Eine Studie in Schwarz-Rot: Mehr Staat, weniger Reform

Wie jedes Regierungsbündnis zuvor hat auch die Wiederauflage der schwarz-roten Koalition ihr Amt mit großen Versprechungen angetreten. Die zunehmend herausfordernde internationale, soziale, verteidigungs- und wirtschaftspolitische Lage verlangt auch nach einer neuen Politik mutiger Reformen. Und das besser gestern als heute. Der Beitrag behandelt die Frage, ob die ersten Signale, die Schwarz-Rot sendet, solch mutige Reformen erwarten lassen.

Warum eine erste Bilanz schon jetzt nötig ist

Es mag etwas verfrüht erscheinen nach nur gut einem Monat, in dem die Neuauflage von Schwarz-Rot im Amt ist, ein erstes Zwischenfazit zu ziehen. Zwei wesentliche Gründe sprechen jedoch dafür.

Erstens ist ein Regierungsbündnis in den ersten Wochen erfahrungsgemäß besonders geeint und gewillt, im Koalitionsvertrag festgeschriebene Programme schnell aufs Gleis zu setzen. Nicht selten kommt es dabei zu politischen Überraschungen. Erinnert sei hier an die – verfassungswidrige – Verschiebung von Notlagen-Kreditermächtigungen i. H. v. 60 Mrd. Euro in den Klima- und Transformationsfonds durch das Ampel-Bündnis kurz nach Amtsantritt. Hier reiht sich auch das große Schuldenpaket von Schwarz-Rot ein, das historisch einmalig noch mit verfassungsändernden Mehrheiten des alten Bundestages durchgedrückt wurde. Darauf komme ich später zurück.

Deutschland im Status quo: Strukturell geschwächt, konjunkturell angeschlagen

Zweitens befindet sich Deutschland in einer zunehmend herausfordernden Gemengelage, die schnelle Maßnahmen erfordern. Die günstigen Voraussetzungen für das deutsche Wirtschaftsmodell bestehen nicht mehr. Ob kostengünstige Energie aus Russland, florierende Exportmärkte oder die Friedensdividende durch planbare Sicherheitsgarantien der USA: All das wird durch internationale Aggressionen und Krisen sowie einer Renaissance des handelspolitischen Protektionismus in Frage gestellt.

Auch auf die großen Herausforderungen der Zukunft sind bisher keine zufriedenstellenden Antworten gefunden worden. Die seit Jahren absehbare demografische Entwicklung wurde und wird realpolitisch ignoriert, die notwendige Digitalisierung prokrastiniert und die Klimapolitik auf den Holzweg ideologisiert.

Das schlägt nun zunehmend auch auf volkswirtschaftliche Kennzahlen durch. Die Konjunktur befand sich im Winterhalbjahr 2024/2025 auf einem Tiefpunkt. Das reale BIP ist im Vorjahr um 0,2 Prozent und damit erneut gesunken. Die Unternehmensinsolvenzen waren 2024 erneut höher als im Jahresdurchschnitt 2016 bis 2019.

Das wird flankiert von den weiterhin hohen steuerlichen Belastungen der Unternehmen, die zu den höchsten unter den Industrieländern zählt. Zudem ächzt besonders der Mittelstand unter einer Flut von Berichtspflichten, Vorschriften und Verwaltungsverfahren, da der konsequente Bürokratieabbau bisher politische Rhetorik statt gelebter Praxis geblieben ist. Beides – die hohe Steuer- und Bürokratiebelastung – sind echte Investitions- und Wachstumsbremsen.

Wirtschaft am Boden, Staat im Aufwind

Demgegenüber sprudeln die Staatseinnahmen von Rekord zu Rekord. Die Marke von 1.000 Mrd. Euro Steuereinnahmen ist nach der Mai-Steuerschätzung 2025 zum Greifen nah. Das Bundesfinanzministerium hat im bisherigen Jahresverlauf Monat für Monat stärkere Steuereinnahmen gegenüber dem jeweiligen Vorjahresmonat gemeldet (+ 9 Prozent im Januar, + 8 Prozent im Februar, + 11 Prozent im März, + 10 Prozent im April).

Die Gesamteinnahmen des Staates in Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung haben 2024 mit 2.012,9 Mrd. Euro erstmals die 2.000 Mrd. Euro-Grenze überschritten. Die Gesamtausgaben waren mit 2.131,6 Mrd. Euro aber sogar noch höher. Es bleibt dabei: Deutschland hat kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem.

Das spiegelt sich auch in der wachsenden Staatsquote wider: 2024 lag sie mit 49,5 Prozent um 1,1 Prozentpunkte höher als 2023. Während die privaten Konsumausgaben 2024 um 0,3 Prozent gestiegen sind, haben die staatlichen Konsumausgaben um 2,6 Prozent zugelegt.

Ein gefährlicher Trend

Deutschland steht vor einer gefährlichen Schieflage: Während die Wirtschaft unter strukturellen Schwächen und konjunkturellem Abwind leidet, weitet der Staat seine Aktivitäten weiter aus. Er suggeriert Handlungsfähigkeit und geht dabei doch an den Ursachen der ökonomischen Schwäche vorbei. Sie ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis sich überlagernder, teils auch hausgemachter Entwicklungen. Die öffentliche Hand konsumiert, statt zu konsolidieren. Investitionsanreize fehlen, strukturelle Reformen bleiben aus. So droht ein Teufelskreis aus sinkender Produktivität, wachsender Umverteilung und wachsendem Vertrauensverlust in die wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit.

Versprechen vs. Wirklichkeit: Der Koalitionsvertrag unter der Lupe

Will Schwarz-Rot also mehr sein als bloße Verwalterin des Status quo, braucht es strukturelle Impulse für Wachstum, Innovation und unternehmerische Entfesselung. Daran wird sich die Regierungskoalition messen lassen müssen und angesichts der Ernsthaftigkeit der Lage ist eine fortwährende Begleitung der Politik vonnöten. Im Folgenden konzentriere ich meinen Blick auf die bisherigen und zu erwartenden Policies auf die drei Bereiche Steuerpolitik, Haushaltspolitik sowie Bürokratieabbau und Verwaltungsmodernisierung.

Steuerpolitik im Klein-Klein

Die im Koalitionsvertrag geplanten Vorhaben im Bereich der Einkommensteuer sind mutlos. Von einer strukturellen Reform kann nicht die Rede sein. Lediglich das vage Versprechen, „die Einkommensteuer für kleine und mittlere Einkommen zur Mitte der Legislatur [zu] senken“, findet sich im Vertrag (S. 45, Z. 1442). Dabei wären gerade diese Entlastungen notwendig, um das Wachstumspotenzial des Mittelstands zu mobilisieren.

Positiv hervorzuheben ist die Anhebung der Entfernungspauschale auf 38 Cent ab dem ersten Fahrkilometer erstmals und „dauerhaft“ (S. 46, Z. 1484) in 2026. Doch einige Bundesländer stellen sich aufgrund der erwarteten Mindereinnahmen bereits quer. Übrigens auch Schwarz-Rot regierte.

Die Beibehaltung des Solidaritätszuschlags sowie das fehlende Bekenntnis zu einem Automatismus beim Abbau der kalten Progression sind enttäuschend.

Auch eine umfassende Unternehmenssteuerreform bleibt aus. Die angekündigte Senkung der Körperschaftsteuer ist zu zaghaft, kommt zu spät – und drei von fünf Schritten fallen in die nächste Legislaturperiode. Sie bleiben damit politisch unsicher. Eine echte Entlastung bei der Gewerbesteuer ist nicht vorgesehen. Im Gegenteil werden Unternehmen, die ihren Sitz bspw. in Monheim, Leverkusen oder Zossen haben, durch die geplante Anhebung des Gewerbesteuer-Mindesthebesatzes stärker belastet.

Der „Investitions-Booster“ ist eine sinnvolle Maßnahme, um die dringend benötigte Investitionstätigkeit privaten Kapitals stärker anzureizen. Darüber hinaus haben höhere Abschreibungsmöglichkeiten aber nur einen Liquiditätseffekt.

Allein die in Aussicht gestellte Senkung der Stromsteuer ist längst überfällig, um die stark gestiegenen Energiekosten, die zu einem großen Teil aus Steuern und Abgaben bestehen, zu senken.

Unterm Strich verpasst die Koalition in der Steuerpolitik die Chance, Impulse für mehr Eigenverantwortung, Investitionen und Wachstum zu setzen. Statt struktureller Entlastung überwiegt kleinteilige Symbolpolitik unter Finanzierungsvorbehalt. Da ist der schnelle Start des „Investitions-Boosters“ nur ein kleiner Trost.

Haushaltspolitik: Viel Kredit, wenig Klartext

Der gesamte Koalitionsvertrag steht auf dem Boden der neuen Schuldenregel und der Möglichkeiten, die sie eröffnet. Es hat sich zweifellos schon jetzt ein neues Narrativ etabliert, das Kreditaufnahmen zulasten künftiger Generationen grundsätzlich rechtfertigt. Künftig werden, so ist zu vermuten, vermehrt konsumtive Ausgaben über die Steuereinnahmen und investive Ausgaben über Kredite finanziert.

Verteidigungsausgaben werden nun von der Schuldenbremse ausgeklammert, sofern sie mehr als 1 Prozent des BIP betragen. Legt man den vorgeschlagenen Ausgabenpfad des NATO-Generalsekretärs Mark Rutte zugrunde, nach dem perspektivisch 3,5 Prozent des jeweiligen BIP von NATO-Partnern für Verteidigung ausgegeben werden soll, könnten die Ausgaben 2032 bei rd. 190 Mrd. Euro liegen, wobei davon 135 Mrd. Euro schuldenfinanziert wären.

Die zweite große Neuerung des Schuldenpakets ist die Möglichkeit der strukturellen Nettokreditaufnahme für die Länder in Höhe von 0,35 Prozent des BIP, die dann nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt werden.

Schließlich hat sich die kommende schwarz-rote Koalition im Zuge der Grundgesetzänderung Spielräume durch die Möglichkeit zur Errichtung eines Infrastruktur-Sondervermögens geschaffen. Es hat eine Kreditermächtigung im Umfang von 500 Mrd. Euro über eine Laufzeit von 12 Jahren ohne Anrechnung auf die Schuldenbremse. Von der Tilgung dieser Schulden ist bisher überhaupt keine Rede!

Alles steht schließlich unter dem Stern der angekündigten „Modernisierung der Schuldenbremse“ für die noch in diesem Jahr soll eine „Expertenkommission unter Beteiligung des Deutschen Bundestages und der Länder“ eingesetzt werden soll. Zwar ist bisher nicht abzusehen, dass die Mehrheitsverhältnisse des neuen Bundestages eine stabile Zweidrittelmehrheit, die sich auf eine neue Schuldenregel einigen könnte, zulassen. Allerdings steht zu befürchten, dass die Vorschläge der geplanten Expertenkommission spürbare Auswirkungen hin zu mehr aktiver Industriepolitik, prozesspolitischen Eingriffen sowie umfangreicher Staatswirtschaft zulasten künftiger Generationen haben wird.

Diese Entwicklung steht exemplarisch für einen schleichenden Systemwechsel: weg von Konsolidierung, hin zu einer expansiven Schuldenpolitik mit staatswirtschaftlicher Schlagseite – zulasten kommender Generationen.

Bürokratieabbau: Wo bleibt die Entlastung?

Zum Bürokratieabbau finden sich sinnvolle und substanziell entlastende Ideen im Koalitionsvertrag. Sie sind allesamt nicht neu. Es ist aber zu begrüßen, dass sie Teil des Regierungsprogramms sind.

Dazu gehören z. B. die Weiterentwicklung der „One in, one out“-Regel zur „One in, two out“-Regel (vgl. S. 61, Z. 1957), die Beschleunigung von Genehmigungs- und Planungsverfahren (vgl. S. 66, Z. 2110 ff.), die Reduktion von Berichtspflichten sowie die Abschaffung der Bereitstellungspflicht von Betriebsbeauftragten für kleine und mittlere Unternehmen (vgl. S. 59, Z. 1905 ff.).

Fortan soll es jährlich ein Bürokratieabbaugesetz geben (vgl. S. 61, Z. 1947 f.), so dass die Bürokratiekosten für die Wirtschaft um 25 Prozent und der Erfüllungsaufwand für Unternehmen, Bürger und die Verwaltung um mindestens 10 Mrd. Euro gesenkt werden (vgl. S. 61, Z. 1943 ff.).

Diese Signale sind ermutigend. Doch es bleibt bei Ankündigungen. Der Koalitionsvertrag ist in weiten Teilen reich an wohlklingender Prosa – ob daraus auch spürbare Entlastung erwächst, muss sich erst zeigen.

„Verwaltungsmodernisierung“: Mehr Apparat statt weniger

Klarer fällt das Urteil bei der Verwaltungsmodernisierung aus – hier scheitert die Koalition schon zu Beginn an den eigenen Ansprüchen. Eigentlich soll der Verwaltungsapparat zurückgebaut werden. Konkret geht es um die Streichung von mindesten 8 Prozent des Personals in der Ministerial- und Bundestagsverwaltung bis 2029 sowie die Reduzierung des Beauftragtenwesens um 50 Prozent (vgl. S. 57, Z. 1814 ff.).

Doch anstatt den Regierungsapparat zu verschlanken, wurde er sogar vergrößert. Das neu gegründete Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung ist besonders widersprüchlich. Es hat zwar noch nicht einmal ein eigenes Gebäude in der Hauptstadt, doch schon steht fest, dass es einen zweiten Dienstsitz in Bonn bekommen soll. Das bedeutet: Mehr Gebäude, mehr Ressourcen, mehr Kosten – weniger Effizienz.

Auch bei den Personalstellen wird, entgegen der Ankündigungen des Koalitionsvertrages, nicht gespart. Wie eine Vorlage des Bundesfinanzministeriums vom 19. Juni zeigt, sollen durch Umbesetzungen kurzfristig 208 neue Planstellen und Stellen geschaffen werden. 150 davon soll das angesprochene Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung bekommen. Die neue Staatsministerin für Sport und Ehrenamt bekommt direkt 12 Stellen zugewiesen.

Die versprochene Reduktion des Beauftragtenwesens um 50 Prozent wurde zwar schnell angegangen – aber verfehlt. Statt mehr als 30 Stellen fielen nur 25 weg, mit marginalem Sparvolumen von rund 500.000 Euro jährlich. Das ist Symbolpolitik ohne spürbaren Effekt.

Der Koalitionsvertrag setzt beim Bürokratieabbau auf dem Papier an den richtigen Stellen an. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft noch eine breite Lücke. Während die Entlastungsziele mutig klingen, bleiben erste Umsetzungsversuche blass oder widersprüchlich. Besonders im Bereich der Verwaltungsmodernisierung entlarvt sich der Regierungskurs als Etikettenschwindel: Statt mit gutem Beispiel voranzugehen, vergrößert die neue Koalition den eigenen Apparat.

Die Zwischenbilanz der schwarz-roten Regierung…

löst Ernüchterung aus. Vieles klingt im Koalitionsvertrag vernünftig, manches sogar ambitioniert. Doch der Blick auf die ersten politischen Entscheidungen zeigt: Zwischen Ankündigungen und Umsetzung klafft eine deutliche Lücke. Steuerpolitisch fehlt der große Wurf, haushaltspolitisch wird die Tür zu immer neuen Schulden geöffnet – und auch beim Bürokratieabbau bleibt es bislang bei Absichtserklärungen. Statt den Staatsapparat zu verschlanken, wächst er weiter. Die Regierung startet mit zu viel Selbstzufriedenheit und zu wenig Gestaltungswillen. Wer auf spürbare Entlastung für Bürger und Unternehmen gehofft hat, sieht sich bislang enttäuscht.

Und doch ist es nicht zu spät: Die Koalition hat noch Zeit, den Kurs zu korrigieren – hin zu mehr finanzieller Vernunft, echter Entlastung und glaubwürdigem Bürokratieabbau. Der Koalitionsvertrag bietet Ansätze, an denen sich die Regierung messen lassen muss – und mit dem richtigen politischen Willen auch Erfolg haben kann.

 

Autor:
Markus Brocksiek

Markus Brocksiek ist stellvertretender wissenschaftlicher Leiter am Deutschen Steuerzahlerinstitut des Bundes der Steuerzahler e.V.

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