Ist die Soziale Marktwirtschaft noch zeitgemäß?
Seit über 75 Jahren prägt die Soziale Marktwirtschaft die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik. Sie genießt breite Zustimmung, steht aber vor großen Herausforderungen. Klimawandel, technologischer Fortschritt und Digitalisierung, globaler Wettbewerb auf Märkten und zwischen Systemen, Kriege und Alterung erfordern Anpassungen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Ist das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft noch zeitgemäß? Im Rahmen eines Gutachtens für das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (Necker et al. 2025) untersuchen wir in vier Handlungsfeldern, ob die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschat noch Gültigkeit haben und welche Anpassungsbedarfe im Licht aktueller Herausforderungen bestehen.
Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es geht auf die Ideen verschiedener Wissenschaftler wie Alfred Müller-Armack, Walter Eucken oder Wilhelm Röpke zurück. Obwohl es sich nicht um eine geschlossene Theorie handelt, lassen sich einige zentrale Prinzipien identifizieren. Freiheit, Eigenverantwortung und sozialer Ausgleich sollen durch funktionierenden Wettbewerb gewährleistet werden. Staatliche Eingriffe sollen marktkonform erfolgen und den Preismechanismus nicht aushebeln. Akteure müssen für ihre Handlungen Verantwortung übernehmen und dürfen Risiken nicht auf die Allgemeinheit abwälzen. Schon die Gründerväter wussten, dass die Wirtschaftsordnung sich an veränderte Rahmenbedingungen anpassen muss. Während die Forschung damals noch in den Kinderschuhen steckte, gibt es heute umfangreiche wissenschaftliche Erkenntnisse.
Eine fundamentale Voraussetzung der Sozialen Marktwirtschaft ist ein Staat, der fähig ist, Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zu formulieren und durchzusetzen. Deutschland ist in dieser Hinsicht sehr erfolgreich. Allerdings sind diese guten Rahmenbedingungen unter Druck. Es gibt starke Kräfte auf Seiten aller politischen Akteure (Bürger*innen, Politiker*innen, Verwaltung, Interessensgruppen), die dem Staat in allen Lebensbereichen Verantwortung zuschieben und damit ein Übermaß an Regulierung und Bürokratie erzeugen. Es braucht ein Umdenken dahin, dass der Staat nicht alle Probleme lösen kann. Dort, wo er tätig wird, sollte er sich auf marktkonforme Politikinstrumente konzentrieren, die meist mit weniger Bürokratie verbunden sind. Der föderale Staatsaufbau kann zur besseren Handlungsfähigkeit des Staats beitragen. Föderaler Wettbewerb kann Effizienz steigern – allerdings nur, wenn Zuständigkeiten klar zugewiesen und finanziell unterlegt sind (Konnexitätsprinzip). Das ist in Deutschland oft nicht der Fall.
Wettbewerb ist eine wichtige Voraussetzung, um das Versprechen „Wohlstand für alle“ zu erfüllen. Der technologische Wandel verändert Märkte und schafft neue Chancen, bedroht möglichweise aber auch den Wettbewerb durch Skaleneffekte, Netzwerkeffekte und Datenökosysteme, die zu erheblicher Marktkonzentration führen können. Um den Wettbewerb und die Innovationskraft in Wachstumsbranchen nachhaltig zu stärken, sollten gezielt Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen gefördert und die Rahmenbedingungen für innovative Technologien verbessert werden. Wichtig sind technologieoffene Förderstrategien, die auf die Lösung großer gesellschaftlicher Herausforderungen einzahlen, Wettbewerb bei der Mittelvergabe, innovationsfreundliche Regulierung und Unterstützung von Gründungen. Industriepolitik ist nur gerechtfertigt, wenn sie externe Effekte internalisiert und Wettbewerb stärkt.
Die Soziale Marktwirtschaft ist auf gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen. Dafür sind faire Startchancen entscheidend. In Deutschland ist der Bildungsaufstieg besonders stark von der sozialen Herkunft beeinflusst. Kinder aus benachteiligten Familien haben deutlich schlechtere Bildungschancen. Chancengerechtigkeit kann durch frühkindliche Förderung, mehr und bessere Betreuungseinrichtungen, weniger Zugangshürden und gezielte Unterstützung für benachteiligte Schulen und Kinder hergestellt werden. Angesichts digitaler und ökologischer Transformation ist lebenslanges Lernen unabdingbar. Die Bereitschaft zu Weiterbildung kann durch Informationskampagnen und transparente Zertifizierungssysteme gesteigert werden.
Zur Zeit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland spielte der Umweltschutz nur eine untergeordnete Rolle. Heute zählen Klima- und Biodiversitätsschutz zu den größten Herausforderungen. Eine grundsätzliche Erweiterung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft ist zur Adressierung dieser Probleme nicht notwendig. Die Bepreisung externer Effekte, die mit den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft am besten vereinbar ist, sollte verstärkt in den Mittelpunkt der Klima- und Umweltpolitik rücken, ergänzt durch komplementäre Maßnahmen wie Infrastrukturinvestitionen und Innovationsförderung. Reformen sollten vorausschauend erfolgen und widersprüchliche, kleinteilige Regelungen vermieden werden. Da Klimapolitik Verteilungswirkungen erzeugt, braucht es faire Rückverteilungsmechanismen, transparente Kommunikation und zielgruppenspezifische Förderungen, um die Akzeptanz sicherzustellen.
Unser Gutachten kommt zu dem Schluss, dass sich im Laufe der Zeit zwar die Herausforderungen geändert haben, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft aber auch heute noch weitgehende Gültigkeit haben. Das Gutachten stellt allerdings auch fest, dass es bedeutsame Defizite bei der Umsetzung dieser Prinzipien gibt. Zur Umsetzung sind drei Elemente entscheidend. Erstens ist Vertrauen in marktwirtschaftliche Lösungen zentral, da Wettbewerb und Preissignale einen effizienten Umgang mit Knappheiten ermöglichen und zugleich Politik wie Verwaltung disziplinieren. Zweitens braucht es die Korrektur von Marktversagen, um technologischen Monopolisierungstendenzen, ökologischen Externalitäten und Wissensspillovers wirksam zu begegnen. Drittens sind Bildung und Informationen zentrale Grundlagen, um Chancen- und Teilhabegerechtigkeit zu sichern sowie Akzeptanz und Anpassungsfähigkeit zu fördern.
Necker, Sarah, Nicolas Bunde, Nina Czernich, Anita Dietrich, Oliver Falck, Clemens Fuest, Johannes Pfeiffer, Karen Pittel, Alexander Schmid, Anne Steuernagel, Marcel Thum (2025). Konzeptionelle Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft. Ifo Bericht.
Autoren:

Prof. Dr. Oliver Falck ist Leiter des ifo Zentrums für Innovationsökonomik und Digitale Transformation und Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Empirische Innovationsökonomik, an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Prof. Dr. Sarah Necker ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und Direktorin des Ludwig Erhard ifo Zentrums für Soziale Marktwirtschaft und Institutionenökonomik. Sie ist zudem Teil des Ökonominnen-Netzwerks des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.

Prof. Dr. Karen Pittel leitet das ifo Zentrum für Energie, Klima und Ressourcen und ist Professorin der Volkswirtschaftslehre an der LMU München. Sie ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen.

Prof. Dr. Marcel Thum hat die Professur für Finanzwissenschaft an der TU Dresden inne und ist Geschäftsführer der Niederlassung Dresden des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Er gehört dem wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums der Finanzen an.










