In den USA formiert sich ein neuer handelspolitischer Konsens – mit potentiell schwerwiegenden Folgen für Deutschland

Dieser Tage blickt die Welt nervös auf die Planungen Donald Trumps für seine zweite Amtszeit. Doch es gibt einen Politikbereich, in dem die Wiederwahl Trumps die Grundausrichtung der amerikanischen Politik kaum verändern wird: die Handelspolitik. In der Handelspolitik besteht in den USA seit Trumps erster Präsidentschaft ein angesichts der tiefgehenden Polarisierung der US-amerikanischen Politik fast an ein Wunder grenzender Konsens. Und dieser Konsens verschiebt sich gerade – zu einer Vision der Weltwirtschaft, in der nicht nur China, sondern auch Deutschland zu den wirtschaftspolitischen Sündern gehören.

Der Architekt dieser Verschiebung ist Michael Pettis, ein in Beijing lebender ehemaliger Wall-Street-Bänker und passionierter Musikunternehmer. In seinem 2020 mit Matthew Klein veröffentlichten Buch „Trade Wars are Class Wars“ war er der Erste, der Deutschland neben China in die weltwirtschaftliche Schurkengalerie stellte. Natürlich hatte auch Trump bereits in seinem ersten Wahlkampf 2016 über das Ungleichgewicht in der bilateralen Handelsbilanz zwischen Deutschland und den USA geschimpft und höhere Zölle, insbesondere auf deutsche Autoexporte, angedroht. Doch Trumps Obsession mit bilateralen Handelsbilanzen wurde mit viel publizistischer Energie als wirtschaftswissenschaftlich unhaltbar entlarvt und hatte nur marginalen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Trump-Regierung (eine Ausnahme: Die Trump-Regierung nahm Australien unter anderem darum von Zusatzzöllen auf Stahl und Aluminium aus, weil die USA einen Handelsüberschuss mit Australien hatten).

Pettis’ Argument ist nuancierter. Für ihn ist nicht die bilaterale Handelsbilanz das Problem, sondern die deutschen (und chinesischen) Exportüberschüsse mit allen anderen Ländern. Pettis beschreibt diese Exportüberschüsse als eine „beggar-thy-neighbour“-Politik, die den Defizitländern—allen voran den USA, aber auch Großbritannien und Kanada—Industriearbeitsplätze raubt, die die Konsumenten und Regierungen der Defizitländer in die Verschuldung treibt, und die es den Unternehmen der Überschussländer erlaubt, Vermögenswerte in den Defizitländern anzuhäufen.

Das Grundproblem ist hierbei Pettis zufolge das Wachstumsmodell von China und Deutschland, das allein oder primär auf den Güterexport als Wachstumsmotor setzt und andere Wirtschaftsbereiche, wie den privaten Konsum (vor allem in China) oder heimische Investitionen (vor allem in Deutschland) bestenfalls vernachlässigt und schlimmstenfalls gezielt underdrückt. Staatlich erzwungene oder strukturell begünstigte Lohnzurückhaltung, eine unterbewertete Währung und der Rückbau bzw. (in Chinas Fall) verweigerte Aufbau des Sozialstaats, insbesondere der Alterversorgung, sind einige der Strategien, mit denen Chinas und Deutschlands Regierungen diesen Zustand herbeiführen. Das Argument ist nicht, dass China und Deutschland nicht exportieren sollten; das Problem ist, dass China und Deutschland nicht die Bedingungen schaffen, unter denen sie genausoviel importieren könnten wie sie exportieren wollen. Nach dieser Weltsicht müsste Deutschland nicht sein Bestreben aufgeben, „Exportweltmeister“ zu werden. Aber es müsste mit gleichem Eifer versuchen, auch bei den Importen ganz vorne mit dabei zu sein.

Ist Pettis’ Argument plausibel? Darüber kann man sicherlich streiten. Aber das Entscheidende ist, dass das Argument in den USA wirkmächtig ist – unter Finanz- und Handelspolitikern in den USA ist es auf dem Weg, zur „conventional wisdom“ zu werden. Ein Beispiel ist der Besuch der amerikanischen Finanzministerin Janet Yellen in Beijing im vergangenen April. Ihre Kritik an der chinesischen Politik zielte nicht mehr nur auf bestimmte handels- und industriepolitische Strategien ab, sondern nahm Chinas gesammtes Wachstumsmodell ins Visier. Sie sei besonders beunruhigt, erklärte Yellen, über Chinas „anhaltende makroökonomische Ungleichgewichte – namentlich der schwache Konsum der Haushalte und die übermäßigen Investitionen der Unternehmen, verstärkt durch umfangreiche staatliche Unterstützung in bestimmten Industriesektoren – die erhebliche Risiken für Arbeitnehmer und Unternehmen in den Vereinigten Staaten und weltweit mit sich bringen.“

Yellen ist nur die prominenteste und mächtigste US-Politikerin der Biden-Regierung, die sich Pettis‘ Argument zu eigen gemacht hat – sie steht keineswegs allein. Die Kritik des chinesischen Wachstumsmodells hat fast schon den Status einer regelmäßigen Kolumne in den Seiten der einflussreichen Zeitschrift Foreign Affairs erlangt und ist ein Kernpunkt der Globalisierungskritik von Experten am renommierten Council on Foreign Relations. Pettis selbst ist in Washington zunehmend präsent. Für die Zukunft entscheidend ist jedoch, dass Pettis‘ Sicht der Weltwirtschaft auch in der zweiten Trump-Regierung prominente Anhänger haben wird. Da ist zunächst Robert Lighthizer, der Handelsminister der ersten Trump-Regierung, der voraussichtlich auch in Trumps zweiter Amtszeit eine zentrale Rolle in der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik spielen wird. In vielbeachteten Artikeln im Economist und zuletzt in der Financial Times gibt Lighthizer, der mit Pettis regelmäßig telefoniert, dessen Kritik eins zu eins wieder. Auch einer der führenden Kandidaten für das Amt des Finanzministers in Trumps zweiter Regierung – der Investor Scott Bessent – übernimmt in einem im Oktober veröffentlichten Beitrag für den Economist Pettis‘ Argumentation und erwähnt Deutschland explizit als eines der Länder, die den heimischen Konsum ankurbeln müssten, um den weltwirtschaftlichen Ungleichgewichten entgegenzusteuern.

All dies ist wichtig, weil Pettis‘ Charakterisierung des chinesischen und deutschen Wirtschaftsmodells als „beggar-thy-neighbour“-Politik ein intellektuelles Rechtfertigungsgerüst für radikale Maßnahmen, wie pauschale Zölle auf alle Güterimporte oder Steuern auf Kapitalflüsse in die USA, bereitstellt. Trump hat solche Zölle bereits angekündigt; in dem Maße, wie eine zweite Trump-Regierung sich Pettis‘ Rechtfertigungsgerüst zueigen macht, wird Deutschland (und die Europäische Union) einen schwereren Stand haben, sich argumentativ zur Wehr zu setzen, als Defizitländer wie Großbritannien und Kanada.

Für die deutsche Politik ist es entscheidend, diese Sicht auf die Weltwirtschaft, in der Deutschland zusammen mit China Teil des Problems ist, zu verstehen; nur dann können deutsche Entscheidungsträger realistisch beurteilen, welche Gegenargumente und -strategien Aussicht auf Erfolg haben. Der Verweis auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen der USA im Rahmen der Welthandelsorganisation wird von einer zweiten Trump-Regierung nur belächelt werden. Aber auch der Appell, dass man doch gegenüber China im Sinne des „friend-shoring“ gemeinsame Sachen machen sollte, anstatt sich in Handelskriege miteinander zu verirren, wird nicht verfangen, solange Deutschland in den USA als Mitverursacher weltwirtschaftlicher Missstände wahrgenommen wird.

Es wäre daher produktiver, sich selbstkritisch mit Pettis‘ Kritik und dem deutschen Wachstumsmodell auseinanderzusetzen und den USA damit zu signalisieren, dass man die Kritik ernst nimmt. Ein Wirtschaftsmodell, das stärker auf innere Wachstumsquellen setzt, zum Beispiel durch höhere heimische Investitionen, könnte nicht nur die Kritik gegenüber Deutschland entschärfen, sondern würde auch die Folgen für Deutschland etwas mildern, wenn sich die neue US-Regierung entscheidet, der deutschen Wirtschaft den Zugang zu ihrem größten Absatzmarkt weiter zu erschweren.

Autor:

Dr. Nicolas Lamp ist Associate Professor an der Rechtsfakultät der Queen’s University in Kingston, Ontario, Kanada. Mit Anthea Roberts ist er Koautor des Buches „Six Faces of Globalization. Who Wins, Who Loses, and Why It Matters“.

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