Eine Frage des Risikos: Warum in den USA anders gebaut wird als in Deutschland

Das Empire State Building in den USA wurde (vor mehr als 90 Jahren) schneller gebaut als heute ein Einfamilienhaus in Deutschland. Ein Grund ist die unterschiedliche Risikobereitschaft in den beiden Staaten. Mit der Konsequenz für Deutschland: langsame, lustlose und langweilige fünfstöckige Einheitsarchitektur.

410 Tage. Es dauerte 410 Tage, die Ikone der New Yorker Skyline zu bauen. 102 Stockwerke, 443 Meter hoch, eingefasst in eine wunderschöne Art-déco-Fassade symbolisiert das „Empire State Building“ bis heute die Risikobereitschaft des Westens, das Unmögliche möglich zu machen.

Aus deutscher Sicht der 2020er-Jahre kann man den New Yorker Wachstumsdrang der 1920er nur bewundern: Unternehmer wie Woolworth, Chrysler und Vanderbilt übertrafen sich mit immer höheren Gebäuden, weiteren Brücken und immer mehr Wohnraum, der sowohl Champagner schlürfende Gatsbys als auch malochende Arbeiter anzog – auf der Suche nach Wohnungen, Jobs und Aufstiegschancen.

„Schnelligkeit, Risikobereitschaft, Aufstiegsstreben kommen einem nicht in den Sinn, wenn man an deutsche urbane Zentren denkt.“

Buchstäbliche Aufstiegschancen ermöglichte auch das Empire State Building: Wer kennt es nicht – das berühmte Foto von den Bauarbeitern auf dem frei hängenden Stahlträger, die während ihres Mittagessens in die Kamera grinsen. Der Job der sogenannten Nieter war aber noch beeindruckender als ihr Pausenort: Diese Helden des Stahlgerüsts arbeiteten sich in Viererteams vom Erdgeschoss bis zum 103. Stock des Gebäudes. Der Heizer erhitzte die Nieten in einer mobilen Schmiede und nutzte eine Zange, um die glühend heißen Nieten ein Stockwerk weiter nach oben zu schmeißen, wo der Fänger sie mit einer alten Farbdose auffing. Der Bucker-up stützte den Niet und der Schütze trieb ihn mit einem Luftdruckhammer in den Stahlträger, wo er mit dem Träger verschmolz und dem Gerüst Stabilität verlieh. Der allerletzte Niet wurde unter großem Jubel in über 400 Metern Höhe aus purem Gold in den Stahlträger geschossen.

Stagnation statt Wachstumsdrang

Schnelligkeit, Risikobereitschaft, Aufstiegsstreben kommen einem nicht in den Sinn, wenn man an deutsche urbane Zentren denkt. Vergleicht man die Stadtentwicklungen in den 20 Jahren von 1910 bis 1930 mit den Jahren 2001 bis 2021, gab es in 90 Jahren kaum einen Sprung nach vorn, es gab eher mehrere Sätze zurück. Während die New Yorker Bauarbeiter das Empire State Building innerhalb von 410 Tagen mehr als vier Stockwerke pro Woche in den Himmel nieteten, schaffen es die Deutschen 90 (!) Jahre später in der gleichen Zeit kaum, ein Einfamilienhaus zu bauen.

In den Vereinigten Staaten der 1920er lieferten sich Architekten, Bauentwickler, Bauarbeiter und ganze Städte einen Wettlauf um die höchsten Gebäude, längsten Brücken und die schnellste Fertigungszeit. Deutsche Städte in den 2020er-Jahren hingegen liefern sich scheinbar ein Rennen darum, wer Risikobereitschaft noch unattraktiver machen kann. Das Ergebnis des Wettrennens der 1920er-Jahren waren ikonische Art-déco-Wolkenkratzer. Das Ergebnis der 2020er ist langsame, lustlose und langweilige fünfstöckige Einheitsarchitektur.

Gründe für den ausbleibenden Fortschritt und sogar Rückschritt werden in der Forschung viele genannt. Ein wichtiger Grund: Regulierungen, die Risiken verringern sollen.  

Die Kosten der Sicherheit

Sollte die Höhe eines Gebäudes politisch festgeschrieben werden? Auf jeden Fall. Schließlich wollen wir nicht das Risiko eingehen, dass ein Kiez seinen Charakter verliert. Sollte der Brandschutz verstärkt werden? Auf jeden Fall. Schließlich wollen wir nicht das Risiko eingehen, Menschenleben zu gefährden. Sollten neue Sicherheitsstandards für Bauarbeiter eingeführt werden? Auf jeden Fall. Schließlich wollen wir nicht das Risiko eingehen, dass sich Arbeiter auf der Baustelle verletzen.

Ökonomen stellen die hehren Ziele dieser Eingriffe selten infrage. Doch werden sie skeptisch, wenn sie Erfolg ohne Risiko angeboten bekommen. Denn wenn sich Ökonomen Regulierungsvorschläge anschauen, denken sie in Grenzkosten und -nutzen: Um wie viel erhöhen sich Kosten und Nutzen für die Bereitstellung eines weiteren Gutes, wenn eine weitere Regulierung eingeführt wird?

Die Höhe von Gebäuden zentral festzulegen, verringert das Risiko, dass die Nachbarschaft verschandelt wird. Die Kosten der Regulierung sind aber weniger Wohn- und Büroraum in den beliebtesten Teilen der Stadt. Eine Verstärkung der Brandschutzauflagen verringert die Wahrscheinlichkeit von Brandopfern. Die zusätzlich eingesetzten Ressourcen stehen dann aber nicht mehr für weitere Bauvorhaben zur Verfügung, um zum Beispiel günstigen Wohnraum für die Schwächsten der Gesellschaft zu bauen. Zusätzliche Sicherheitsstandards auf der Baustelle führen zu etwas sichererem Bauen. Die Rigidität der Auflagen verlängert aber die Zeit, bis neue Bauten endlich fertiggestellt werden.  

Empire State of Mind

Erst kürzlich startete eine neue Debatte über den Mythos des Westens. Einer dieser Mythen ist das Empire State of Mind, das nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt ist. Es bezieht sich auf die Risikobereitschaft, das Unmögliche möglich zu machen, sich nichts vorschreiben zu lassen und keine Angst davor zu haben, mit neuen Wagnissen das eigene Leben zu verbessern – und dadurch, ob gewollt oder versehentlich, auch das so vieler Mitmenschen. Das Regeldickicht in den Städten des Westens in den neuen 20er-Jahren drückt das Gegenteil aus: Es trieft vor Angst vor der Zukunft, vorauseilendem Gehorsam und Ungläubigkeit, dass die Welt besser werden kann. Mit den Regeln der neuen 20er-Jahre im Westen wären die urbanen Heldentaten der alten 20er nie möglich gewesen. Das risikoloseste Bauvorhaben ist eben jenes, das gar nicht umgesetzt wird.

Heutzutage müsste kein Arbeiter im Westen mehr in 400 Metern Höhe glühend heiße Nieten durch die Gegend werfen. Neue Technologien haben das Arbeiten, zum Glück, weniger abenteuerlich gemacht. Und doch kann der risikoaverse Zeitgeist der neuen 20er vom Mythos der alten 20er lernen: Es gibt keinen Fortschritt ohne Risiko. Auch deutschen Städten würde eine New Yorker Skyline gut stehen. Doch dafür braucht es ein regulatorisches Empire State of Mind für die Träumer. Menschen, die sich trauen, das Unmögliche möglich zu machen – und das sogar schneller als in 410 Tagen.

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Autor:

Justus Enninga promoviert in politischer Ökonomie am King’s College London und forscht am Economics Department der New York University. Er ist Senior Fellow Research bei Prometheus – Das Freiheitsinstitut.

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