitung ist, desto größer das Engagement der Lehrer und der messbare Lernerfolg der Schüler.
Die gegenteilige Situation kennen wir aus Deutschland zur Genüge: Schulleitungen und Lehrer werden durch ein Dickicht von Auflagen der Landes-Bildungsministerien und des Beamtenrechts gegängelt – das führt oft zu Frust, Lethargie und Dienst nach Vorschrift.
Deutschland braucht die Befreiung der Schulen von der Bevormundung von „oben“ – verbunden mit nationalen Vorgaben für die Bildungsziele. Denn auch das fehlt in Deutschland: Selbst für das Abitur gibt es immer noch keine einheitliche Vorgabe. Das Bundesverfassungsgericht hat die Länder zwar schon 2017 zu einem einheitlichen Standard verpflichtet, aber realisiert wird dieser voraussichtlich erst 2030… und auch dann nur unvollkommen, klagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger.
Dazu kommt die völlige Intransparenz aller schulischen Kennzahlen in Deutschland. Es fehlt nicht nur die Vergleichbarkeit des Abiturs über Ländergrenzen hinweg, es fehlen auch die Informationen über Ressourceneinsatz und Schülerentwicklungen, aber auch über die soziodemografische Situation, die Lehrerversorgung und über vieles andere mehr.
In meinem neuen Buch habe ich genauer untersucht, was die Bildungsstruktur der westlichen Länder auszeichnet, die bei PISA weit vor Deutschland liegen: Estland, Kanada, Großbritannien, Finnland, Polen, Schweden, die Schweiz, die USA und die Niederlande.
So unterschiedlich diese Länder sind, eines verbindet sie: Schulleitungen haben dort eine für uns unvorstellbare Freiheit, sie dürfen Lehrkräfte selbst einstellen, meist sogar entlassen und teilweise sogar selbst das Gehalt verhandeln. Aber sie unterliegen landesweiter curricularer Vorgaben und die Lernerfolge werden nicht nur am Ende der Schullaufbahn erfasst, sondern in Realtime und transparent für die Öffentlichkeit.
Wenn Schulleitungen selbst über die Einstellung von Lehrern bestimmen dürfen …
Horizontal sind die Länder gemäß dem Prozentsatz der Schulen an-geordnet, zu dem sie selbst oder allenfalls die nächsthöhere Verwaltungsebene (in Deutschland: die Kommunen) über die Einstellung von Lehrern entscheiden dürfen.
Das gehe in Deutschland nicht? Natürlich ist es möglich! Selbst die Fesselung durch das Beamtenrecht – für viele die Wurzel der deutschen Schulmisere – kann überwunden werden. Bei der Privatisierung von Bundesbahn und Bundespost 1994 wurden 450 000 Bundesbeamte unter Beibehaltung ihrer Beamten-Konditionen und -Privilegien in spezielle Firmen ausgegliedert und an die alten Arbeitgeber «zurück ausgeliehen». Von da an wurden bei Bahn und Post/DHL nur noch Angestellte eingestellt. Das Ergebnis? Befreit von staatlichen Vorgaben und Beamtenregeln, ist DHL heute ein Unternehmen der Weltklasse.
Aber… müsste man dafür nicht das Grundgesetz ändern? Nein! (Obwohl man es könnte und dies schon 54-mal geschehen ist). Jedes Bundesland könnte für sich entscheiden: Wir geben jetzt die Verantwortung für staatliche Schulen in die Kommunen – wie in der Schweiz. Dieses Nachbarland ist uns gedanklich näher als Polen, Estland und Skandinavien, die es ebenso machen – und alle diese Länder sind besser bei PISA als Deutschland).
Oder ein Bundesland beginnt mit der Bildungsrevolution „English-style“: Dort werden lokal gegründete und frei organisierte «Academies» vom Staat gut versorgt, die Zahl dieser freien Schulen wächst stetig. Übrigens: Schon mehr als zehn Prozent der deutschen Schüler gehen auf eine private, freie Schule. Tendenz steigend und dennoch gibt es Wartelisten, denn Eltern, Schüler und Lehrer sind wesentlich zufriedener als an staatlichen Schulen.
Das ist die dritte Möglichkeit, gute Schulen (laut PISA) zu bekommen: Freie, privat organisierte Schulen als Normalfall – wie in den Niederlanden (70 Prozent aller Schulen sind nicht-staatlich, aber staatlich kontrolliert und finanziert).
Aber das perfekte Vorbild ist das estnische Bildungssystem. Gemessen an den langjährigen PISA-Ergebnissen, ist es das beste Bildungssystem Europas, trotz knapper Ressourcen.
Wie funktioniert gute Schule in Estland? Dort sind die Kommunen für die gesamte Finanzierung und Organisation aller Grund- und Sekundarschulen in ihrem Gebiet verantwortlich. Dafür erhalten sie Zuweisungen aus dem nationalen Haushalt. Sie können über Lehrpläne, Unterrichtsmethoden und Schulprofile ihrer kommunalen Schulen selbst entscheiden. In der Praxis haben die Schulen und ihre Leiter dafür eine für deutsche Verhältnisse ungeheuer große Autonomie: Schulleiter dürfen Lehrkräfte selbst einstellen und ihnen kündigen. Die Gehälter können von den Schulleitern bestimmt werden und sind leistungsabhängig. Verbeamtung gibt es nicht. Die praktische Ausgestaltung des nationalen Bildungsstandards ist autonome Entscheidung der einzelnen Schule.
Alle estnischen Schüler müssen an nationalen standardisierten Prüfungen, also Vergleichsarbeiten, teilnehmen. Die Schulen sind dazu verpflichtet, die erzielten Noten auf Websites zu publizieren und dort auch über die Ausbildung der Lehrer, die Fehlstunden, die Größe der Klassen, die Anzahl der PCs, den Background der Schüler und einiges mehr Auskunft zu geben. Zudem ist ein jährlicher «Satisfactory Survey» (eine Zufriedenheitsumfrage) unter allen Schülern Pflicht, dessen Ergebnisse ebenfalls öffentlich einsehbar sind.
Diese klare Verantwortungszuweisung an die Kommunen und ihre Schulen, deren Autonomie sowie die Transparenz der Daten bringt Estland Vielfalt und Wettbewerb zwischen den Schulen (und Kommunen) – bei gleichzeitiger Reduktion von Bürokratie auf ein Minimum.
Klingt unglaublich? Ist aber seit vielen Jahren Realität – und sichert Estland die europäische Spitzenstellung bei PISA. Dieser Schulerfolg ist auch in Deutschland sehr einfach machbar. Es müsste nur ein Bundesland Mut haben und beginnen…
Referenz
Stock, W. (2024). Rettet unsere Schulen – Wie wir die Bildungskrise überwinden und unseren Kindern eine bessere Zukunft schenken. Fontis-Verlag Basel.
Autor:
Prof. Dr. Wolfgang Stock war viele Jahre Journalist (u.a. FAZ-Korrespondent und Politikchef der Welt am Sonntag) und ist der Autor der ersten Biografie über Angela Merkel. Er analysiert in seinem neuen Buch „Rettet unsere Schulen“ die deutschen Probleme detailliert, vor allem zeigt er aber die Rezepte der PISA-Sieger – und wie sie auch in Deutschland Realität werden könnten.